Kapitel 3

Es hatte zu nieseln begonnen. Kate saß am Lenkrad des Pick-ups, die Scheibenwischer fuhren mit einem ächzenden Geräusch über die Windschutzscheibe. Nell ahmte mit ihrem Kopf die stetige Bewegung nach. Kate begann vor sich hin zu schimpfen, als die Ampel vor ihnen auf Rot sprang. Sie war wütend auf sich selbst, weil sie einen fürchterlichen Kater hatte und weil sie wieder einmal in aller Öffentlichkeit irgendeinen Kerl abgeschleppt hatte. Und natürlich hatte ihre Mitbewohnerin Tabby wie immer Recht: Sie würde zu spät zur Arbeit kommen. Viel zu spät.

»Sch-Scheiße, Scheiße«, ahmte Nell sie nach. Kate warf ihrer Tochter einen strengen Blick zu.

Vor der Kindertagesstätte, die sich in einer von Bäumen gesäumten Straße in der Innenstadt befand, setzte Kate Nell auf ihre Hüfte. Dann hängte sie sich eine staubige Windeltasche über die Schulter. Sie griff nach oben, um das hohe, kindersichere Tor zu öffnen. Sie musste eine ganze Weile an dem widerspenstigen Plastikriegel herumfummeln, bis sich das Tor schließlich mit einem lauten Quietschen öffnete. Verdammt, sie würde wohl nie kapieren, wie dieses Ding funktionierte. Bevor sie hineinging, hauchte Kate ein paar Mal in ihre Handfläche und atmete dann tief durch ihre Nase ein. War der Alkohol von gestern noch zu riechen? Auf der Fahrt hierher hatte sie immer wieder den Wäschespinnenmann vor Augen gehabt, vor allem sein verblüfftes Gesicht, als sie ihm den Laufpass gegeben hatte. Jetzt stieß sie sauer auf. Fiona, die Erzieherin, würde ihr den Kater bestimmt sofort ansehen.

Das Geschrei der Kinder wurde lauter, als Kate das Gebäude betrat. Sie musste sich unter den bunten Fischen ducken, die an Nylonfäden von der Decke hingen.

»Ich sehe, dass Ihnen unsere Fischdekoration gefällt«, sagte eine strahlende Fiona mit singender Stimme. »Ach sieh an. Sie haben Nellies Haare mit Gel frisiert. Sieht wirklich hübsch aus«, sagte sie und nahm dabei Kate die Tasche mit den Windeln von der Schulter.

»Äh. Nein. Ich glaube, das ist Orangensaft und Vegemite-Toast«, sagte Kate.

»Ist Mami nicht schlau?«, fragte Fiona, als Kate einen Klumpen gekautes Brot aus Nells lockigem, beinahe weißem Haar zupfte. »Wann wollen Sie Nellie heute Abend abholen?«

Eine freundliche Frage. Kate wusste jedoch ganz genau, was Fiona wirklich damit sagen wollte. Kommen Sie bitte nicht wieder zu spät.

»Zur selben Zeit wie sonst auch immer«, sagte Kate.

Als Fiona Nell auf den Arm nehmen wollte, schob diese ihre rosa Unterlippe vor und wandte den Kopf ab. Sie schlang die Arme um Kates Nacken, strampelte mit den Beinen und begann zu schreien.

»Neiiiiiin! Ich will nicht!«

»Komm schon, Nell. Deine Mami muss zur Arbeit.«

»Neiiin.«

»Erinnerst du dich an das, was Mami dir gesagt hat? Mami muss arbeiten, damit sie die Miete bezahlen kann. Und um dir Anziehsachen und Spielzeug zu kaufen. Und Essen … damit du es dann auf den Boden werfen kannst. Ich komme dich bald wieder holen. Versprochen. «

Kate löste Nells Arme von ihrem Nacken und übergab Fiona das schluchzende Kind. Himmel, warum war das alles nicht etwas leichter, fragte sich Kate.

»Schau mal dort drüben, Nell. Wir haben ein neues Vögelchen. Möchtest du vielleicht sehen, was für hübsche gelbe Federn es hat?«

Fiona zwinkerte Kate verschwörerisch zu und ging dann mit Nell davon. Kate versuchte Nells Schluchzen, das sich jetzt wie ein abgehacktes Keuchen anhörte zu ignorieren. Sie hatte einen Kloß im Hals. Sie wollte Nell in die Arme nehmen, sie küssen und ganz fest halten und niemals wieder loslassen. Am liebsten hätte sie sich auf den Boden geworfen, jetzt und hier, und in die Haare ihres kleinen Mädchens hineingeschluchzt.

Ich bin doch selbst noch ein Kind, wollte Kate schreien. Und ich brauche doch auch meine Mami! Wo ist meine Mami? Stattdessen drehte sie sich jedoch um und verließ mit raschen Schritten die Kindertagesstätte.

Als Kate dann draußen in ihrem Pick-up saß und versuchte, sich zu beruhigen, musste sie wieder an die stürmischen, bitteren Frühlingstage auf der ein wenig außerhalb von Orange gelegenen Farm ihrer Tante Maureen denken. Sie war damals gerade zwanzig geworden, und ihr Bauch hatte ihr den Weg gewiesen, wo auch immer sie hingegangen war. Sie hatte das Gefühl gehabt, als würde die runde Kugel, die sie da vor sich hertrug, irgendjemand anderem gehören. Sie war im siebten Monat schwanger gewesen. Seit fünf Monaten studierte sie an der landwirtschaftlichen Hochschule. Sie hatte ihre Mutter an jedem einzelnen Tag schmerzlich vermisst.

Sie verbrachte den größten Teil ihrer Zeit am Küchentisch ihrer Tante Maureen, ihre Seminarunterlagen vor sich ausgebreitet und mit der Hand geistesabwesend ihren Bauch streichelnd, in dem ihr Baby heranwuchs. Aber wenn sie nicht gerade ihren Kopf über ihre Bücher gebeugt oder ihren schwangeren Leib hinter einem der großen Tische in der Universitätsbibliothek versteckt hatte, war Kate draußen auf der Weide gewesen, wo sie verzweifelt versucht hatte, sich die Koppeln ihres Zuhauses vorzustellen. Sie hatte, nur um aus dem Haus zu kommen, ihrer Tante Maureen und ihrem Onkel Tony angeboten, jeden Morgen und jeden Abend nach den Mutterschafen und Lämmern zu sehen.

Während sie ihren ungewohnt schweren Körper mühsam durch die Drähte des Zaunes gezwängt hatte, hatte Kate festgestellt, dass sich der Schwerpunkt mit jedem Tag ein wenig mehr verlagerte. Trotz ihrer kräftigen Beine, hatte sie, wenn sie die Hügel hinaufgestiegen war, feststellen müssen, dass sie das jeden Tag etwas mehr Kraft gekostet hatte. Sie hatte gespürt, wie ihr der Atem in der Brust stockte. Sie war sich dabei nicht sicher gewesen, ob es an dem wachsenden Baby oder an der Panik lag, die es ihr so schwermachten, Luft in ihre Lunge zu bekommen.

Eines sehr düsteren Tages, als die Wolken die schnurgeraden Reihen von Weinstöcken am Hang zu berühren schienen, hatte sich Kate auf die kalte Weide gesetzt und ihren Kopf in die Hände gestützt. Schwanger. Mit zwanzig. In diesem merkwürdigen Land. Voller Sehnsucht nach zu Hause. Nach ihrer Mutter. Ihrem alten Leben. Ihrer Insel. Nein, so war das alles nicht vorgesehen gewesen.

Hier auf den Tablelands von New South Wales vermisste sie den Blick auf die unruhigen Wasser der Bass Strait. Da war kein Seewind, der ihr die salzige Frische von zu Hause gebracht hätte. Nur wogende, nackte Hügel und schmutzige waldige Flecken, die im Sommer in der Hitze dösten und im Winter im Nebel schmollten. Sie verglich diese Landschaft ständig mit dem wilden Gestrüpp, das sich an die windgepeitschten Hügel der Farm ihres Vaters an der Ostküste Tasmaniens klammerte.

Von dort, wo Kate gesessen hatte, hatte sie in der Ferne am gegenüberliegenden Hang einen grauen Fleck gesehen, der ein Baumstumpf oder ein Felsbrocken hätte sein können. Sie hatte jedoch instinktiv gewusst, dass dies eines der Mutterschafe ihres Onkels war und dass das alte Mädchen mit seinem runden Bauch auf der Seite lag, während seine Hufe in die Luft ragten. Es versuchte angestrengt, das Lamm aus seinen weichen, rosa Hautfalten herauszupressen. Kate hatte allein schon bei diesem Gedanken würgen müssen. Als sie aufgestanden und zu dem Schaf hinübergelaufen war, hatte die morgendliche Übelkeit, an der sie litt, sie wie eine Welle überspült. Die morgendliche Übelkeit, von der der Doktor gesagt hatte, dass sie nach der dreizehnten Woche verschwinden würde. Eine Übelkeit, die sie zusammen mit dem Sodbrennen, den Ausschlägen, den Gelenkschmerzen und dem heftigen Juckreiz auf ihrer Haut ohne Klagen ertragen hatte. Aber auch jetzt noch musste sie beim Anblick der Schäferhunde, die zwischen den hohen Grasbüscheln ihren Kot absetzten, würgen … Selbst wenn sie nur an deren schleimige Exkremente dachte, wurde ihr schlecht.

Nachdem sie sich unbeholfen hinter dem Mutterschaf niedergekniet hatte, hatte sie ihre Hand in seinen Leib geschoben und gehofft, kleine Hufe zu ertasten. Keinen Kopf und auch keinen Schwanz. Als sie dann endlich die winzigen, knochigen schwarzen Hufe zu fassen bekommen hatte, hatte sie dem Mutterschaf ein paar beruhigende Worte zugemurmelt und dann mit einem Ruck kräftig angezogen. Das Schaf hatte ein ersticktes Blöken ausgestoßen, als der Schmerz durch seinen Körper fuhr, und kurz mit den Beinen gezuckt. Kate hatte weitergezogen, und schon bald waren der Kopf und die Schultern des Lammes zu sehen gewesen, nass und noch von der Fruchtblase umgeben. Das Lamm war so groß, dass es die Hüften und die Vagina des Mutterschafs auseinanderzureißen schien.

Großer Gott, genau so wird es mir auch bald ergehen, hatte Kate gedacht, als sie noch einmal kräftig angezogen hatte. Sie hatte gehört, wie das Schaf ächzte, und gesehen, wie der Schock seine gelben Augen glasig werden ließ. Das Lamm war herausgerutscht. Es war tot. Sein in die Länge gezogener Kopf hatte in der durchsichtigen Fruchtblase seltsam grotesk gewirkt. Die Zunge, die ihm aus dem Maul hing, war blau angelaufen gewesen. Sein Körper, noch immer nass und warm, war mit gelbem Schleim und Blut bedeckt gewesen. Dampf war von dem toten Tier in die klare Morgenluft aufgestiegen und hatte sich mit dem Gestank faulen Fleisches vermischt. Das Lamm war offensichtlich schon vor mehreren Tagen im Mutterleib gestorben.

Kate hatte sich ihre glitschigen Hände an den Flanken des Mutterschafs abgewischt und dabei an das Baby gedacht, das in ihrem Bauch munter vor sich hin strampelte. Sie hatte das Schaf über dessen knochigen Hüften bei der Wolle gepackt und seine Hinterbeine hochgezogen.

»Komm schon, Mädchen. Versuch aufzustehen.«

Dann hatte Kate zugesehen, wie das Mutterschaf davongewankt war, die dunkelrote Plazenta hinter sich her schleifend, den Kopf gesenkt und mit vor Schmerz zitternden Beinen. Sein totes Junges hatte es aufgrund des Schocks wohl schon vergessen.

Kate hatte das tote Lamm bei den Hinterbeinen genommen, um es zur Farm zu bringen, wo sie es in die Verbrennungsanlage werfen würde. Beim Gehen war der Kopf des Kadavers ständig auf den Boden aufgeschlagen. Es war ein ziemlich großer Widder gewesen.

Kate hatte an ihre Mutter gedacht. Und sie hatte wieder an den Tod gedacht. Daran, dass der Tod sich jahrelang Zeit gelassen hatte, um sich Laney endgültig zu holen. Der Krebs hatte ihre Mutter langsam immer dünner und ihre Haut immer bleicher werden lassen. Eine Haut, die mit der Zeit so trocken und spröde geworden war, dass sie wie Reispapier geknistert hatte, wenn Kate ihre Mutter vorsichtig in ihrem Bett umgedreht hatte, um ihr den Rücken zu waschen oder um die Laken zu wechseln. Als es dann auf das Ende zugegangen war, waren Laneys Augen der einzige Ort gewesen, wo Kate noch Licht und Leben gesehen hatte. Nur dort hatte sie noch die Mutter gefunden, die sie einst gekannt hatte.

Nach einer Weile schnitten die Fesselgelenke des schweren Lammes in Kates Hände ein. Sie konnte das tote Tier jedoch nicht einfach in den Busch werfen, so wie sie es zu Hause getan hätte. Hier gab es keine Tasmanischen Teufel, die das Aas mit Haut und Haaren gefressen hätten, so dass von dem Lamm schließlich nur noch ein paar Zähne oder ein kleiner Elfenbeinhuf übrig geblieben wäre. Sie sah das gefleckte kleine Lamm an und fragte sich dabei, warum es ihr nicht leidtat. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie dort draußen auf der Koppel ihr eigenes Kind tot zur Welt bringen würde. Was würde sie dabei empfinden, wenn sie es verlor?

Auch Kates Schulter tat ihr jetzt vom Tragen weh. Sie atmete heftig. Atmete für zwei. Sie dachte daran, wie ihre Mutter verzweifelt um Luft gerungen hatte, als sie das letzte Mal die Treppe zum Dachboden in Bronty hinaufgestiegen war. Sie hatte diesen Raum unbedingt noch ein letztes Mal sehen wollen. Hatte ihn spüren wollen. Kate machte sich jetzt Sorgen darüber, was die neue Frau ihres Vaters damit anstellen würde. War Annabelle schon dort oben gewesen? Hatte sie schon die alte Zugtreppe an dem abgegriffenen Seil herabgezogen? Hatte der Dachboden Annabelle seine Geheimnisse zugeflüstert? Geheimnisse, die er seit vier Generationen von Bronty-Frauen bewahrte? Diese Frau aus Sydney würde es doch hoffentlich nicht wagen, die Schätze, die dort aufbewahrt wurden, auch nur zu berühren? Oder etwa doch?

Sie stellte sich Annabelle mit ihren gebleichten Zähnen, den lackierten Nägeln und den blondierten Haaren vor. Kate wünschte sich, dass sie eine Leiter genommen und mit ihrem Taschenmesser das Zugseil kurz unter der Decke abgeschnitten hätte, damit die Dachbodentür für immer geschlossen und außerhalb von Annabelles Reichweite blieb. Dann hätte die neue Frau ihres Vaters den Raum unter dem Dach vielleicht irgendwann vergessen, so dass er wie eine Insel vom restlichen Teil des Hauses abgeschnitten blieb. Wenn sie das nächste Mal mit Will telefonierte, würde sie ihn fragen, ob er vielleicht schon einmal daran gedacht hatte, ebendas zu tun.

Wieder auf Maureens und Tonys Hof, warf Kate das Lamm in die flüsternde Asche, die auf dem Boden des Verbrennungsofens im Frühlingswind herumwirbelte. Sie würde den Kadaver später verbrennen. Während sie sich auf den Weg in die warme Küche ihrer Tante machte, zupfte sie sich die Reste der angetrockneten Nachgeburt von ihren roten Händen, bevor sie sie unter den heißen Wasserstrahl hielt.

Am Tisch versuchte sie dann, ein Schälchen Müsli mit warmer Milch hinunterzuwürgen. Sie hatte noch eine Stunde Zeit, bis sie zur Uni musste, wo sie unförmig und schwerfällig in den düsteren Vorlesungssaal watscheln würde. Wenn sie dann in der ersten Reihe saß, da sie nicht die geringste Lust verspürte, sich mit ihrem dicken Bauch die Treppe hinaufzuschleppen, würde sie die Blicke der anderen Studenten im Rücken spüren. Und dann würde sie vor Scham fast wieder sterben.

Sie hatte ihre Wrangler-Jeans getragen, so lange das möglich gewesen war. So lange, bis ihr Ledergürtel keine Löcher mehr hatte. Der Stoff ihres RM-Williams-T-Shirts hatte sich auf der Vorderseite so sehr ausgedehnt, dass die Hörner des Langhorn-Logos noch länger wurden. Als sie schließlich doch kapitulieren musste und sich Umstandskleidung gekauft hatte, trug sie trotzdem weiterhin ihre kanadischen Cowboystiefel. Auch wenn es ihr nur mit Mühe gelang, ihre geschwollenen Füße hineinzuzwängen.

Ein schwangeres Mädchen in Cowboystiefeln. Sie hatte sich vor den Spiegel gestellt und über sich selbst gelacht. Sie erinnerte sich jetzt daran, wie sie in ihrer Umstandskleidung betrunken an der Bar gestanden und sich über sich selbst lustig gemacht hatte. Erinnerte sich, dass sie mit dem breiten Elastikeinsatz geprahlt hatte, der sich über ihren dicken Bauch gespannt hatte. Dass sie geprahlt hatte, da drin sei nur Bier und kein Baby.

Die Jungen hatten sie ungläubig angestarrt, während die Mädchen gelacht hatten. Dennoch hatte sie erkannt, wie schockiert sie waren. Schockiert darüber, dass sie Alkohol trank. Dass sie eine Dose Bier nach der anderen hinunterkippte, als wäre ihr alles völlig egal. Schockiert darüber, dass sie genauso alt wie sie und schon schwanger war. Schockiert darüber, dass sie glaubte, zu ihnen zu gehören.

Jetzt starrte Kate traurig die kirschroten, gelben und blauen Blumen an, die auf die Ziegelmauer der Kindertagesstätte gemalt waren. Sie seufzte. Sie wusste, dass sie genauso wenig zu der Welt dort drin gehörte. Sie ließ den Wagen an, trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch und fuhr mit heulendem Motor die Straße entlang davon.