Kapitel 5

Über der gezackten Skyline von Melbourne lag eine Dunstglocke. Als Kate sich der Innenstadt näherte, schloss sie das Wagenfenster, damit der Gestank der Abgase draußen blieb. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel, um zu sehen, wie es ihrer Tochter ging. Nell schlief. Ihre Wangen waren entspannt, ihre feinen schwarzen Wimpern ruhten auf ihrer blassen Haut. Ein Heiligenschein aus weißblonden Locken umrahmte ihr kleines Gesicht. Dann warf Kate einen Blick auf ihr eigenes Spiegelbild, betrachtete ihre dunklen Augen, die das Erbe ihrer irischen Vorfahren waren. Im Gegensatz zu ihrer Tochter hatte sie eine sonnengebräunte olivfarbene Haut und die langen schwarzen und glänzenden Haare einer Zigeunerin. Es war gut, dass ihr unstetes Leben jetzt ein Ende finden würde. Sie fuhr nach Hause, brachte Nell dorthin, wo sie hingehörte.

Kate sah wieder nach vorn. Sie näherte sich jetzt dem schiefergrauen Meer und dem Schiff, das sie nach Hause bringen würde. Nachdem sie sich in die Kolonne der Fahrzeuge auf der Umgehungsstraße eingereiht hatte, legte sie eine Adam-Brand-Kassette ein. Die wummernde Musik half ihr dabei, die Aggressivität ihrer Umgebung zu ignorieren: die aufdringlichen Reklametafeln, das hässliche Industriegebiet, die brüllenden B-double-Laster, die an ihr vorbeidonnerten. Sie drehte die Musik noch ein wenig lauter. Adam Brands tiefe, freche Stimme gab ihr das Gefühl, von der Stadt und von allem, wofür sie stand, weit entfernt zu sein. Sie spürte förmlich die Energie des Landlebens, die Energie ihrer Jugend in ihren Adern pulsieren. Gleichzeitig fühlte sie sich aber auch alt, viel älter als damals, als sie diese Schnellstraße in die entgegengesetzte Richtung entlanggefahren war. Als sie ihrer Familie und ihrer Heimatinsel den Rücken gekehrt hatte. Auf der Flucht vor sich selbst und vor dem winzigen Leben, das in ihr heranwuchs.


Als das Schiff den Hafen verlassen hatte, teilten sich die Wolken, und die Abendsonne zeigte sich. Die Bucht glitzerte im hellen Sonnenlicht. Kate sah mit zusammengekniffenen Augen zum Horizont, während über ihr die Möwen kreisten. Vor ihr stand Nell und hielt sich an der Reling fest. Sie starrte gleichzeitig etwas ängstlich und auch begeistert auf das blaugrüne Wasser und die schäumende weiße Gischt hinab, während sie die kalte Seeluft auf ihrem Gesicht genoss. Für Kate roch das Meer nach zu Hause und nach Geborgenheit.

»So blau wie zu Hause auf Bronty ist das Wasser hier nicht. So blau wie dort ist es nämlich nirgendwo«, erklärte Kate ihrer Tochter.

Sie dachte an den weißen Strand der halbmondförmigen Bucht, der das Land ihrer Familie säumte und vergrub ihr Gesicht in Nells weichem Nacken, atmete ihren süßen Duft ein. Vor ihrem inneren Auge sah sie das Haus, eine scheinbar willkürlich zusammengewürfelte Konstruktion aus weiß gestrichenen Brettern und weiß gekalkten Steinen. An einem Ende des Hauses bildete das dunkelgraue Dach einen spitzen Giebel, der wie ein großes A aussah. In dessen Mitte befand sich das Dachfenster, das über die Koppeln aufs Meer hinaussah. Eine nostalgische Kletterrose rankte sich schon seit so vielen Jahren an den Wänden entlang, dass das Haus im Sommer gut zur Hälfte in ein üppiges Grün gehüllt war. Kate war sich nicht sicher, wie es wäre, in dieses Haus zurückzukehren, dieses Haus, das Annabelle jetzt für sich beanspruchte.

Kate hatte sich noch nicht davon erholt, dass Annabelle schon so bald nach dem Tod ihrer Mutter in ihr Leben getreten war. Dies war ohne jede Rücksprache geschehen. Ohne ihre Zustimmung. Ohne jede Vorwarnung.

Kate war selbst schuld daran. Schließlich hatten sie und ihr Bruder sechs Monate nach dem Tod von Laney ihrem Vater vorgeschlagen, eine Kreuzfahrt zu machen. Kate hatte im Internet recherchiert und Prospekte bestellt. Sie zeigten ein strahlend weißes Schiff, so hoch wie ein ganzer Häuserblock, das durch glitzerndes blaues Wasser zu einem glücklichen Land fuhr. Kate hatte sich gewünscht, dass ihr Vater aus diesem Land geheilt zurückkam. Stattdessen war er mit Annabelle zurückgekommen.

Kate hatte festgestellt, dass ihr Vater sich während der langen Krankheit ihrer Mutter so wie das Meer bei Ebbe immer mehr von ihr zurückzog. Als Kind war sie oft mit ausgebreiteten Armen auf ihn zugerannt, in dem Wissen, dass er sie lachend hochheben und herumwirbeln würde, so dass die Welt vor ihren Augen verschwamm, bis sie die Farbe von Eukalyptusbäumen und trockenem Gras annahm. Er hatte mit ihr herumgealbert, sie geherzt und geküsst. Dann jedoch war ihre Mutter krank geworden. Je schlechter es ihrer Mutter ging und je mehr Kate zur Frau heranwuchs, desto mehr hatte Henry sich von seiner Tochter entfernt. Er hatte darauf gedrängt, dass Kate wieder ins Internat zurückkehrte, obwohl es ihrer Mutter schon damals nicht mehr gut ging. Kate hatte sich kategorisch geweigert. Sie war Laney zuliebe geblieben, egal, was ihr Vater gesagt oder getan hatte.

Kate hatte mit der Zeit sowohl die Rolle der Krankenschwester als auch die der Köchin übernommen, es hatte schon bald Tage gegeben, an denen sie sich älter als die Berge rings um sie herum gefühlt hatte. Sie hatte die Infusionsbeutel gewechselt und den abgemagerten Körper ihrer Mutter gewaschen. Dazwischen war sie immer wieder in die Küche zu ihren Schulbüchern zurückgekehrt. Sie war damals in der elften Klasse.

»Musst du deinen ganzen Kram hier drinnen ausbreiten?«, hatte ihr Vater sie immer wieder angefahren. Er hatte es gehasst, dass ihr langes dunkles Haar genau wie das ihrer Mutter über ihre Schultern fiel. Kate hatte ihn dann immer böse angesehen, hatte ihre Bücher vom Tisch geräumt und war wortlos in ihr Zimmer gegangen. Nur Will mit seinem stets fröhlichen Gesicht und seinem unnachahmlichen Humor war es dann gelungen, sie wieder herauszulocken.

In den Jahren, in denen ihre Mutter so tapfer gekämpft hatte, hatten Kate und ihr Vater genau dasselbe getan. Aber sie hatten dabei ganz unterschiedliche Dämonen bekämpft, hatten sich dabei gegenseitig mit zusammengebissenen Zähnen böse angezischt. So leise, dass Laney sie nicht hörte. Will hatte immer versucht, sie beide auf seine sanfte, freundliche Art zu besänftigen.

Kate hatte noch drei Jahre gebraucht, um ihren Abschluss zu machen, ihre Mutter hatte ebenfalls noch drei Jahre gebraucht, um zu sterben. Als Kate die Schule beendet hatte, ein Jahr später als ihre ehemaligen Klassenkameraden, hatte es kein Festessen, keine Feier und keinen Abschlussball gegeben. Nur ein Begräbnis. Etwas mehr als ein halbes Jahr später, war Annabelle in ihr Zuhause eingedrungen.


Auf der anderen Seite des Meeres stand Annabelle in der Küche auf einem Stuhl und nahm die ausgeblichenen grün karierten Vorhänge ab. Die Küchenfenster sahen zu den Koppeln hinaus. Hinter den Koppeln lagen die Dünen und der Strand. Dahinter lag das Meer. Heute mischte sich ein türkiser Farbton in das tiefe Blau. Annabelle wandte ihren Blick blinzelnd von der strahlenden Schönheit des Strandes ab und sah nach oben, um sich wieder mit den hölzernen Vorhanghaken zu beschäftigen.

»Die Dinger sind vielleicht staubig!«, sagte sie zu Henry, der geduldig neben ihr stand und den Stuhl festhielt, während er gleichzeitig versuchte, etwas von den Mitteilungen für die Landwirtschaft im Radio mitzubekommen, auch wenn das Rundfunkgerät auf der Küchenanrichte nur leise vor sich hin murmelte.

Er sah durch die halb abgehängten Vorhänge hindurch zu den beiden knorrigen alten Pinien hinaus, die die Einfahrt zur Farm flankierten. Obwohl er wusste, dass Kate in ebendiesem Augenblick noch auf dem Schiff war, erwartete er fast, dass sie jede Sekunde durch das Tor fahren würde. Allein schon der Gedanke machte Henry nervös. Noch mehr beunruhigte ihn allerdings die Tatsache, dass er in Kürze zum ersten Mal seine Enkeltochter sehen würde. Er starrte die Pinien an, die sein Großvater, Kates und Wills Urgroßvater anlässlich der Geburt seines ersten Sohnes feierlich gepflanzt hatte. Ihre dicken Äste beschatteten ein rostiges Schild, auf dem »Bronty« stand. Henrys Vater hatte dieses Schild dort aufgehängt. Damals war es nagelneu und weiß gestrichen gewesen. Er hatte es an dem Tag aufgehängt, als er seine frisch angetraute Ehefrau nach Hause geführt hatte. Zwei Jahre später war dann ihr einziger Sohn während eines Sturms zur Welt gekommen, der so heftig gewesen war, dass das Schild heruntergerissen wurde.

»Dieses Schild wieder aufzuhängen«, pflegte Henrys Vater zu sagen, »war die erste Aufgabe, die du hier erledigt hast, mein Sohn. Deine Mutter meinte damals zwar, dass es viel zu windig wäre, um dich mit nach draußen zu nehmen, aber du warst in deinem Kinderwagen so warm eingepackt, da konnte nichts passieren. Du warst damals erst ein paar Tage alt und hast mir schon da draußen geholfen.«

Henry überlegte, ob er Annabelle bitten sollte, das neue Schild, das sie in Auftrag gegeben hatte, wieder abzubestellen. Er mochte das alte. Andererseits fand er es gar nicht schlecht, dass sie sich um das Haus kümmerte, neue Sachen anschaffte und neue Dinge in Angriff nahm. Jetzt, da Annabelle im Haus war, stand die Zeit niemals still, und es fiel ihm schwer, in der Vergangenheit zu verweilen.

Henry, der noch nie in seinem Leben eine Kreuzfahrt gemacht hatte, war Annabelle zum ersten Mal in einem der langen, leeren Korridore des Schiffes begegnet, auf dem Kate eine Reise für ihn gebucht hatte. Er war gerade auf der Suche nach seiner Kabine gewesen, als er Annabelle sah. Sie hatte diese Perfektion und Raffinesse an sich, wie sie nur Städterinnen zu eigen ist. Sie hatte mit ihrem langen, rosa lackierten Fingernagel auf die Kabinennummer getippt, die auf seiner Bordkarte aufgedruckt war, dann hatte sie ihren schlanken Finger ausgestreckt und auf das Schild an der Wand gezeigt. An ihren Handgelenken hatten kleine, glänzende Goldamulette geklimpert. Ein hellblauer Lidschatten hatte ihre großen, unschuldigen Augen betont. Auf ihren hübschen, geschminkten Lippen hatte ein freundliches Lächeln gelegen, und im Ausschnitt ihrer feinen weißen Bluse hatte ein Hauch von weißer Spitze geblitzt. Henry war noch nie einer Frau begegnet, die so elegant war. Ihr Parfum hatte, noch lange nachdem sie gegangen war, in der Luft gehangen. Als Henry seine Sachen ausgepackt und seine Kabine wieder verlassen hatte, hatte er sich auf die Suche nach Annabelle gemacht, so fasziniert war er von ihr.

Annabelle sah jetzt von dem Stuhl, auf dem sie barfüßig stand, zu ihm hinunter und schüttelte den Kopf.

»Ich weiß wirklich nicht, wie Kate auf die Idee kommt, dass wir für sie und ihre Tochter in diesem Haus noch Platz haben.«

»Wir müssen es irgendwie hinkriegen. Abgesehen davon glaube ich, dass es sowieso nur für kurze Zeit ist«, versuchte Henry sie zu beruhigen. »Sie hat Will gesagt, dass sie vielleicht in der Stadt ein Büro mieten will. Er hat ihr allerdings vorgeschlagen, dass sie sich ihr Büro auf dem Dachboden einrichten könnte.«

»Auf dem Dachboden! Ach, Henry, das kann er doch nicht ernst meinen.«

Henry war von dem Vorschlag seines Sohnes genauso wenig begeistert. Er war kurz vor Laneys Tod das letzte Mal dort oben gewesen und wollte seine Erinnerungen auf keinen Fall wieder auffrischen, indem er dort hinaufstieg.

Er hörte gerade im Radio, dass die Viehpreise stiegen und dass mit noch trockenerem Wetter zu rechnen sei. Vielleicht war jetzt ein günstiger Zeitpunkt, die Ochsen zu verkaufen. Vor dem Winter Ballast abzuwerfen. Annabelle zupfte an den Vorhängen herum und schimpfte. Henry warf einen Blick zu ihr hinauf.

Er erinnerte sich daran, wie Laney hier in ebendieser Küche gesessen und die Vorhänge genäht hatte. Den Kopf über ihre Arbeit gebeugt, während ihr langes dunkles Haar über ihre Schultern nach vorn gefallen war, so dass ihr blasser Nacken zu sehen gewesen war. Er hatte ihre glatte Haut dort berührt, und sie hatte zu ihm hochgesehen und gelächelt.

Henry sah Annabelle jetzt dabei zu, wie sie die alten Vorhänge achtlos auf den Boden warf. Dann nahm sie die Plastikverpackung mit den fertig konfektionierten Spitzengardinen und riss sie auf. Sie nahm die Gardinen aus der Verpackung und schüttelte den duftigen Stoff auseinander.

»Amy muss für ihre Prüfungen lernen. Also kann sie unmöglich aus Kates altem Zimmer ausziehen. Und da Aden jetzt auch wieder öfter zu Hause ist, werden wir hier aus allen Nähten platzen!«

Henry, der den Kopf schief gelegt hatte, um sein Interesse zu signalisieren, nickte stirnrunzelnd. Im Radio würde als Nächstes die Langzeitwettervorhersage kommen, außerdem wäre auch Will bald zum Mittagessen hier. Dann würde er zusammen mit ihm entscheiden, ob er die Ochsen verkaufen sollte. Sie mussten außerdem darüber sprechen, was sie mit Kate und ihrem Kind machen würden. Annabelle hatte Recht. Länger als ein paar Tage konnten sie die beiden nicht unterbringen. Jetzt, da er wusste, dass er seine Tochter schon bald wiedersehen würde, spürte er einerseits eine nervöse Vorfreude, andererseits war da immer noch diese Bitterkeit. Eine Art schwelender Zorn, der ihn in den vergangenen Jahren von Kate ferngehalten hatte. Es war dies ein Zorn, hinter dem er seine Schuldgefühle verstecken konnte. Er machte es ihm leichter, sich vor sich selbst dafür zu rechtfertigen, dass er keinen Kontakt zu ihr hatte. Wie in einer Endlosschleife sagte er im Geiste immer wieder vor sich hin, dass sie es gewesen war, die ihn nicht mehr in ihrem Leben haben wollte. Sie war jetzt eine erwachsene Frau. Sie hatte sich entschieden zu gehen. Sie hatte das Kind von ihm ferngehalten.

Annabelle wedelte mit der Spitzengardine in seine Richtung.

»Außerdem ist dieses Haus in keiner Weise kindersicher. Soll ich mich wirklich um eine Dreijährige kümmern? Man kann von mir doch nicht erwarten, dass ich mich um die Kinder anderer Leute kümmere! Ich habe meine eigenen Kinder großgezogen, und ich denke, das ist genug.«

»Kate erwartet von dir bestimmt nicht, dass du ständig auf das Kind aufpasst, da bin ich mir sicher«, sagte Henry.

Annabelle ließ sich jedoch nicht beruhigen. »Was ist, wenn sie in der Stadt keine geeigneten Räumlichkeiten findet? William verstreut seine Unterlagen schon im ganzen Haus! Ach, Henry! Da versuche ich, etwas Ordnung in dieses Haus zu bringen – aber die Arbeit nimmt einfach kein Ende.«

Henry merkte, wie sich ihre Stimme immer mehr nach oben zu schrauben begann, so wie die Triebwerke eines Flugzeugs, das gleich vom Boden abheben wird. Er streckte den Arm aus und schaltete das Radio aus. Dann fuhr er mit der Hand eines ihrer schlanken, sonnengebräunten Beine hinauf, das in einer apricotfarbenen Caprihose steckte, und betrachtete dabei ihre rosa lackierten Zehennägel.

»Es wird schon alles gut werden«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Schließlich gibt es da ja noch die alten Pferdeställe. Wir könnten einen von ihnen für Kate renovieren. Einen Steinmetz beauftragen.«

Annabelles Wangen röteten sich. »Dort wurde in den letzten dreißig Jahren nichts als Heu gelagert, Henry! Das hast du mir selbst gesagt, als ich sie für Bed & Breakfast vorgeschlagen habe. Abgesehen davon dachte ich, dass dies hier zu renovieren Vorrang hätte.«

Seiner Tochter war es wieder einmal gelungen, alles durcheinanderzubringen, dachte Henry. Vor allem Annabelle zu verärgern. Dabei war sie noch nicht einmal zu Hause.

»Das Ganze wird schon irgendwie gehen«, sagte er. »Wir haben uns sicher schon bald daran gewöhnt, dass sie wieder bei uns ist. Es braucht einfach nur ein bisschen Zeit«, sagte er und schlang dabei seine Arme um ihre Beine und hob sie hoch. »Und jetzt hör auf, ständig mit deinem Pfirsichhintern vor meinem Gesicht rumzuwackeln, sonst beiß ich noch irgendwann hinein.«

Annabelle lachte. »Lass mich runter, Henry!«

Er setzte sie auf dem Boden ab und sah sie an. Seine gespielte gute Laune ließ kleine Fältchen in seinen Augenwinkeln erscheinen.

»Vielleicht würde ich sogar eine Koppel verkaufen, damit du deinen Anbau bekommst und wir alle Platz haben.«

Sie streckte sich und küsste ihn auf seine glatt rasierte Wange.

»Ich weiß, dass du das tun würdest. Mein gutaussehender Mann vom Lande.«

Gerade als Henry sich zu ihr hinunterbeugte, um ihren Kuss zu erwidern, kam Will zur Tür herein. Er räusperte sich. Henry ließ Annabelle sofort los. Will nahm den Wasserkessel und schlurfte an ihnen vorbei zum Herd, wobei er die neuen Gardinen nur eines kurzen Blickes würdigte.

»Wie sieht’s auf den hinteren Weiden aus?«, fragte Henry.

Will schüttelte den Kopf.

»Verdammt trocken. Wir müssen die Kühe morgen oder übermorgen von der Weide holen und mit dem Zufüttern anfangen.«

»Dabei könnte Kate dir ja helfen«, sagte Annabelle.

»Ich habe eigentlich gedacht, dass Aden das übernehmen könnte. Kate und ich werden schon genug damit zu tun haben, ihr Büro auf dem Dachboden einzurichten. Wenn wir es geschickt anstellen, bleibt vielleicht sogar genug Platz, dass die beiden dort oben auch schlafen können.«

»Eine Dreijährige soll diese Leiter rauf- und runterklettern? Unmöglich«, sagte Annabelle.

Will sah stumm zu Boden und schloss dann kurz die Augen. Als er wieder aufblickte, lächelte er sie strahlend an.

»Das hier ist noch immer auch Kates Zuhause. Wir müssen also einen Weg finden, nicht wahr?« Er stellte diese Frage in heiterem Ton und mit einem überaus freundlichen Gesicht. Dennoch hingen seine Worte schwer zwischen ihnen. Er sah, wie sein Vater nervös wurde. Will wusste, dass sein Vater von Schuldgefühlen geradezu zerfressen wurde. Schuldgefühle, weil er seine Tochter im Stich gelassen hatte, als sie seine Hilfe und seinen Beistand am nötigsten gebraucht hatte. Scham darüber, weil er, was ihre Schwangerschaft anging, einfach den Kopf in den Sand gesteckt hatte, anstatt sofort aufs Festland zu fahren und sie und ihr Baby nach Hause zu holen. Will wusste, dass sein Vater all diese Dinge tief in seinem Inneren vergraben hatte und niemals darüber sprechen würde.

»Will jemand eine Tasse Kaffee?«, fragte er und griff dabei nach den Bechern, die unter dem Geschirrschrank an kleinen metallenen Haken hingen. In diesem Moment kam Amy ins Zimmer. Sie hatte Knöpfe in den Ohren, deren Kabel in einer ihrer Hosentaschen verschwanden. Die Musik, die aus dem iPod kam, klang blechern. Amy starrte durch ihre eckige, schwarz gerahmte Brille mürrisch die durchgeweichten Sandwiches auf dem Tisch an. Die Abendsonne, die durch das Fenster fiel, lag hell auf ihren kurzen, stacheligen Haaren mit den gefärbten roten und orangefarbenen Streifen.

»Hallo, Schatz«, sagte Annabelle. »Wie läuft es mit dem Lernen?«

Amy verzog ihr Gesicht, was offensichtlich »einigermaßen« bedeuten sollte.

»Kaffee, Amy?«, fragte Will und hielt einen Becher hoch.

Sie schüttelte den Kopf, nahm sich einen Apfel und verschwand dann wortlos wieder aus der Küche. Will sah ihr nachdenklich hinterher, dann löffelte er löslichen Kaffee in eine Tasse.

»Ich könnte später deine Hilfe gebrauchen, Dad«, sagte er. »Ich muss oben auf dem Dachboden ein paar von den schwereren Sachen umstellen.«

»Nimm doch die Sackkarre. Die steht im Schuppen«, sagte Henry.

»Gut«, sagte Will. Er setzte sich, den Becher in der Hand, schwerfällig an den Küchentisch und rührte dann einige Zeit schweigend in seinem Kaffee. Er konnte es gar nicht erwarten, mit Kate zusammen die Koppeln an der Küste abzureiten und mit ihr seine Pläne für die Farm zu besprechen. Pläne, über die sich schon seine Mutter und sein Vater unterhalten hatten, bis Laney krank geworden war. Entwürfe für eine Zukunft, die jetzt im Dachgeschoss vor sich hin schlummerten. Will war gerade von dort oben heruntergekommen. Das Dachgeschoss verlief über die gesamte Länge des ursprünglichen Farmhauses und schien eine ganz eigene Persönlichkeit zu besitzen. Es brummte mürrisch, wenn die Sonne allzu heiß vom Himmel brannte, oder knackte ärgerlich, wenn der Frost das Blechdach in seinen eisigen Griff nahm. Manchmal, vor allem bei stürmischem Wetter, war es dort oben ziemlich laut und ungemütlich. An anderen Tagen herrschte eine geradezu feierliche Stille, als würde der Raum über das, was er beherbergte, nachsinnen – die Samen, die Träume ihrer Mutter.

Laney hatte Kate und Will oft mit hinaufgenommen, damit sie dort spielen konnten und sicher auch, damit sie irgendwann einmal die landwirtschaftlichen Visionen ihrer Mutter teilten. Es war ihr wichtig gewesen, dass ihre Kinder so viel wie möglich über die Vergangenheit der Familie erfuhren. Die Vergangenheit, die dort, akribisch katalogisiert und aufbewahrt wurde und die ihnen den Weg in die Zukunft weisen sollte. Manchmal war Laney auch an Regentagen mit ihnen hinaufgestiegen, damit sie dem Trommeln des Regens auf dem Dach lauschen konnten. Dann hatte sie ihnen stets erklärt, dass der Regen klang, als würde Gott Nägel vom Himmel herabschleudern. Sie hatten auf dem alten Perserteppich gelegen und zu der nackten Glühbirne hinaufgesehen, die an einem Kabel von der Decke herabhing. Bei dem gewaltigen Krach, den der Regen machte, hatten sie kaum noch ihr eigenes Wort verstanden. Sie hatten es genossen, sich auf dem warmen, trockenen Dachboden aufzuhalten, während es draußen in Strömen goss, und hatten sich dabei über die banalsten Dinge wie zum Beispiel Wills wackelnde Zehen in seinen Socken vor Lachen geradezu ausgeschüttet. Über den wild zusammengewürfelten Stapeln verschiedenster Dinge befand sich ein kleines Fenster mit einer Scheibe aus dicken, ungleichmäßigen Glasquadraten, durch das man einen Blick auf das verzerrte Meer werfen konnte. Es hatte den Anschein gehabt, als würden die schweren hölzernen Samenschränke, deren Schubladen ihre Großmutter mit ihrer ordentlichen Handschrift sorgfältig beschriftet hatte, ihnen und ihrem fröhlichen Treiben lächelnd zusehen. Dies alles waren Erinnerungen, die Will auch heute noch begleiteten. Er wünschte sich nichts mehr, als dass Kate bald wieder hier wohnen würde, damit er diese Erinnerungen mit ihr teilen und auf Bronty eine Zukunft aufbauen konnte. Er kippte seinen Kaffee hinunter und ging nach draußen, um die Sackkarre aus dem Schuppen zu holen.