Kapitel 11

Kates lederne Blunnies waren inzwischen getrocknet und dabei ganz steif geworden. Das Salzwasser hatte kleine Gezeitenmarken an ihnen hinterlassen. Sie verzog das Gesicht, als sie die Stiefel von ihren schrumpeligen Füßen zog und ihre durchnässten, sandigen Socken abstreifte. Dann war es so weit. Zum ersten Mal seit mehr als drei Jahren betrat sie wieder das Farmhaus von Bronty. Als Kate den Fuß über die Schwelle setzte, sah sie sich einer völlig übertriebenen femininen Inneneinrichtung gegenüber. Überall Spitzen und Rüschen, Pfirsich- und Rosatöne, vergoldete Rahmen und Porzellan.

»O mein Gott«, sagte sie, als sie die Porzellanfigur einer traurigen, kleinen Veilchenverkäuferin in die Hand nahm. Unzählige Sandkörner lösten sich von Kates noch feuchter Hose und fielen auf den flauschigen, cremefarbenen Teppich. Sie ging an Drucken mit Rosenbuketts, die an den frisch gestrichenen pfirsichfarbenen Wänden hingen, und an edlen, polierten Möbeln mit gedrechselten Holzbeinen, die so zart wie die von Rehen wirkten, vorbei. Wo war der große alte Garderobenständer geblieben, der unter den Hüten, Schirmen und Mützen immer fast zusammengebrochen war? Wo die große alte Uhr mit dem vergilbten Zifferblatt, die immer so zuverlässig gewesen war? Wo waren die alten Stubbs-Drucke von dösenden kastanienbraunen Stuten und ihren Fohlen? Sie hoffte inständig, dass Annabelles Renovierungswut noch nicht das Dachgeschoss erreicht hatte. Allerdings war sie sich sicher, dass es Will gelungen wäre, sie zumindest von den kostbaren Sämereien, die dort in ihren braunen Umschlägen lagerten, mit aller Macht fernzuhalten.

Der alte Läufer im Flur, der die Farbe von Ulmen im Sommer hatte, führte Kate nicht mehr über den glänzenden Holzboden zur Küche.

Stattdessen sanken ihre Füße in einen tiefen Teppich ein, der sich anfühlte, als würde sie über Marshmallows laufen. Überall, wo ihr Blick hinfiel, suchte sie verzweifelt nach Spuren von Will und von ihrem alten Leben. Sie fand keine einzige mehr. Panik erfasste sie. Plötzlich war ihr so schwindelig, dass sie einen Moment lang stehen bleiben und tief durchatmen musste, während sie sich mit einer Hand an der Wand abstützte.

Aus der Küche am Ende des Flurs drangen laute Geräusche. Tassen klirrten und Besteck klapperte. Sie hörte Stimmen und ein helles, beharrliches Brummen. Offensichtlich spielte Nell gerade mit einem Spielzeugtraktor.

»Brrrrr, brrrr, brrrmmmmm.«

Kate stand in der Tür und betrachtete die Szene, die sich vor ihren Augen abspielte und die trotz der außergewöhnlichen Umstände so normal wirkte. Annabelle stand an der Spüle und wusch gerade eine gläserne Servierplatte ab. Janie beugte sich über den Geschirrspüler und sortierte Löffel und Messer genauso sorgfältig ein, wie sie anschließend die Porzellantassen exakt hintereinanderreihte. Annabelle hatte ihr offenbar genaue Anweisungen gegeben, dachte Kate. Nellie lag in dem Wald von Stuhlbeinen unter dem Küchentisch und schob müde ihr Spielzeugauto, einen Viehtransporter, hin und her. Sie hatte ihre Babypuppe auf den Transporter gesetzt, so als würde sich die Puppe auf eine letzte Reise zu irgendeinem gespenstischen Schlachthof machen.

Dave hatte es sich auf einem Sitzsack im Fernsehzimmer, das gleich neben der Küche lag, bequem gemacht. In jedem seiner Arme hielt er einen schlafenden Zwilling, so als würde er eine Brut junger Vögel in einem riesigen Nest hüten. Im Fernseher lief eine Quiz-Show.

»Sie ist wirklich ein süßes, kleines Ding. Sehr artig«, sagte Annabelle gerade und deutete mit dem Kopf in Nells Richtung, ohne zu merken, dass Kate hinter ihr in der Tür stand. »So wie sie aufgewachsen ist, ist das wirklich ein Wunder.«

»M-hmm«, antwortete Janie ihr vorsichtig.

»Hat Kate eigentlich gesagt, wann sie zurück sein wollte? Sie macht sich inzwischen doch sicher Sorgen um Nell.«

»Nein. Das hat sie nicht«, sagte Janie, während sie den Geschirrkorb in die Maschine schob.

»Weißt du, wo sie heute übernachten will? Ich muss mich jetzt nämlich gleich ums Abendessen kümmern. Und ich muss noch überlegen, wie ich das mit den Betten mache.«

»Äm, keine Ahnung. Aber ich denke, dass sie bald wieder zurück ist. Spätestens, wenn es dunkel ist.« Janie hielt eine Teekanne mit Rosenmuster hoch. »Wo kommt die hin?«

»Ins Sideboard im Fernsehzimmer. Danke, Jane.« Kate sah Janie dabei zu, wie sie die Kanne vorsichtig ins Fernsehzimmer trug. Sie bückte sich vor dem Sideboard, auf dem zwei Fotos standen. Eines zeigte Amy mit Zahnspange und eines Aden mit längeren, welligen Haaren. Er sah aus wie ein typischer amerikanischer Teenager auf dem Weg zu einem Highschool-Ball.

»Danke, dass du noch geblieben bist, um mir zu helfen, Jane«, rief Annabelle aus der Küche.

»Keine Ursache«, antwortete ihr Janie. Als sie sich umdrehte, sah sie Kate in der Küchentür stehen. Sie winkte ihr kurz zu. Annabelle folgte Janies Blick und zog dabei ihre Gummihandschuhe aus.

»Ah, Kate, da bist du ja! Wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht. Nellie Schätzchen, deine Mami ist endlich nach Hause gekommen. Willkommen, Kate. Herzlich willkommen. Komm rein, Liebes.« Nell hörte kurz zu brummen auf, sagte leise hallo und spielte dann mit ihrem Viehtransporter weiter.

»Sie ist sehr müde«, sagte Janie. »Dave hat wohl einen Wiggle-Safari-Tanz zu viel mit ihr getanzt.«

Kate, die sich nicht sicher war, was sie jetzt tun sollte, ließ sich auf Hände und Knie nieder und kroch unter den Tisch, um Nell einen Kuss auf die Stirn zu geben und ihre Wange an ihren warmen Kopf zu drücken.

»Hallo, mein Liebling«, sagte sie, wieder war da dieses innige Gefühl der Verbundenheit.

Kates Gedanken kehrten zu jener Zeit zurück, als Nell ein paar Wochen alt gewesen war. Es war das erste Mal gewesen, dass Kate eine so starke Zuneigung – Freude und Angst zugleich – für das Baby in ihren Armen empfunden hatte. Es war drei Uhr morgens gewesen, und Nell hatte leise schnaufende Geräusche von sich gegeben, während sie an Kates Brust trank. Kate hatte in Nells vollkommenes, kleines Gesicht gesehen. Hatte ihre winzigen puppenhaften Hände betrachtet, die sich selig zu Fäusten ballten und wieder öffneten so wie bei einem Kätzchen, das seine Pfoten knetet. Kate war über dieses Gefühl allmächtiger Liebe zutiefst erstaunt gewesen. Das musste die Liebe einer Mutter sein.

Jetzt wünschte sie nichts anderes, als Nell noch einmal genau so in ihren Armen zu halten. Sie lächelte ihre Tochter an und musste dabei all ihre Kraft aufbieten, um nicht in Tränen auszubrechen.

»Alles in Ordnung, kleine Nellie?«, flüsterte sie.

»Können wir jetzt nach Hause gehen, Mami?«

Kate strich Nell sanft über die Haare. Nach Hause? Kate konnte beim besten Willen nicht mehr sagen, wo das war. Ob sie sich wohl jemals wieder auf Bronty zu Hause fühlen würde.

»Klar können wir das. Aber zuerst muss Mami noch herausfinden, wo das ist.« Sie küsste Nell noch einmal auf den Scheitel und kroch dann wieder unter dem Tisch hervor.

»Danke, dass du auf sie aufgepasst hast«, sagte Kate zu Janie und drückte kurz ihren Arm.

»Kein Problem. Sie ist gut zu haben. Ein richtiger kleiner Schatz.«

Kate drehte sich zu Annabelle um.

»Wo ist Dad?«

»Ich glaube, er ist im Büro. Er muss in diesem ganzen Chaos auch noch die Schafschur organisieren, der arme Mann. Aber so ist es eben mit der Landwirtschaft, das habe ich inzwischen gelernt.« Annabelle lächelte sie sichtlich angespannt an.

Kate spürte, wie in ihr wieder der Zorn aufstieg, als sie ihre Stiefmutter jetzt ansah. Annabelle stand genau an der Stelle, wo ihre Mutter immer gestanden hatte. Ihre schlanke Figur wurde von den Spitzenvorhängen, die hinter ihr am Fenster hingen, eingerahmt. Sie trug eine bunt gestreifte Schürze und Hausschuhe im Martha-Stewart-Stil.

Kate sah im Geiste ihre Mutter, die auf den abgenutzten Bodendielen neben der Spüle stand, vor sich. Ihre Mutter, die immer nur in abgeschnittenen Jeans und einem von Henrys Arbeitshemden mit hochgekrempelten Ärmeln und vor dem Bauch geknoteten Hemdzipfeln im Haus gearbeitet hatte, während ihr dabei ihre dunkle Mähne auf die Schultern gefallen war. Kate sah ihm Geiste jetzt auch wieder Will, der um ihre Mutter herumtanzte und ihr mit einem zusammengerollten Geschirrtuch lachend einen Klaps auf den Hintern versetzte.

Jetzt hob Annabelle ein Geschirrtuch hoch, verzog dabei das Gesicht und nieste laut hinein.

»Guter Gott! Pferdehaare.« Sie hielt sich eine Hand vor den Mund. »Ich bin schrecklich allergisch gegen Pferdehaare.« Sie zeigte in Richtung der Außendusche. »Würde es dir etwas ausmachen zu duschen, Kate? Wenn du hierbleiben willst, dann sei doch bitte so gut und lass deine Sachen in der Waschküche. Dort kannst du dich auch umziehen.«

Kates Augen wurden schmal. Annabelle tat so, als wäre rein gar nichts geschehen. So, als wäre Will nicht gerade erst gestorben. Sie hätte diese unsensible Frau, die da vor ihr stand, am liebsten laut angeschrien. Stattdessen schloss Kate einen Moment lang die Augen und versuchte sich zu beruhigen. Sie musste höflich und zuvorkommend bleiben. Nell zuliebe.

»Ja, das mache ich«, sagte sie. »Aber zuerst muss ich mit Dad sprechen. Es dauert nicht lange.«

Janie kam jetzt zu ihnen und räusperte sich. »Kate, entschuldige bitte, aber es wird langsam wirklich spät. Ich sollte die Kinder jetzt besser nach Hause bringen. Wir sehen uns dann später, okay? Du kannst selbstverständlich auch bei uns bleiben, wenn du das willst. Wenn nicht, kann Dave dir morgen deine Sachen bringen.«

Kate sah die dunklen Ringe, die Janie unter ihren müden Augen hatte, und fühlte dabei ihrer Freundin gegenüber sowohl Dankbarkeit wie auch ein Gefühl der Schuld.

»O Gott, Janie. Es tut mir leid. Danke! Du weißt, was ich meine. Danke! Ich kann einfach nicht mehr richtig denken.«

Janie umarmte Kate und flüsterte ihr dabei ins Ohr:

»Das alles tut mir so leid. Wirklich. Es tut mir so wahnsinnig leid. Ich hab dich lieb, das weißt du.« Kate erwiderte ihre Umarmung. »Versuch es einfach, Kate«, flüsterte Janie ihr dann noch zu. »Nell zuliebe. Und auch für Will. Bitte.«


Kate traf ihren Vater nicht in seinem Büro an. Der alte, zerkratzte Ledersessel stand mit dem Rücken zu dem alten Rollpult. Das Zimmer war verlassen. Kate schloss die Tür des Büros hinter sich und drehte sich dann um, um in einem anderen Flur des weitläufigen, alten Hauses nach ihrem Vater zu suchen. Dann sah sie jedoch, dass die Treppe, die zum Dachboden hinaufführte, heruntergelassen war. Durch den länglichen Ausschnitt in der Decke fiel helles Tageslicht in den Gang. Kate blinzelte, schluckte und ging dann auf das Licht zu. Schließlich stieg sie langsam die Treppe zum Dachboden hinauf.

Henry saß, noch in seiner Anzughose und dem Hemd, das er zur Beerdigung getragen hatte, an dem großen, alten Schreibtisch. Er hatte die Krawatte gelockert und die Ärmel hochgekrempelt, so dass seine sonnengebräunten Arme zu sehen waren. Es waren die kräftigen Arme eines Farmers. In seiner schwieligen Hand hielt er ein Glas mit Whisky.

Das Knarren der Leiter und das leise Ächzen der Bodendielen verrieten Kate. Henry blickte auf. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Kate blieb unter der Dachschräge stehen und sah sich langsam im Raum um. Atmete den staubigen Geruch von Erinnerungen ein. Die Umarmung ihrer Mutter. Wills Lachen.

Der Dachboden sah noch genauso aus wie früher, dachte Kate und war darüber unglaublich erleichtert. Sie spürte, dass der Raum von den Energien der Vergangenheit erfüllt war – jener sanften, aber beharrlichen Kraft der Webster-Frauen, die schon lange vor ihr an diesem Ort gelebt hatten. Hier und jetzt in ebendiesem Raum fühlte Kate sich zum ersten Mal wieder zu Hause.

Auch wenn der Dachboden mit vielen alten Möbeln vollgestellt war, zeigte sich, dass Laney das große Geschick besessen hatte, jedem Sammelsurium von Dingen ein ansprechendes Gesicht zu geben. Denn genau das war der Dachboden: ein wohl organisiertes, kunstvolles Sammelsurium. Nur der Schreibtisch, an dem Henry saß, war umgestellt worden. Es standen keine anderen Dinge mehr darauf, und er war auch nicht mit Staub bedeckt. Man hatte ihn vor das Fenster geschoben, das aufs Meer hinaussah. Daneben stand ein Aktenschrank aus Holz. Kate sah jedoch, dass ein gerahmtes Foto von Matilda auf dem Schreibtisch stand, auf deren breitem Rücken, mit hechelnden Zungen und gespitzten Ohren Wills Hunde lagen. Das Foto war offensichtlich erst vor Kurzem aufgenommen worden. Daneben stand eine alte Zigarrenkiste, in der mehrere nagelneue Stifte lagen.

»Hi«, sagte Kate leise.

Henry fuhr mit den Fingerspitzen über die Kante des Schreibtisches. »Das hat er für dich gemacht«, sagte er.

Kate wusste sofort, was ihr Vater meinte. Dieser Schreibtisch, all die kleinen Veränderungen, das hatte Will arrangiert. Für sie. Um ihr das Gefühl zu geben, hier willkommen zu sein. Um ihr in diesem Haus einen Platz zu geben, den sie für sich allein hatte. Kate verzog voller Kummer das Gesicht. Sie ging zu dem Schreibtisch hinüber und legte ihre Hand auf dessen polierte Holzplatte. Als Henry ihr unglückliches Gesicht sah, stand er auf und nahm sie in seine Arme.

Sie spürte seine große Hand auf ihrem Hinterkopf, die ihre Wange fest an seine Brust gedrückt hielt. Sie kniff die Augen zusammen, wollte den Kummer, der auch in seiner Brust steckte, nicht hören. Das leise, krampfhafte Keuchen. Seine Muskeln waren angespannt. Zitterten. Er hielt sie so fest an sich gepresst, dass ihr Nacken zu schmerzen begann. Ein Knopf seines Hemdes drückte in ihre Wange. Jetzt klopfte er mit der Hand leicht auf ihren Rücken. Es war ein rhythmisches Schlagen mit der flachen Hand. So wie man einem Ochsen auf die Hinterbacken schlägt, damit er sich in Bewegung setzt. In seiner Berührung lag sowohl Zorn als auch Liebe. Er hielt sie fest an sich gedrückt. Aggressiv, leidenschaftlich, schmerzhaft, liebevoll.

»Es tut mir alles so leid«, gelang es ihr schließlich hervorzustoßen. Sie bedauerte, dass sie so wütend auf ihren Vater gewesen war. Dass sie ihn verlassen hatte. Dass sie schwanger geworden war. Sie bedauerte, dass sie Will immer wieder enttäuscht hatte. Und sie bedauerte, dass ihr Vater sie nicht lieben konnte. Sie wusste, dass er das wegen ihrer Mutter nicht konnte.

Sie klammerte sich ärgerlich an ihn. Ihre Fingernägel gruben sich in seine Haut. Irgendwann hörte sie dann auch ihn murmeln, dass es ihm leidtäte.

Die Nähe begann ihnen unangenehm zu werden. Als sie sich wieder voneinander lösten, konnten weder Vater noch Tochter dem jeweils anderen in die Augen sehen. Henry nahm seine Nickelbrille ab und wischte sich die Tränen aus den Augen.

»Er wollte hier oben ein paar Steckdosen legen, damit du deinen Computer anschließen kannst. Und ein Bett aufstellen. Falls du das gewollt hättest.«

Es waren Worte, die Kate wehtaten. Sie nickte, denn ihren Lippen wollte es einfach nicht gelingen, Worte zu formen. Ihr Mund fühlte sich völlig kraftlos an. Ihr Verstand, ihr Körper, alles befand sich in einer Art Schockzustand, war vor Verzweiflung wie gelähmt.

Henry setzte sich wieder in den Sessel und kaute dabei auf seiner Unterlippe herum. Plötzlich sah er unglaublich alt aus. Die weißen Strähnen in seinem Haar begannen die schwarzen zu verdrängen. Seine Augen, grau wie die See, schwammen in Tränen angesichts all des Schmerzes, den das Leben ihm bereitete. Der Schmerz, seine Ehefrau zu verlieren. Der Schmerz, seinen einzigen Sohn zu verlieren. Wenn er an Will dachte, würde ihm für den Rest seines Lebens das Herz wehtun. Kate sah ihn an.

»Vielleicht sollte ich besser gehen«, sagte sie schließlich leise. »Ich kann mit Nell erst einmal bei Janie bleiben.«

Er schüttelte den Kopf, kurz aber heftig.

»Nein. Bitte, bleib.«

Kate nickte, während ihr wieder Tränen über die Wangen liefen. Der Schmerz war so groß, dass sie glaubte, sie würde gleich zusammenbrechen. Der Schmerz zu wissen, dass ihr Vater sie wieder unter seinem Dach aufgenommen hätte, wenn sie ihn darum gebeten hätte. Aber dazu war sie zu stolz gewesen. All die sinnlos vergeudeten Jahre, in denen Nell ohne Will vom Baby zum Kleinkind herangewachsen war. Jetzt war es zu spät. Sie starrte das vertraute Muster des alten Perserteppichs an.

»Er wollte, dass ich bleibe, nicht wahr?«, sagte Kate.

»Ja«, antwortete ihr Vater. »Das wollte er.«

»Also gut. Wir bleiben.«

Ihr Vater nickte schweigend.

Kate lächelte ihn traurig an, bevor sie sich umdrehte, um wieder in Annabelles Welt zurückzukehren.


Später, nachdem sie alle gemeinsam in der Küche von Bronty zu Abend gegessen hatten, zog Henry seinen dicken Wollmantel an.

»Ich gehe noch kurz raus, und schaue nach der Bewässerungsanlage. Es war bereits nach zehn Uhr, und Annabelle räumte gerade die letzten Schüsseln vom Tisch. Amy hatte es sich schon auf dem Sitzsack bequem gemacht. Über den Fernsehschirm zuckten goldene Flammen und purpurfarbene Wirbel, als Amys computergenerierte Princess-Warrior-Drachen abschlachtete und schwerfällige Riesen pulverisierte. Ihren iPod in den Ohren, ächzte Amy vor Konzentration und Anstrengung, als sie das Steuergerät auf die Blackbox richtete. Irgendwo im Haus hörte Kate das hämmernde Duff-duff von Adens Musik, das von seiner geschlossenen Zimmertür nur höchst unzulänglich gedämpft wurde.

Heute Abend beim Essen hatte Kate oft versucht, sich vorzustellen, wie es gewesen wäre, wenn ihre Mutter und Will mit am Tisch gesessen hätten. Sie ärgerte sich über den störenden Fernseher, der im Hintergrund lief. Ihr war jedoch bewusst, dass ihr Vater ihn nur deshalb eingeschaltet hatte, um von dem unangenehmen, schmerzlichen Schweigen zwischen ihnen abzulenken. Es hatte überhaupt etwas sehr Merkwürdiges an sich gehabt, Nell in einem Kindersitz am Tisch sitzen zu sehen, vor sich hin plappernd und Kartoffelbrei in ihren Mund schaufelnd. Annabelle, die freundlich, aber akribisch ihre Tischmanieren korrigiert und Smalltalk gemacht hatte. Kate hatte gespürt, wie der Kummer wieder in ihr aufwallte und ihr den Appetit nahm. Ihr war aufgefallen, dass Annabelle Nells Stuhl auf Wills Platz gestellt hatte. Sie hatte auch beobachtet, wie der Blick ihres Vaters immer wieder von Nell zum tröstlichen Fernseher gewanderte war, wo gerade die Nachrichten liefen. Die plötzliche Veränderung der Umstände – Will war nicht mehr da, dafür saß sein Enkelkind an seinem Platz – war offensichtlich zu viel für ihn.

Kate erinnerte sich an ihre eigene Kindheit an ebendiesem Tisch. Beim Essen fernzusehen, das hätte es, als Laney noch lebte, bei ihnen nicht gegeben. Kates Eltern hatten schon sehr früh gewisse Regeln aufgestellt, jedenfalls was das gemeinsame Essen und das Fernsehen anging.

»Menschen, die sagen, sie würden sich langweilen, sind selbst die größten Langweiler«, hörte Kate die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf sagen. Laney hatte stets darauf geachtet, dass sich Will und Kate auch selbst beschäftigen konnten. Es hatte in ihrem Leben ohnehin nur wenig Zeit und Gelegenheit zum Fernsehen gegeben. Sie waren so gut wie immer draußen im Freien gewesen. Hatten am Bach gespielt, wenn dieser munter dahinplätscherte, weil es vor Kurzem geregnet hatte. Hatten kleine Boote aus Blättern über die Steine schwimmen lassen, während sie ihnen am Bachufer entlang über Salbeisträucher und Grasbüschel jubelnd, schlitternd und lachend nachgesprungen waren.

Wenn der Bach ausgetrocknet war, hatten sie viele Stunden damit verbracht, mit ihren verbeulten, von der Sonne ausgeblichenen Baggern im Bachbett zu graben und den Schlamm zu kleinen Dämmen aufzuhäufen, während sie auf Regen gehofft hatten. Regen, damit ihr Vater sich keine Sorgen mehr zu machen brauchte und damit ihre Mutter pfiff und trällerte wie Fred Astaire.

Kate konnte sich nicht daran erinnern, jemals viel im Haus herumgesessen zu haben. Bevor sie wirklich ihre Freizeit genießen konnte, hatte es immer viel zu erledigen gegeben. Sie hörte wieder das Krachen und die dumpfen Schläge, wenn sie mit der Axt Feuerholz gespalten hatte. Dachte an die Hühner, die alles aufpickten, was aus dem vollen Eimer mit den Küchenabfällen auf den Boden fiel. An die Hütehunde, die sie so oft von der Kette gelassen hatte, damit sie miteinander spielen konnten, während sie und Will die wiehernden Pferde mit Heu versorgten. Es musste die Wäsche von der Leine genommen werden, der Rasen kontrolliert werden, bevor er verwilderte, die Spritzpistolen mussten gereinigt und die Schuhe ihres Vaters geputzt werden. Im Gemüsegarten ihrer Mutter hatten sie gemeinsam Unkraut gejätet und Pflanzen gesät, hatten Samen auf Trockengestellen ausgelegt und dann in Umschläge gefüllt und diese schließlich sorgfältig beschriftet. All dies waren Dinge gewesen, die erledigt werden mussten, und sie hatten dies immer gemeinsam getan. Kate und Will.

Wenn sie sich tatsächlich einmal im Haus aufgehalten hatten, blieb der Fernseher an den meisten Abenden ausgeschaltet. Ein stummer, schwarzer Kasten in einer Ecke des Zimmers.

Es waren die Musik und die Mahlzeiten gewesen, die Leben in das Haus gebracht hatten, denn diese beiden Dinge hatte man immer gemeinsam genossen. Ihre Mutter hatte stets frisches, selbst angebautes Obst und Gemüse auf den Tisch gebracht. Sie war dabei jedesmal über dessen Unvollkommenheit und Eigenarten entzückt gewesen. Eine Karotte mit der gebogenen Nase eines alten Mannes, eine Kartoffel mit einem Bauch und einem Kopf, braune Schnecken im Brokkoli, grüne Raupen in den Aprikosen und hier und da auch einmal eine Spinne. Leben aus dem Garten, das auf den Tisch kam und sie ernährte. Kate wurde erst jetzt bewusst, dass Nell diese Erfahrung noch nie gemacht hatte. Ihre Tochter war mit Produkten aus dem Supermarkt aufgewachsen, perfekt in Form und Größe, aber so gut wie geschmacksfrei und mit so viel Chemie behandelt, dass nicht eine einzige Spinne, Schnecke oder Raupe überlebt hatte. Plötzlich überkam Kate eine große Sehnsucht nach jenen Tagen – nach einem Leben mit selbst angebautem Obst und Gemüse. Einem Leben voller Spaß und Musik. Sie wollte das irische Erbe ihrer Mutter wiederauferstehen lassen und versuchen, es an Nell weiterzugeben.

Als Teenager hatte es für sie niemals einen Grund gegeben, sich in ihrem Zimmer einzuschließen und sich das Gehirn mit Technolärm zuzudröhnen. Kates Familie hatte zu einer wilden Mischung von Songs getanzt, gesungen und gelacht. Alte LPs, verstaubte Bänder und CDs. Die Beatles, Elvis, Slim, Vivaldi, dazu Madonna, Rolf Harris, The Pogues und Johnny Cash. Sie wünschte sich, dass Nell diese Musik auch eines Tages mögen würde. Sie würde alles daransetzen, dass Nell diese Art von Leben kennen lernte. Nell, bei der der Fernseher schon viel zu oft Babysitter gewesen war. Kate spürte, dass sie jetzt die Chance dazu hatte, das wiedergutzumachen.

»Du wässerst die Luzerne?«, fragte Kate ihren Vater in einem so ungezwungenen Ton wie möglich. »Wenn du willst, komme ich mit und helfe dir dabei, die Rohre zu verlegen.«

Annabelle drehte sich zu ihr um und sah sie an.

»Meinst du nicht, dass ich dir jetzt besser zeigen sollte, wo du heute Nacht schlafen kannst? Du kannst deinem Vater ja morgen helfen.«

Kate sah Henry an. Er nickte.

»Wenn du mir morgen früh helfen könntest, wäre das schön.« Dann drehte er sich um und verließ ohne ein weiteres Wort die Küche.

»Komm«, sagte Annabelle, »ich gebe dir ein Handtuch.«

Kate folgte ihr in den Flur. Annabelles kleiner Hintern wackelte in ihrem Designerjogginganzug wie der einer siamesischen Katze. Sie nahm einen Satz genau zueinander passender Handtücher aus dem Wäscheschrank und legte einen Waschlappen obenauf. Kate war entsetzt, als sie sah, dass die Bettwäsche und die Handtücher im Schrank nach Farben sortiert und exakt zusammengelegt waren.

Als Kate das letzte Mal einen Blick in diesen Schrank geworfen hatte, hatte darin das absolute Chaos geherrscht. Neben der Bettwäsche waren dort auch zerfledderte und immer wieder ausgebesserte Brettspiele verstaut gewesen. Monopoli, Twister und Squatter hatten zwischen den Waschlappen, Handtüchern und alten Frotteetüchern gelegen, die für die verwaisten Lämmer oder zum Aufwischen der Bächlein, die die Welpen hinterließen, verwendet wurden.

Als Annabelle jetzt zu den Schlafzimmern vorausging, warf sie ihr über die Schulter hinweg ein Lächeln zu.

»Amy hatte absolut keine Zeit, ihre Sachen aus deinem Zimmer zu räumen. Sie lernt gerade für ihre Prüfungen. Du wirst also vorläufig mit dem Büro vorliebnehmen müssen, wenn es dir nichts ausmacht. «

Kurz bevor sie ging, hielt Annabelle noch einmal inne und sagte: »Vielleicht sollten wir überlegen, ob du mit Nell nicht in Wills Zimmer ziehen kannst?« Dann zog sie auch schon die Tür hinter sich zu und war verschwunden, während Kate dastand und die Handtücher umklammerte.

Kate öffnete ganz leise wieder die Tür und ging dann über den Flur in Wills Zimmer. Es war alles noch so, wie sie es in Erinnerung hatte. Auf seinem kleinen Schreibtisch stapelten sich jede Menge Fachbücher über Landwirtschaft. Sein Bett und sein Schrank beanspruchten den größten Teil des Raumes, so dass nicht mehr viel Platz für anderes blieb. Sie setzte sich auf das Bett und starrte das Foto an der Wand an. Ein junger Will in Shorts, übers ganze Gesicht strahlend, der einen Hundewelpen und ein Lamm knuddelte. Neben ihm Kate, die eine Milchflasche mit einem schwarzen Gummisauger in der Hand hielt und eine alberne Grimasse schnitt.

Kate starrte das Foto an und versuchte verzweifelt, die Gerüche, Geräusche und Einzelheiten jenes Tages, an dem ihre Mutter dieses Foto gemacht hatte, heraufzubeschwören. Sie nahm Wills Kopfkissen von seinem hastig gemachten Bett und atmete dessen Geruch ein, während ihre Tränen auf dem Stoff dunkle Flecken hinterließen.

Als sie wieder aufsah, stellte sie erschrocken fest, das Aden vor ihr stand. Sie wandte den Kopf ab und wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie bemerkte, wie sich die Matratze bewegte, als Aden sich neben sie setzte. Dann spürte sie, wie er einen Arm um ihre Schultern legte und sie an sich zog.

»Schhh. Schhhh … ist ja schon gut«, flüsterte er. Kate ließ sich von Aden halten und lehnte ihren Kopf an seine Brust. Als sie in sein Hemd weinte, merkte sie, dass sie den schwachen, erdigen Geruch von Will, der in seinem Bettzeug gehangen hatte, nicht mehr wahrnehmen konnte. Stattdessen hatte sie jetzt Adens Deodorant in der Nase. Sie entzog sich ihm.

»Katie, komm schon.« Er streckte die Hand aus und strich ihr ein paar dunkle, glänzende Haarsträhnen, die ihr ins Gesicht gefallen waren, hinters Ohr. Kate fühlte sich plötzlich entblößt und verletzlich. »Wir werden das schon durchstehen.«

Sie schob ihn von sich weg.

»Lass mich in Ruhe!« Sie stand abrupt auf und stolperte aus dem Zimmer. Im dunklen Büro legte sie sich dann voll bekleidet und zitternd, in das schmale Rollbett. Sie zog die warme, schlafende Nellie an sich und weinte stumm in sich hinein, während sie dem sanften, gleichmäßigen Atem ihrer kleinen Tochter lauschte.