Kapitel 17

Felicity galoppierte mit ihrem Turnierpferd über die mit niedrigem Gras bewachsene Koppel von Rutherglen und hielt auf das rotweiß gestreifte Hindernis unter den winterlichen Ulmen zu. Ihr Pferd Calvin sperrte sich ein wenig gegen ihre Zügelhilfen, übersprang die Stangen dann jedoch mühelos, wobei es sie nur ganz leicht mit den sauber beschlagenen Hinterhufen berührte. Felicity klopfte ihm lobend auf den glänzenden, braunen Hals. Sie schnalzte mit der Zunge und spannte die Muskeln ihrer Beine an, die in beigefarbenen Reithosen steckten, um sich auf den nächsten Sprung vorzubereiten.

Im Maschinenschuppen neben der Koppel schimpfte Nick über den Traktor. Er wischte sich die Hände an seiner zerschlissenen Jeans ab, nahm wieder einen Schraubenschlüssel in die Hand und wünschte sich dabei, dass die Schafschur auf Bronty noch etwas länger gedauert hätte. Neben ihm lag sein Hund Tuff und leckte sich die Hoden, während er eine einsame Schmeißfliege beobachtete, die sich offenbar in der Jahreszeit geirrt hatte.

»Braver Junge«, gurrte Felicity. Nick blickte nicht einmal auf. Er wusste, dass sie nicht ihn meinte, denn dies war der Ton, den sie ausschließlich für ihre Pferde reserviert hatte. Die Eingeweide des Traktors lagen auf dem Betonboden vor ihm ausgebreitet. Im gläsernen Führerhaus spielte das Radio leise vor sich hin. Als Nick sich jetzt über den Motor beugte, hörte er plötzlich die ihm so vertraute Melodie. Er schob mit der Stiefelspitze vorsichtig die Werkzeuge und Schrauben, die auf dem Aufstieg des Traktors lagen, zur Seite. Dann kletterte er in die Kabine und setze sich auf den Fahrersitz, um sich das Lied anzuhören. Es war dieses eine Lied. Aus dieser einen Nacht. »Blister in the Sun«, von den Violent Femmes. Er drehte es mit seinen ölverschmierten Fingern lauter. Ein unwillkürliches Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Der Klang der elektrischen Gitarre und des Schlagzeugs vibrierten durch den Schuppen und durch seinen Körper. Seine Erinnerung an Kate Webster war jetzt ganz deutlich. Diesmal trug sie kein rotes Kleid. Jetzt stellte er sie sich bei der Schafschur vor, während ihr schwarze Haarsträhnen in das herzförmige Gesicht fielen und sie mit ihren glatten und kräftigen Armen Vliese stapelte. Da war es wieder, dieses Kribbeln, das er jedes Mal gespürt hatte, wenn sie ihn angesehen hatte.

Nick sprang vom Traktor hinunter, packte den verblüfften Tuff bei den Vorderpfoten und begann mit ihm durch den Schuppen zu tanzen. Als er Tuffs braune Pfoten schließlich wieder losließ, begann der Hund freudig bellend um ihn herumzuspringen, während er in seinem blauen ärmellosen Flanellhemd und seinen alten Bluejeans wie ein Klon von Bruce Springsteen singend durch den Schuppen wirbelte. Er hielt sich den silbernen Schraubenschlüssel wie ein Mikrofon vor den Mund und stellte sich dabei vor, in der Scheune von Bronty mit Kate zu tanzen. Die Muskeln in seinem Arm spielten, als er den Schraubenschlüssel in seine Gesäßtasche steckte, den Autogenschweißer aufhob und wie ein Verrückter Luftgitarre zu spielen begann. Wie lange war es her, dass er sich so frei und unbeschwert gefühlt hatte? Einen Augenblick lang gelang es ihm sogar, die Krankheit seines Vaters, die Traurigkeit seiner Mutter und den Schatten seines stets abwesenden Bruders zu verdrängen. Er vergaß den Druck, den Felicity mit ihren hohen Erwartungen auf ihn ausübte … Nick war plötzlich wieder ein Teenager. Er tanzte ohne das Gewicht der Verantwortung zu spüren. Tanzte einfach mit Kate.


Als Felicity die laut dröhnende Musik hörte, die aus dem Schuppen kam, saß sie von ihrem großen Vollblut ab. Die weichen Sohlen ihrer Reitstiefel setzten sicher auf dem Boden auf. Sie führte Calvin in den Hof, streifte ihm das Zaumzeug von seinem langen, trockenen braunen Kopf und tätschelte noch einmal seinen weißen Stern. Dann ging sie zum Schuppen hinüber.

Nick hörte sie nicht hereinkommen, Tuff rannte jedoch auf sie zu und drückte sich in hundetypischer Freude mit seinem ganzen Körper an ihre Beine.

»Lass das, Hund«, knurrte Felicity. Sie stand da und beobachtete Nick mit zur Seite geneigtem Kopf. Ihre blaue samtbezogene Reitkappe hatte sie sich dabei in eine Armbeuge geklemmt, während sie beide Hände in ihre schlanken Hüften stemmte.

»Nick?«

Nick hörte sofort zu tanzen auf. Ein verlegener Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. Er sprang ins Führerhaus und stellte die Musik leise.

»Was machst du denn da?«, fragte sie.

»Den Traktor reparieren«, sagte er, nahm dabei ein öliges Ersatzteil aus einer Schachtel und hielt es hoch.

»Oh«, sagte sie. Dann drehte sie sich um und verließ wortlos den Schuppen, sie ärgerte sich immer noch maßlos darüber, dass Nick seine eigene Arbeit eine ganze Woche lang hatte liegen lassen, nur um bei Kate Webster bei der Schafschur zu helfen.

»Ich sehe jedenfalls, dass du anscheinend lieber mit deinem Hund als mit mir tanzt«, murmelte sie leise vor sich hin, als sie zu ihrem Pferd ging, um es abzuspritzen.


Das Klappern von Besteck und das Klirren von Porzellantellern erfüllte die Küche von Rutherglen, als Felicity und Alice, Nicks Mutter, gemeinsam den Tisch zum Mittagessen deckten. Lance zuckte vor Schmerz zusammen, als er sich auf seinem Stuhl an der Stirnseite niederließ. Er begann mit seinen dicken Fingern das geblümte Platzdeckchen glatt zu streichen, während er den Frauen bei ihrer Arbeit zusah. Alice schnitt eine Quiche in Stücke, während Felicity eine Salatschüssel auf den Tisch stellte.

»Ah! Da ist er ja«, rief Felicity fröhlich, als Nick den Raum betrat. »Gerade rechtzeitig.«

Nick warf ihr ein halbherziges Lächeln zu und ließ sich dann auf seinen Stuhl fallen.

»Der Traktor geht noch immer nicht«, sagte er. »Ich muss wohl mit der Hand füttern.«

Lance gab ein schnaufendes Geräusch von sich. Nick sah seinen Vater an, sah dessen hängende Mundwinkel und die teigigen Backen, die mit schwarzen und silbernen Bartstoppeln bedeckt waren. Nick wusste, dass sein Vater seine Worte als Angriff aufgefasst hatte. Sein Vater verstand alles, was er sagte, als Vorwurf, dass er ihm nicht bei der Arbeit auf der Farm half, dass er nicht wieder gesund wurde. Nutzloser als ein verkrüppelter Hütehund. So jemandem sollte man den Gnadenschuss geben, sagte sein Vater manchmal.

»Ich hab keinen Hunger«, brummte Lance, als Alice ein Stück Quiche vor ihn hinstellte.

»Iss wenigstens ein kleines Stück«, redete ihm Alice gut zu.

»Es wird dir guttun«, warf Felicity ein. Beide Frauen drehten sich um und gingen zu der Anrichte, wo bereits die anderen Teller standen.

»Es scheint draußen ziemlich warm zu sein«, sagte Alice, als sie einen Blick durch das Küchenfenster in den Garten warf. »Es wäre schön, wenn wir einen kurzen Winter bekämen. Einen langen könnte ich nämlich nicht ertragen.«

»Es wäre noch schöner, wenn es endlich wieder einmal regnen würde«, fügte Lance hinzu, als er mit sichtlicher Überwindung seine Gabel in die Hand nahm.

»Hast du nicht gesagt, dass die Websters einen Schauer abbekommen haben?«, fragte Alice und stellte dabei einen Teller vor Nick hin. Er griff nach der Tomatensoße.

»Zwölf Millimeter«, sagte Nick. »bei Weitem nicht genug, um die Schafschur zu unterbrechen.«

»Der Regen ist wenigstens etwas«, sagte Alice. »Nach all dem Unglück, das sie getroffen hat.«

»Sie können von Glück sagen, dass du ihnen letzte Woche geholfen hast«, sagte Felicity, »zumal es hier auch viel Arbeit gibt und du normalerweise nie für etwas anderes Zeit hast.«

Felicitys Worte hingen in der Luft. Jeder spürte, wie schwer sie lasteten.

»Will hat uns damals auch geholfen«, sagte Nick und dachte dabei an das Unglück, das vor einem Jahr seine eigene Familie getroffen hatte. Will hatte sich sofort angeboten, um ihnen beim Pflügen zu helfen, als er gehört hatte, was geschehen war. Nick warf Felicity, die jetzt Tassen bereitstellte und den Wasserkocher einschaltete, einen kurzen Blick zu. Sie war für seine Mutter und seinen Vater der einzige Lichtblick, der ihnen geblieben war, dessen war sich Nick bewusst. An seine introvertierte Art hatten sich seine Eltern schon vor langer Zeit gewöhnt. Bezog er Felicity vielleicht nur deshalb in sein Leben ein, weil sie das Leben seiner Eltern irgendwie erträglicher machte? Nick seufzte laut, woraufhin Felicity ihn irritiert ansah.

»Was wird jetzt, da Will tot ist, mit dieser wunderschönen Farm geschehen? «, fragte Alice. »Henry wird sie allein nicht halten können. Glaubst du, dass er an Kate übergibt?«

Nick wusste, dass seine Mutter lediglich versuchte, ein Gespräch zwischen ihrem Mann und ihrem Sohn in Gang zu bringen. Trotzdem wünschte er sich, dass sie endlich damit aufhören würde, in Felicitys Gegenwart ständig von Kate zu sprechen. Er begann hastig seine Quiche zu essen, damit er möglichst schnell wieder an seine Arbeit gehen konnte. Er spürte, dass Felicity sich völlig verkrampft hatte. Ihre Bewegungen waren jetzt nicht mehr so flüssig. Außerdem war der fröhliche Gesichtsausdruck verschwunden.

»Nun, an dem Abend, an dem wir uns begegnet sind, schien sie sich jedenfalls mehr für eine ausgedehnte Kneipentour als für die Landwirtschaft zu interessieren«, sagte Felicity lächelnd zu Alice. »Aber du kannst sicher mehr zu diesem Thema sagen, Nick. Schließlich hast du gerade eine ganze Woche mit ihr verbracht. Entspricht sie tatsächlich dem Klischee der allein erziehenden Mutter, der jedes Verantwortungsgefühl fehlt, so wie sie sich an jenem Abend im Pub gezeigt hat?«

»Ich finde, dass sie sich sehr gut hält«, entgegnete Nick mit unüberhörbarem Ärger in der Stimme. »Sie hat es nun wirklich nicht leicht.«

Felicity drehte ihm den Rücken zu.

»Das lässt einen an die eigene Situation denken«, sagte Alice. »Was mit der eigenen Farm passieren würde, wenn es …«

»Einen Unfall gäbe?«, fauchte Lance. Er warf seine Gabel auf den Tisch.

»Du weißt genau, was ich meine«, sagte Alice. »Irgendwann müssen wir über diese Dinge sprechen. Über die Farm und die Zukunft. Schließlich wird Felicity in ein paar Monaten zu unserer Familie gehören.«

Felicity setzte sich neben Nick an den Tisch und legte ihre Hand, gewissermaßen als Friedensangebot, auf die seine.

»Alice hat Recht«, sagte sie sanft. »Wir sollten wirklich einmal über die Zukunft reden.«

Nick warf ihr einen kurzen Blick zu, aber sie fuhr einfach mit ihrer kühlen, selbstsicheren Art zu sprechen fort.

»Ich liebe meine Arbeit als Krankenschwester. Aber wenn wir Kinder bekommen sollten, könnte ich vielleicht hier arbeiten. Vielleicht könnte ich etwas mit den Pferden machen.«

Nick sah zu seinem Vater hinüber.

»Wir sollten nichts überstürzen«, sagte er.

»Nun, irgendwann müssen wir aber darüber sprechen«, sagte Felicity lächelnd. Nick wusste ganz genau, worauf sie damit hinauswollte. »Nicht wahr?« Sie sah Lance an, der grimmig auf seinen Teller starrte.

Alice erhob sich seufzend vom Tisch. Sie zog einen Zeitungsausschnitt aus einem Stapel von Unterlagen, der auf dem Kühlschrank lag.

»Das ist mir gestern zufällig in die Hände gefallen. Ich denke, wir sollten dort einmal anrufen.«

Alice schob das Stück Papier über den Tisch, so dass es genau zwischen Lance und Nick lag. In der oberen linken Ecke der Anzeige prangte das Logo eines Tasmanischen Tigers. In fettgedruckten Buchstaben stand dort: »Ist Ihre Farm reif für eine Grundsanierung? Rural Consultancy Solutions bietet Ihnen einen vom Ministerium subventionierten Service an. Die Beratung erstreckt sich dabei auf Fragen des Umweltschutzes, der Dürreprävention, der Erbfolge, der Refinanzierung und auch auf eine eventuell notwenige Umstrukturierung des Betriebes. Auch auf individuelle Belange kann eingegangen werden. Rufen Sie an, und vereinbaren Sie einen Termin mit Ihrem neuen örtlichen RCS-Berater.« Alice hatte die Telefonnummer bereits mit einem roten Kugelschreiber eingekreist.

»Offensichtlich gibt es einen neuen Berater für unseren Bezirk. Er kann uns sicher helfen, jetzt, da du bald heiraten wirst.« Sie wandte sich an Lance und beugte sich über ihn. Ihre geröteten Wangen, umrahmt von ihrem hellblonden Haar, sahen jetzt noch röter aus. »Er kann uns vielleicht sogar dabei helfen, ein Testament aufzusetzen. Das ist etwas, worüber wir im Grunde noch niemals nachgedacht haben. Außerdem sollte Felicity wissen, woran sie ist.«

»Für meine Frau bin ich offensichtlich schon tot und begraben«, knurrte Lance, als er sich mühsam von seinem Stuhl erhob und dann aus der Küche schlurfte. Nick beobachtete seinen Vater, wie er davonschlich. Farmberatung? War das nicht der Job, von dem Kate erzählt hatte? Ganz egal, worum es ging, seine Gedanken schienen alle zu ihr zu führen. Verärgert stand er auf.

»Ich bin wieder in der Scheune«, sagte er.

Die beiden Frauen blieben mit dem halb aufgegessenen Mittagessen in der Küche zurück und sahen zu, wie Nicks Kopf vor dem Fenster verschwand, als er sich bückte, um seine Stiefel anzuziehen.

»So«, sagte Alice müde und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab, »Also ich finde, dass er meinen Vorschlag ganz gut aufgenommen hat.«

Felicity legte ihre Hand tröstend auf Alices Unterarm.

»Mach dir keine Sorgen, Alice. Ich rede noch einmal mit den beiden. «