Kapitel 20

Die Strahlen der Morgensonne fielen durch die kleinen quadratischen Fensterscheiben des Häuschens und ergossen sich wie verschütteter Honig über den Küchentisch. Dort saß Nell, den Rücken zur Sonne, und schaufelte sich Porridge mit Rosinen in den Mund. Sie hielt dabei mit ihrer kleinen Faust einen gelben Plastiklöffel umklammert, auf dessen Stielende ein Bild von Pooh, dem Bären, zu sehen war. Im Wohnzimmer döste Sheila, auf einem Schaffell entspannt auf der Seite liegend, neben den Resten des Kaminfeuers vom Abend zuvor. Ihr Atem war leise und gleichmäßig. Im Hintergrund plätscherte ABC-Radio leise vor sich hin.

Kate warf Nell noch einen kurzen Blick zu, bevor sie in ihr Büro hinüberging, in dem sich die Arbeit stapelte. Kate trug ihre Dienstkleidung, die aus einer ordentlichen, marineblauen Jeans und einem blau gestreiften, gebügelten Hemd bestand. Nur der breite, geflochtene Ledergürtel mit dem komplizierten Muster, den sie um ihre Taille trug, verriet das Cowgirl in ihr.

Sie hatte ihre Kleidung mit Sorgfalt ausgewählt, denn heute war nicht einfach irgendein Arbeitstag. Heute würde sie zur Farm der Familie McDonnell hinausfahren. Als sie sich im Spiegel betrachtet und Rouge auf ihre Wangenknochen aufgetragen hatte, hatte sie versucht sich einzureden, dass sie sich keineswegs deshalb schminkte, weil sie Nick gefallen wollte. Nein, sie tat dies ausschließlich zu ihrem Schutz, damit er nicht in ihrem Gesicht lesen konnte wie in einem offenen Buch. Aber sie sollte es mit dem Make-up auch nicht übertreiben. Möglicherweise war ja Felicity da. Sie würde sie sicher aufs Genaueste in Augenschein nehmen. Also hatte Kate das Rouge wieder weggewischt, und anstatt des roten Lippenstifts farblosen Gloss aufgelegt.

Kate warf einen Blick auf ihre Uhr. Bis zu ihrem Termin bei den McDonnells blieben ihr noch einige Stunden Zeit. Sie war an diesem Morgen besonders früh aufgewacht, sogar noch vor Nell, und hatte wohl deshalb jetzt auch das Gefühl, bereits einen ganzen langen Arbeitstag hinter sich gebracht zu haben. Sie litt unter chronischem Schlafmangel, und es war im Grunde nur die Anspannung, die sie auf den Beinen hielt.

Kate hatte mehrere Wochen gebraucht, um sich an die Geräusche zu gewöhnen, die das kleine Häuschen jede Nacht von sich gab, wenn der kalte Wind des Winters das Dach und die Bodendielen ächzen ließ. Anfangs hatte sie noch das Licht im Flur brennen lassen, damit sie nicht in der Dunkelheit nach den ihr noch unvertrauten Schaltern oder Türklinken suchen musste.

Jetzt jedoch neigte sich der Winter langsam seinem Ende zu. Das Frühjahr kam. Der Sonnenschein, der jetzt in ihr Büro fiel, ließ es hell und einladend wirken. Die Ordner mit den Unterlagen ihrer Kunden standen ordentlich aufgereiht in den Regalen. Ihr Wohnzimmer war inzwischen ebenfalls gemütlich eingerichtet. Eine kleine Couch und ein niedriger Couchtisch aus Holz, Nells Sitzsack und ein großer Korb mit ihrem Spielzeug standen auf einem fröhlich-bunten Teppich. Dazu gesellte sich Janies Auswahl an geblümten, karierten und bunt gestreiften Stoffen. All das zusammen verlieh dem Zimmer eine überaus wohnliche Atmosphäre.

Wieder im Büro, ließ Kate sich auf ihren Stuhl fallen und nahm das Foto ihrer Mutter in die Hand, das auf dem großen Schreibtisch neben dem von Will stand. Sie brauchte Laneys Rat. Sie wünschte sich so sehr, dass ihre Mutter mit ihr reden könnte. Dass sie ihr sagte: »Erzähl Nick das mit Nell. Heute. Und bring Nell nach Hause. Bring sie nach Bronty zurück, denn dort gehört sie hin.« Aber ihre Mutter schwieg. Ihr Blick sprach nur von Traurigkeit und Verlust.

»Mama«, sagte Kate laut. Das Schweigen, das dieses Wort hinterließ, tat unendlich weh. Während vieler schlafloser Nächte in ihrem kleinen Häuschen hatte sie den Schatten zugesehen, die an der Decke ihres Schlafzimmers tanzten, und auf ihre Mutter gewartet. Wenn die Dunkelheit sich dann in jene grauen Wolkenschleier aufzulösen begann, die vor dem Sonnenaufgang den Himmel überzogen und unsichtbare Vögel zu singen anfingen, wurden Kates Gedanken klar. Es war, als hätte ihre Mutter ihr schon die ganze Zeit etwas ins Ohr geflüstert.

Allmählich wurde ihr bewusst, dass sie, wenn sie ihr gesamtes Fachwissen und ihre gesamte Energie in ein finanzielles Konzept für Bronty steckte, eine akzeptable Lösung finden könnte. Wenn sie dieses dann ihrem Vater vorlegte, würde er vielleicht doch einsehen, dass auf seiner Farm für sie alle Platz war. Wenn sie die Ratschläge, die sie ihren Kunden in Bezug auf »Familienverhältnisse« gab, für sich selbst übernahm, konnte sie vielleicht eine Art Waffenstillstand mit Annabelle und ihren Kindern aushandeln. Sie konnten gemeinsam für die Farm arbeiten, das schloss auch das altmodische Geschäft mit Sämereien ein. Die Pläne, die sie und Will für ihren Samenhandel geschmiedet hatten, begannen langsam Form anzunehmen. In jeder einzelnen ihrer schlaflosen Nächte hatte Kate sich vorgestellt, wie sie die Familie Webster auf professionelle Art und Weise beriet. All das Fachwissen, das sie auf der Universität, auf Maureens und Tonys Farm und anschließend in ihrem Job erworben hatte, wartete nur darauf, angewendet zu werden. Wenn sich in ihrem Kopf Ideen und Strategien zu formen begannen, war sie stets aus dem Bett gesprungen und ins Büro gelaufen, um ihren Laptop zu holen. Dann war sie wieder unter ihre warmen Decken geschlüpft. Während der blaue Schein ihres Computers ihr Gesicht beleuchtet hatte, hatte sie ihre Ideen in einem Dokument zusammengefasst. Im Laufe der Zeit war daraus ein ganzer Ordner von Plänen, Statistiken und Entwürfen geworden.

An diesem Morgen lochte sie ein frisch ausgedrucktes Blatt mit der Überschrift Bronty: Ein Gesamtplan für Familie und Farm, und heftet es dann in einem Aktenordner ab. Sie strich lächelnd mit der Hand über das Papier. Ihr Vater könnte nicht ignorieren, was in diesem stetig wachsenden Dokument stand. Darin lebte Will weiter. Es beschrieb seine Zukunft. Sie konnte sie noch immer Realität werden lassen. Ihm und ihrer Mutter zuliebe. Allein schon die Möglichkeit dazu löste ein Gefühl prickelnder Aufregung in Kate aus.

»Mama!«, schallte plötzlich Nells Stimme aus der Küche.

»Alles in Ordnung, Schatz? Ich komme gleich.« Kate stand widerwillig von ihrem Schreibtisch auf. Die Fertigstellung ihrer Pläne musste bis morgen warten. Sie musste Nell noch zu Janie hinüberbringen, bevor sie zu den McDonnells fuhr. Die Hochstimmung, in der sie sich befunden hatte, als sie an den Plänen für Bronty gearbeitet hatte, verflog, als sie jetzt daran dachte, dass sie Nick sehen würde. Sie würde es ihm heute sagen – sie würde ihm heute von Nell erzählen.


Als Kate auf dem Weg nach Rutherglen über die ihr so vertraute Anhöhe fuhr, drosselte sie unwillkürlich das Tempo. Vor ihr erstreckte sich die blaue See. Die von der Dürre gezeichneten Weiden von Bronty warteten sehnsüchtig auf die Regenfälle des Frühlings.

Als Kate einen Blick auf die erste Koppel an der Grenze hinüberwarf, bemerkte sie das grüne Kapkraut, das bereits einen großen Teil der Schafwiesen erobert hatte. Sie spürte, wie eine tiefe Enttäuschung von ihr Besitz ergriff. Wenn sie nur stark genug gewesen wäre, um weiter auf Bronty zu leben. Dann hätte sie etwas dagegen unternehmen können. Erst jetzt fiel ihr auch auf, dass die Zäune an mehreren Stellen nur noch Stückwerk waren. Einige Abschnitte waren zwar brandneu, andere hingegen hatten schiefe Pfosten und die Drähte hingen durch. Sie bemerkte, dass der Busch auf dem Hügel nur zum Teil vom Vieh durch einen Zaun getrennt war – ein weiteres unbeendetes Projekt ihres überlasteten Bruders. Sie wusste, dass das Bachbett an einigen Stellen mit jedem Jahr tiefer einsinken würden, wenn es dort keine Pflanzen gab, die mit ihren Wurzeln die Krume festhielten. Sie ahnte jetzt, wie Will sich gefühlt haben musste. Sie konnte seine Frustration darüber, dass derartige Probleme nicht mit einem Schlag zu beseitigen waren, gut nachempfinden. Der Tag hatte einfach nicht genügend Stunden, damit ein Mann und sein Sohn all das in den Griff bekamen. Jedenfalls nicht ohne die Unterstützung ihrer Familie.

In letzter Zeit waren alle finanziellen Reserven nicht in die Farm sondern in das Haus geflossen. Will musste dabei zusehen, wie alles zum Stillstand gekommen war. Kate hatte entsetzliche Schuldgefühle. Sie hatte Will offensichtlich nicht richtig zugehört, geschweige denn war sie nach Hause gekommen, um ihn zu unterstützen. Ihr wurde übel, als sie auf das Meer hinaussah, das hinter den Dünen wogte.

Als sie sich der Zufahrt nach Bronty näherte, trat sie das Gaspedal durch. Sie brachte es einfach nicht über sich, das Haus auch nur anzusehen. Sie würde über die Küstenstraße und dann über die mit Busch bestandenen Hügel zur McDonnell-Farm fahren. Plötzlich fiel ihr noch etwas auf. Ein Mann. Auf einem Motorrad. Er fuhr über die Weide. Er war es. Will. Kate spürte, wie sich Hoffnung in ihr regte. Aber als sie langsamer fuhr, erkannte sie den Motorradfahrer. Es war Aden. Nur Aden.

Kate unterdrückte ihre Tränen, als sie wieder Gas gab. Sie schwor sich, dass sie auf dem Rückweg zu Janies Farm einen anderen Weg nehmen würde. Sie würde die Straßen im Hinterland nehmen. Die Holzfällerwege über die steilen Berge, würde über unzählige Bodenwellen holpern, durch Wälder mit Plantagenholz, die wie dunkle Tunnel wirkten, fahren. Sie würde alles tun, um nicht wieder diesen Schmerz zu empfinden.


»Wie konntest du es wagen, hinter meinem Rücken so etwas zu tun!«

Lance McDonnell stützte sich auf den Küchentisch, die großen Hände zu Fäusten geballt. Seine einst so starken Schultern fielen nach vorn. Sein Gesicht zeigte eine seltsame Mischung aus fleckigem Gelb, Rot und Grau. Er starrte seine Frau böse an. Alice ignorierte ihn jedoch einfach. Sie bückte sich, um einen Orangenkuchen aus dem Ofen zu nehmen.

»Ich verschwinde, dann kannst du diesem Kuchenfritzen vom Ministerium sagen, dass der Termin gestrichen ist.«

Alice stellte den Kuchen mit einem lauten Knall auf den Herd.

»Beruhige dich«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen.

Lance schlurfte zum Telefon hinüber, das an der Wand in der Küche montiert war. Er nahm den Hörer von der Gabel und hielt ihn Alice hin.

»Ruf ihn an.« Er starrte sie mit finsterem Blick an, so als würden sie gleich eine Schießerei austragen.

»Das kann ich nicht«, sagte sie und hielt seinem Blick ohne auch nur mit der Wimper zu zucken stand.

»Warum nicht?«

»Weil ich die Telefonnummer im Ofen verbrannt habe.« Alice ging zum Kühlschrank und riss den Zeitungsausschnitt von der Tür. Die Magnethalter fielen klappernd auf den Boden. Während sie ihren Mann weiter finster ansah, knüllte sie den Zettel zusammen, öffnete die Tür des alten Holzofens und warf den Papierball dann in dessen dunklen, rußigen Schlund.

Lance hatte seine Frau seit seinem Unfall nicht mehr so entschlossen erlebt. Er schloss die Augen und atmete heftig durch die Nase aus.

»Der Doktor hat gesagt, dass du jeden Stress vermeiden sollst«, sagte sie. »Ich sehe aber, dass du wegen der Farm ständig gestresst bist. Was hast du also verdammt noch mal zu verlieren?« Alice stemmte ihre Hände, die noch in ihren Topfhandschuhen steckten, in die Hüften. »Ich sage dir jetzt, was du zu verlieren hast«, fuhr sie fort, »weil es dir nämlich sonst niemand sagt. Du wirst deinen Sohn verlieren. Wenn wir hier nicht schnellstens etwas ändern, wirst du ihn verlieren.«

»Er ist nicht wie Angus. Er wird niemals von hier fortgehen. So was würde er niemals tun.«

»Ich spreche auch nicht davon, dass er von hier weggehen wird«, sagte sie und erhob dabei ihre Stimme. »Du wirst ihn im Herzen verlieren, Lance. Du wirst seine Liebe und seinen Respekt verlieren, wenn du ihn weiter unter Druck setzt.«

Alice hielt inne und wartete auf eine Reaktion, die jedoch ausblieb. Seit dem Unfall hatte ihr Mann sich vollkommen in sich zurückgezogen. Alles war nur noch auf die körperlichen Bedürfnisse konzentriert. Wann die Verbände zu wechseln waren, wann er ein Schmerzmittel bekommen musste, ob das, was er aß, seinen Zustand verschlimmerte. Ob er zum Arzt gebracht werden musste. Wann die nächste Operation anstand. Medizinische Hilfsmittel, praktische Dinge, oberflächliche Gespräche – um Gefühle war es dabei nie gegangen. Lance ließ sich auf einen Stuhl sinken.

»Und wann will dieser dämliche Kerl vom Ministerium kommen? «

»Es ist kein ›Kerl vom Ministerium‹. Das Ganze wird nur zum Teil von der Regierung finanziert. Eigentlich ist es ein Privatunternehmen. Und im Übrigen ist es auch kein Kerl.«

»Was?«

»Es ist eine Sie, kein Er«, sagte Alice und schüttelte dabei den Kuchen aus der Form auf ein Kuchengitter.

»Das wird ja immer besser«, sagte Lance tonlos.

Im Büro sortierte Nick gerade einen Stapel ungeöffneter Post, der auf dem Schreibtisch seines Vater lag. Als er die unzähligen mit Fenstern versehenen Umschläge durchging, fiel ihm ein leuchtend gelber Brief auf, der an ihn persönlich adressiert war. Er riss den Umschlag auf, während er sich noch immer darüber ärgerte, dass seine Mutter ihn erst so kurz zuvor über diesen Termin informiert hatte. Warum hatte sie nicht schon früher etwas gesagt? Nick zog eine steife, gelbe Karte aus dem Umschlag und klappte sie auf. Es war eine Einladung zum diesjährigen Rouseabout Ball.

»Toll«, sagte er missmutig. Wieder etwas, das ihn an Kate erinnerte. Solche Dinge konnte er im Augenblick absolut nicht brauchen. Er warf die Einladung achtlos beiseite, schaltete den Computer ein und wartete darauf, dass er surrend zum Leben erwachte. Über die Tastatur gebeugt, klickte er dann mit der Maus auf die Finanzplanung.

»Mist«, entfuhr es ihm laut, als er sah, dass sein Vater in den letzten vier Monaten keinen einzigen Eintrag gemacht hatte. Er ließ seinen Blick durch das Büro schweifen, betrachtete den überquellenden Papierkorb, die Stapel alter Zeitungen und das heillose Durcheinander von Unterlagen und Aktenordnern. In diesem Moment hörte er Tuff bellen. Nick schob die alte, staubige Gardine ein Stück zur Seite, und sah wie Kate Webster aus einem weißen, neutral wirkenden Dienstwagen stieg.

»Mist, Mist, verdammter Mist! Ausgerechnet Kate!« Er wusste, dass es ihr Job war, Farmer zu beraten. Was er jedoch nicht gewusst hatte, war, dass es genau dieser Job war. Dieser Job, der ihr einen tiefen Einblick in seine gesamte Familie verschaffen würde. Wie hatte seine Mutter das nur tun können? Wie würde Felicity reagieren? Kate Webster – hier in diesem Haus.


Der Duft von frisch gebackenem Kuchen begleitete Kate durch den dunklen Flur, als sie Alice ins Haus folgte. Von außen sah das Farmhaus sehr eindrucksvoll aus, innen wirkte es jedoch einfach nur alt und abgewohnt, dachte Kate. Ihr fiel auf, wie klein Alice in dem geräumigen Haus mit seinen hohen Zimmerdecken wirkte. Nicks Mutter war eine gepflegte, zierliche Frau mit einem Heiligenschein aus blonden Haaren. Nells Haaren. Kate schluckte.

Als sie Alice in die Küche folgte, brauchte Kate einen Moment, bis sie Mr McDonnell auf seinem Stuhl in der Ecke bemerkte. Sie wäre bei seinem Anblick vor Schreck fast zusammengezuckt. Der in sich zusammengesunkene Mann saß reglos wie eine Statue da. Er schien zu einem Teil des Hauses geworden zu sein. Von Schmerzen und von der Zeit zermürbt, sah er sie mit einem müden Blick aus seinen blutunterlaufenen Augen an. Kate war schockiert. Das hier war nicht mehr der Mann, den sie von früher, von den Landwirtschaftsfesten und Kirchenbasaren her in Erinnerung hatte. Jener Mann war viel größer gewesen. Gutaussehend und voller Leben. Und er war wesentlich extrovertierter als die anderen Männer aus der Gegend.

Noch bevor sie Mr McDonnell begrüßen konnte, kam Nick mit einem Aktenordner in die Küche. Es verschlug Kate regelrecht den Atem, als sie Nick in seinem eigenen Zuhause sah. Er trug ausgewaschene Arbeitsjeans und ein hellblaues Arbeitshemd aus festem Drill von RM Williams, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte. Er nickte ihr einen freundlichen Gruß zu, sein Lächeln kam ihr jedoch gezwungen vor.

»Also, Kate«, sagte Alice und rückte ihr einen Stuhl zurecht, »Sie setzen sich am besten neben Lance. Er hat sich schon sehr auf dieses Treffen gefreut. Nicht wahr, Liebling?«

Kate warf einen kurzen Blick zu Lance hinüber. Er machte auf sie nicht den Eindruck, als würde er sich überhaupt noch auf irgendetwas freuen. Sie trat auf ihn zu und streckte ihm ihre Hand entgegen.

»Schön, Sie kennen zu lernen, Mr McDonnell«. Mit ihrer lauten Stimme versuchte sie ihre Nervosität zu überdecken. Lance sah ihre Hand an und gab so etwas wie »hmphh« von sich.

Es war durchaus normal, dass bei einer ersten Besprechung ein oder zwei Mitglieder der Familie skeptisch waren. Daran hatte Kate sich in der Zwischenzeit gewöhnt. Eine so angespannte Atmosphäre wie sie in der Küche von Rutherglen herrschte, hatte sie jedoch noch nie erlebt. Sie versuchte all ihre Energie zu sammeln und setzte ihr strahlendstes Lächeln auf. Dann rückte sie mit ihrem Stuhl zu Lance hinüber. Sie wusste, dass er vor seinem Unfall Hundeprüfer gewesen war, und entschied sich deshalb dafür, auf sicherem Terrain zu beginnen.

»Ich hoffe, es stört sie nicht, Mr McDonnell, aber ich habe eine junge Hündin dabei. Wenn sie zu Hause im Zwinger sitzt, lernt sie nicht viel. Also dachte ich mir, dass es ihr vielleicht ganz guttun würde, wenn sie mich heute begleitet. Ich habe sie im Auto gelassen, damit sie nicht stört. Natürlich habe ich das zuerst mit meiner Chefin geklärt, ob ich einen Hund in einem Wagen der Firma mitnehmen darf und so.« Sie wartete auf eine Reaktion von Lance, aber es war Alice, die das Schweigen überbrückte.

»Ach! Wir sollten sie im Garten anleinen und ihr etwas Wasser bringen! Nick, wärst du so nett und würdest das übernehmen?«

»Nein, nein«, warf Kate schnell ein. »Das ist nicht nötig. Ich habe mit ihr vorhin noch einen Spaziergang gemacht. Außerdem ist sie gerade läufig, daher ist sie im Auto am besten aufgehoben. Die Fenster sind ein Stück heruntergekurbelt, und sie hat eine Decke, auf der sie liegen kann.« Kate warf einen kurzen Blick zu Nick hinüber, während ihre Wangen einen rosa Farbton annahmen. Sie war irritiert, denn sie war es nicht gewöhnt, dass sie in der Gegenwart von Männern so etwas wie Schüchternheit überkam. Sie öffnete den Reißverschluss ihrer Aktentasche und nahm ihren Ordner und einen Stift heraus.

»Ein Hütehund?« Das war jetzt Lances brüchige Stimme.

»Genau«, sagte Kate.

»Kelpie?«

»Ja. Mein Bruder hat sie vom Festland herübergebracht. Guter Stammbaum. Sie ist aus der Linie von O’Connells Bagallah-Kelpies.«

»Ah! Ich bin beeindruckt. Arbeitet sie gut?«

»Sie ist durchaus vielversprechend. Das Komische ist …« Kate beugte sich zu Lance hinüber und senkte dabei ihre Stimme. »Sie heißt BH. Will hat sie so genannt. Sie wissen schon, sie zusammenhalten und in die richtige Richtung dirigieren. BH eben.«

Lance zog seine Mundwinkel nach unten und begann plötzlich, schallend zu lachen. In diesem Moment wusste Kate, dass sie ihn für sich gewonnen hatte. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und hatte zum ersten Mal ein Leuchten in den Augen.

»Nick hat auch einen verdammt guten Hütehund«, sagte Lance. »Pandara-Blutlinien. Sie sollten sich überlegen, die beiden einmal zusammenzubringen. Vielleicht kommt dabei ein guter Wurf Welpen raus.«

Kate zog die Augenbrauen hoch, räusperte sich und starrte auf ihr Notizbuch. Sie wagte nicht, Nick anzusehen.

»Ja. Großartige Idee.« Ihre Stimme bebte.

»Was sagst du dazu, mein Sohn?« Lance warf Nick einen kurzen Blick zu. »Du könntest sie doch aus dem Auto lassen und die beiden jetzt sofort zusammenbringen.«

Nick starrte seine Füße an und vergrub seine Hände in den Taschen. Kate war sich sicher, dass er krampfhaft versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken.

»Ja. Gute Idee, Dad.« Dann sah er Kate an und zwinkerte ihr zu, woraufhin Kate sofort wieder dieses elektrisierende Kribbeln im Bauch spürte. Konzentrier dich, rief sie sich zur Ordnung. Konzentrier dich.

Lance veränderte ein wenig seine Sitzposition, und Kate sah, dass er dabei vor Schmerz zusammenzuckte. Er drehte seinen Kopf und betrachtete Kates Profil.

»Habe ich das vorhin richtig verstanden? Sie sind Henry Websters Tochter aus Bronty unten an der Küste? Ist das richtig?«

»Die bin ich.«

»Also, ich hab Henry jetzt schon ziemlich lange nicht mehr gesehen … Damals, bei den Young Farmers’ Tanzabenden, da hat er immer ganz schön aufgedreht. Aber das war vor vielen Jahren. Die Tanzabende waren ein bisschen wie ein B&S heute, nur nicht ganz so wild, nach allem, was man so hört. Angus, unser Ältester, hat kein B&S ausgelassen, aber Nick hier geht nur selten einmal hin. Stimmt’s Nick?«

Nick zuckte mit den Schultern, während Kate spürte, wie ihre Wangen zu prickeln begannen. Sie konnte einfach nicht glauben, dass sie gerade ungezwungenen Smalltalk mit Nells Großvater machte. Das alles kam ihr so merkwürdig, so irreal vor. Sie nickte höflich, während sie Lance zuhörte. Äußerlich ganz ruhig, innerlich von Panik erfüllt.

»Manchmal habe ich auch Ihre Mutter auf einem dieser Abende gesehen«, sagte Lance. »Sie hatte so etwas reizend Irisches an sich. Ein bisschen so wie Sie. Es tut mir leid, dass sie nicht mehr unter uns ist.« Seine Stimme verlor sich. »Und das mit Ihrem Bruder. Das tut mir auch leid.«

»Danke.«

Alice, die merkte, dass sich das Gespräch in eine Richtung entwickelte, die es lieber nicht nehmen sollte, stellte jetzt eine große Servierplatte mit Kuchen, Keksen und Scones mitten auf den Tisch.

»Es ist schon erstaunlich, wie munter unser Lance beim Anblick eines hübschen Mädchens wird«, sagte Alice. »Das war schon immer so. Und es wird immer so sein. Übrigens hat Ihre Mutter ihn damals genauso verzaubert. Eine Tasse Tee?«

Kate nickte. »Ja, bitte.«

»Sie gehören aber nicht zu denen, die ständig auf Diät sind, oder?«, sagte Alice und betrachtete Kates runde Kurven. »Wenn Sie mögen, dann nehmen Sie sich von allem etwas. Nicks Felicity sagt ständig, dass sie auf ihre Figur aufpassen muss, obwohl mir nicht ganz klar ist, warum. An ihr ist ohnehin nichts dran. Sie hat gerade Schicht, ich wette meinen Hut, dass es bei ihr zum Mittagessen nur ein paar Selleriestangen gibt.« Sie schob Kate den Teller zu.

»Danke. Ich bin so frei.« Kate nahm sich ein Scone und ein Stück Kuchen, während Alice eine Kanne mit Tee auf den Tisch stellte.

»Das gefällt mir schon viel besser«, sagte Alice. »Es ist schön, ein gesundes junges Mädchen zu sehen, dem mein Kuchen schmeckt.«

Nick wandte den Blick ab, offensichtlich hatte ihn seine Mutter in Verlegenheit gebracht.

Kate zog den Bauch ein und setzte sich aufrecht hin. Sie fühlte sich irgendwie gedemütigt. Um ihr Unbehagen zu verbergen, sagte sie forsch: »Wenn ich noch ein paar Monate länger für diese Firma arbeite, werde ich irgendwann so rund wie ein Fass.« Sie beugte sich zu Lance hinüber. »Sie wissen ja, wie diese Bürotypen sind. Mein Dad nennt sie immer Kuchenfritzen.«

Sie sah wieder ein Licht in Lances Augen aufleuchten, und wieder lachte er. Diesmal war es jedoch ein leises Kichern. Nick stand inzwischen wartend in der Tür. Er runzelte die Stirn. Kate war verwirrt. Auf der Landwirtschaftsschau hatte er sie ständig angelächelt und mit ihr geflirtet, und gerade eben noch hatte er ihr verschwörerisch zugezwinkert. Jetzt war er mit einem Schlag wieder verschlossen und unnahbar. Unter den gegebenen Umständen würde sich ohnehin keine Gelegenheit für ein privates Gespräch ergeben. Sie könnte ihm also wieder nicht sagen, dass Nell seine Tochter war. Sie war erleichtert und entspannte sich ein wenig.

»Also«, sagte sie, schob den Teller dabei erst einmal zur Seite und griff nach dem Ordner. »Ich möchte nicht Ihren ganzen Tag in Anspruch nehmen. Fangen wir an?« Sie zog zuerst ein paar Broschüren aus dem Ordner. Solange sie Nick nicht ansah, war alles in bester Ordnung, sagte sie sich. Konzentrier dich auf deinen Job, und häng dich richtig rein. Sei professionell, aber sei es mit Leidenschaft. Sie begann ihr Konzept zu erläutern.


Zweieinhalb Stunden später war es Kate gelungen, die Energie im Raum zu verändern. Lance klopfte ihr auf die Schulter und lachte. Alice saß neben ihrem Mann und lehnte sich an ihn. Ihre blauen Augen leuchteten vor Begeisterung. Nick saß am anderen Ende des Tisches, noch immer ein klein wenig auf Distanz zu ihr, aber Kate wusste, dass er an dem, was ihre Firma zu bieten hatte, durchaus interessiert war. Als sie zusammenzupacken begann, warf sie einen kurzen Blick auf ihre Uhr.

»Haben Sie noch etwas Zeit?«, fragte Lance. »Sie könnten doch Ihre Hündin mit Nicks Rüden zusammenlassen. Nick könnte Ihnen noch die Stelle zeigen, wo seiner Meinung nach der Damm angelegt werden sollte.«

Als Kate Nick jetzt ansah, wurde sie wieder von Panik ergriffen.

»Das geht nicht«, sagte Nick schroff. »Ich habe den Bagger draußen. Ich will die Rohre an der Brücke über den Bach reparieren, solange es trocken ist. Mit einem Fahrzeug kommt man da jetzt nicht rüber.«

»Sie können doch reiten, nicht wahr? Da ich ihre Mutter gekannt habe, bin ich mir sicher, dass Sie eine gute Reiterin sind«, sagte Lance zu Kate.

»Ja, aber …«

»Es hat keinen Sinn, wenn Sie das in Angriff nehmen, was wir gerade besprochen haben, ohne etwas von der Farm gesehen zu haben«, beharrte Lance. »Nick gibt ihnen eines von Felicitys Pferden. Sie hat bestimmt nichts dagegen. Sie hat in dieser Woche viel zu tun und ist deshalb sicher froh, wenn sie bewegt werden.«

Nick wollte noch einmal Einspruch erheben, aber Alice ging zu ihm hinüber.

»Nun mach schon«, drängte sie. Offensichtlich wollte sie nicht, dass der Zauber, den Kate bewirkt hatte, gebrochen wurde.

Nick sah seine Mutter an. Das Zimmer hatte sich irgendwie verändert. Es war, als könnten sie plötzlich alle über die tagtägliche Plackerei, das Anlegen von Verbänden, das Wechseln der Stomabeutel, die Tabletten und die Schmerzen hinaussehen. Sie hatten plötzlich wieder eine Zukunft. Nick sah Kate an. Sein Blick war direkt, aber weich, als er sie fragte: »Bist du bereit?«

Wie hätte sie da noch nein sagen können? Sie nickte. Aber schon der Gedanke, mit Nick allein zu sein, machte sie mehr als nervös. Jetzt also war es so weit. Sie folgte ihm zögernd, als er nach draußen ging.