Kapitel 25

Erst sehr viel später an diesem Abend sah Kate Nick wieder. Er lag, ohne Stiefel und in Strümpfen unter der Bar im Dreck. Simmo und Blue hatten ihn an den Knöcheln gepackt und zerrten ihn gerade darunter hervor. Das Gedränge an der Bar hatte inzwischen merklich nachgelassen. Nun standen dort nur noch die absoluten Kampftrinker, die interessiert zusahen, wie Johnno sich jetzt rittlings auf Nicks Bauch setzte. Nicks kurzes rotblondes Haar war schwarz vor Schmutz und sein Hemd war voller Lebensmittelfarbe. Auf seinem mit Schlamm beschmierten Gesicht lag ein betrunkenes Grinsen, bei dem seine weißen Zähne zu sehen waren. Er und Johnno rollten jetzt, miteinander ringend, auf dem Boden herum. Sie hatten kleine Tuben mit roter Lebensmittelfarbe in den Händen, die sie sich gegenseitig zu entwinden versuchten. Schließlich gelang es Nick, Johnnos Tube an sich zu reißen. Er setzte sie an seine Lippen, saugte ihren Inhalt heraus, behielt diesen aber im Mund. Dann spitzte er die Lippen und spuckte Johnno eine Fontäne roter Flüssigkeit ins Gesicht. Mit seinen zusammengekniffenen Augen und der roten Farbe, die ihm übers Gesicht lief, sah Johnno aus wie das Opfer einer Schießerei in einem Quentin-Tarantino-Film. Er rächte sich dafür auf der Stelle. Er nahm Nick in den Schwitzkasten, schleppte ihn zu einem der Bierhähne und spritzte Nick einen Strahl schaumigen Biers ins Gesicht. Felicity war nirgends zu sehen.

Kate bog sich vor Lachen über die Show, die die beiden Kindsköpfe veranstalteten. Blue stand daneben und feuerte die beiden an wie ein kleiner Pinscher, der zwei große Schäferhunde ankläfft, während Nick und Johnno sich auf dem Boden herumwälzten. Völlig betrunkene Farmerjungen, in einen spielerischen Kampf verwickelt. Junge Bullen, die ihre Kräfte maßen.

Als sie dann jedoch einen der Böcke umstießen, auf denen die Tischplatten lagen und ein paar Getränke durch die Luft flogen, kam Razor schließlich hinter der Bar hervor. Er schob sich mit seinem mächtigen Körper zwischen die beiden Kampfhähne und trennte sie voneinander.

»Es reicht jetzt. Raus hier«, sagte Razor in strengem Ton, drehte die beiden herum und versetzte ihnen jeweils einen Tritt in den Hintern. Nick wankte gehorsam auf den von Scheinwerfern erhellten Ausgang der Scheune zu. Kate gesellte sich zu ihm, als er auf unsicheren Beinen auf die Laderampe zusteuerte.

Als er die Scheune verlassen hatte und auf dem steinigen Hof stand, beugte er sich heftig atmend nach vorn und stützte sich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab.

»Geht’s dir gut?«, fragte Kate, die jetzt neben ihm stehen geblieben war.

»Beschissen«, war alles, was er herausbrachte.

»Wo ist Felicity?«

Nick zuckte mit den Schultern. Offensichtlich war er zu betrunken, um sprechen zu können. Kate sah sich um. Etwas entfernt, jenseits des Gatters, konnte sie grüne Grasbüschel sehen, die zwischen dem kahlen Schotter wuchsen. Dort drüben musste es Wasser geben, dachte sie. Sie packte Nick beim Kragen und schob ihn zum Zaun.

»Rüberklettern«, befahl sie.

»Hm?«

Sie nahm seinen schmutzigen Fuß und stellte ihn auf die unterste Querstange. »Da rüber.«

Nick begann gehorsam zu klettern. Als er die oberste Stange erreicht hatte, murmelte er leise etwas, bevor er wie ein Stein auf der anderen Seite hinunterfiel. Er landete mit einem lauten Plumps auf seinem Rücken. Eine Staubwolke stieg wie Rauch um seinen Körper herum auf und schwebte dann im Licht, das aus der Scheune fiel.

Kate packte seinen Arm und zog ihn hoch.

»Komm schon, Nick. Nur noch ein kleines Stück.«

Als er wieder aufrecht stand, legte er einen Arm um Kates Schultern und humpelte dann in seinen Socken auf einen dunklen, länglichen Wassertrog zu. Als sie den Trog erreicht hatten, ließ Nick sich einfach auf den Boden fallen.

»Steck deinen Kopf rein«, befahl Kate.

»Hä?«

»In den Trog. Halt deinen Kopf ins Wasser.«

»Viel zu kalt.«

Kate zerrte ihn hoch. Dann spritzte er sich etwas Wasser ins Gesicht.

»Mehr. Das reicht nicht«, sagte Kate, legte ihre Hand auf seinen Hinterkopf und tauchte ihn unter. Beim ersten Mal kam er hoch und spuckte Wasser und irgendwelches Grünzeug aus. Beim zweiten Mal fluchte er lauthals. Beim dritten Mal lachte er.

»Was machst du denn da? He, da drin ist es ziemlich schleimig!«

»Dafür wird’s dir gleich besser gehen«, sagte Kate und suchte in seiner Jackentasche nach irgendetwas, womit sie ihm das Gesicht säubern konnte. Sie zog ein zerknülltes Taschentuch heraus, tauchte es kurz ins Wasser und begann sein Gesicht abzuwischen. Er war so betrunken, dass er kaum die Augen offen halten konnte. Sie starrte seine langen, nassen Wimpern an, die jetzt wie Federn auf seinen kräftigen Wangenknochen lagen. Seinen vollen Mund. Einen Mund, der zum Küssen einlud, jetzt, da er wieder sauber war. Sie machte das Tuch noch einmal nass und befreite sein Gesicht und seinen Hals von weiterem Schmutz.

»Sei froh, dass du keine Locken mehr hast,« sagte sie. »Diesen Dreck würdest du nämlich niemals wieder rauskriegen.«

Nick gab ihr keine Antwort. Seine Augen waren jetzt fast geschlossen. Die Band hatte zu spielen aufgehört. Kate konnte das Zischen eines defekten Pfropfens im Trog und das Geräusch des heraustropfenden Wassers hören. Sie kniete auf dem Boden, der sich feucht anfühlte. Am Himmel über ihnen, direkt hinter Nicks Schulter, hing der Mond und sah ihnen zu. Ein großer Mond, noch nicht ganz voll. Leuchtend wie eine Silbermünze auf schwarzem Samt. Aber auch ein störrischer Mond, der nichts tat, um irgendwelche Romantik aufkommen zu lassen, jetzt, da sie allein waren.

»Du versuchst also, mich wieder zu entjungfern«, murmelte Nick und öffnete plötzlich die Augen, um Kates Gesicht zu studieren.

»Wie soll das denn gehen?«

»Na, du könntest es wenigstens versuchen.« Nick hielt jetzt ihren Arm fest. »Du bist wirklich eine erstaunliche Frau, Kate Webster. Du bist die Mutter meines Kindes. Ha! Erstaunlich.«

»Du bist betrunken.«

Nicks Kopf sackte nach vorn, um das zu bestätigen.

»Und wenn schon. Willst du mir etwa erzählen, dass du noch nüchtern bist?«

Kate lächelte ihn an. Ja, sie war tatsächlich völlig nüchtern. Sie war zum ersten Mal auf einem B&S nüchtern, und das fühlte sich richtig gut an. Sie hatte alles im Griff. Der Zorn auf ihren Vater konnte ihr heute Nacht nichts anhaben. Nicht, wenn Nick bei ihr war. Die paar Becher Rum, die sie getrunken hatte, wärmten allenfalls ihre Seele anstatt sie einfach zu betäuben, wie an den anderen Abenden, an denen sie jeweils einen Filmriss von mehreren Stunden gehabt hatte und dann irgendwann neben einem völlig Fremden aufgewacht war. Jetzt war sie allein mit Nick. Sie war ihm gefolgt, wollte ihn. Aber sie war nüchtern, und sie wusste deshalb ganz genau, was sie tat.

»Ich wollte nur mit dir reden«, sagte Kate. Sie setzte sich neben ihn, versuchte ihre nackten Beine mit den Fetzen ihres Kleides zu bedecken. Sie bekam eine Gänsehaut, als die Feuchtigkeit des Bodens um den Trog herum durch den Stoff drang.

»Ich wollte dich fragen, ob du damit klarkommst. Ich meine, mit der Sache mit … Nell.«

Nick seufzte. Kate sah, dass für einen kurzen Moment ein Ausdruck der Nüchternheit über sein Gesicht huschte.

»Ich denke schon. Jedenfalls gewöhne ich mich langsam daran. Es bleibt mir ja ohnehin nichts anderes übrig.«

»Und Felicity.«

»Sie weiß es.«

»Sie weiß es? Was hat sie gesagt?«

Nick winkte ab. »Das spielt jetzt keine Rolle mehr.«

Er zog einen Ring aus seiner Tasche, wedelte damit vor Kates Nase herum und warf ihn dann in die Luft. Der Ring blitzte einmal kurz im Mondlicht auf und versank dann mit einem leisen »Plopp« im Trog.

»He!«, sagte Kate.

»Wir haben uns, wie sagt man so schön – wir haben uns im gegenseitigen Einverständnis getrennt. Vor …«, Nick warf einen Blick auf seine Uhr, »vor ungefähr zwei Stunden.« Er begann ein paar Zeilen aus seinem Lieblingssong von Lee Kernaghan vor sich hin zu brummen. »Baby, don’t lerve me, coz I’m country.«

»Oh«, sagte Kate und empfand dabei echtes Mitlied mit ihm, gleichzeitig aber empfand sie auch Freude angesichts der Möglichkeit, irgendwann mit ihm zusammen zu sein.

»Sie sagte, wir würden nicht zusammenpassen. Du kennst die Leier. Sie hat meinen Pick-up genommen und ist dann einfach abgehauen. «

»Dann bist du jetzt also wieder frei?«

»Ich?«, sagte Nick. »Frei? Das soll wohl ein Witz sein. Ich habe einen kranken Vater, eine traurige Mutter und eine Tochter, von der ich allerdings bis vor Kurzem noch überhaupt nichts wusste. Ich habe eine heruntergekommene Farm und außerdem eine gottverdammte Dürre. Das kann man wohl kaum frei nennen! Aber es gibt eines, was mich befreien könnte, Baby«, sagte er, »und das bist du. Mit dir wäre ich wieder frei, so freiiii wie ein Vogel!« Er sah sie nicht an, als er das sagte, sondern murmelte die Worte einfach nur betrunken vor sich ihn, mit gesenktem Kopf, die Arme ausgestreckt, so als wären es Flügel.

Kate lachte. »Du bist besoffen!« Als ihr jedoch bewusst wurde, was er da eben gesagt hatte, spürte sie plötzlich die Anziehungskraft des Mondes, der sie beide von dort oben aus beobachtete. Sie spürte Nells Herzschlag. Nell, die zu Hause wie ein kleiner Engel schlief. Sie spürte das Branden der Wellen an den Ufern von Bronty. Sie spürte in Nicks Gegenwart ein so heftiges Ziehen, dass es fast wehtat. Sie wandte sich ihm wieder zu und hob seinen Kopf an, so dass er sie ansehen musste. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war traurig, aber auch voller Verlangen. Er beugte sich zu ihr hinüber.

»Darf ich dich küssen?«, murmelte er. »So wie beim letzten Mal?«

Er fuhr mit den Fingern sanft über ihre Wange. Dann legte er seine Handfläche auf ihren Hinterkopf. Seine Berührung fühlte sich gut und richtig an. Er zog sie an sich. Kate atmete seinen Kuss ein, der voller Süße, Alkohol und Sehnsucht war. Sie stieß einen leisen Klagelaut aus, dann gab sie jeden Widerstand auf, presste ihren Mund auf den seinen. Sie spürte, wie seine rauen Hände über ihre Haut strichen, über ihre nackten Schultern, ihren Nacken. Sie küssten sich. Leidenschaftlich. Ihre Zungen begegneten sich voller Verlangen. Kates Hände glitten unter sein nasses Hemd, wollten seine Haut spüren. Ihre Handflächen erforschten seinen Oberkörper, der so geschmeidig und muskulös wie der eines Bullen war. Sie hörte seinen Atem, schwer von Verlangen, und vergaß den Rest der Welt. Es gab nur noch sie und Nick. Und den Mond und den Nachthimmel, Silber auf Schwarz. Sie und Nick, die sich auf einem B&S küssten. Wieder.