Kapitel 31

Hobart glänzte im Sonnenschein, als Kate und Nell vom Ostufer her in die Stadt hineinfuhren. Unzählige Jachten mit ihren weißen, dreieckigen Segeln flogen geradezu über das blaue Wasser des Derwent. Sie drängten sich wie Schwärme von Seemöwen eng zusammen und lenkten die Aufmerksamkeit der Autofahrer auf der Brücke auf sich. Kate fuhr langsamer, um sich in den Verkehrsstrom einzufädeln. Während sie mit ihrem völlig verdreckten Pick-up auf das Stadtzentrum von Hobart zufuhr, machte sie Nell immer wieder auf die vielen Dinge aufmerksam, die es hier zu sehen gab. An den steilen Berghängen über dem Flussufer standen geduckte graue Gebäude, die von Busch umgeben waren. Über alledem ragte majestätisch der Mount Wellington auf. Er sah aus wie ein riesiger Löwe, der im Sonnenschein vor sich hin döste.

Kate erinnerte sich daran, wie sie früher mit ihrer Mutter und Will zur Regatta, zur Royal Hobart Show oder zum Weihnachtseinkauf in die Stadt gefahren war. Sie konnte sich jedoch nicht entsinnen, dass ihr Vater sie bei diesen Ausflügen jemals begleitet hätte. Bis jetzt war Kate immer davon ausgegangen, dass ihn das Ganze einfach nicht interessiert hatte. Aber vielleicht war es ja die viele Arbeit auf der Farm gewesen – vor allem in den Sommermonaten –, die ihn an Haus und Hof gebunden hatte. Als Kate die Schönheit der Hafenstadt in sich aufnahm, fragte sie sich, ob er, wie viele andere Farmer auch, einfach keine Möglichkeit gesehen hatte, sich einen Tag freizunehmen. Aber wenn er sich damals immer dafür entschieden hatte, der Farm Vorrang vor seinen Kindern zu geben, warum verkaufte er das Land jetzt? Kate überkam plötzlich eine große Traurigkeit. Sie begriff mit einem Mal, wie schwer es für ihn gewesen sein musste, Laney zu verlieren, jetzt, da sie wusste, was es hieß, jemanden grenzenlos zu lieben. Sie spürte Nick jede Minute in sich, und allein schon der Gedanke, dass sie vielleicht nie die Chance bekommen würde, mit ihm ihr Leben zu verbringen, ließ sie sich völlig leer fühlen. Ausgehöhlt.

Kate erkannte jetzt, dass Annabelle kein Ersatz für Laney war. Laney war »die Eine« für ihren Vater gewesen, seine Seelenverwandte. Annabelle konnte ihr in keiner Beziehung das Wasser reichen. Auch wenn das ihrem Vater nicht bewusst war, Kate war sich jetzt absolut sicher, dass Annabelle nichts anderes als ein Lückenbüßer war. Ein verzweifelter Griff nach dem Glück. Ihr Vater zog Annabelle gar nicht vor, erkannte Kate plötzlich. Er versuchte nichts anderes, als einen Verlust zu überleben, der so groß war, dass er alles andere in seinem Leben überschattete. Ein Verlust, an dem er zerbrechen würde, wenn er sich nicht ganz bewusst dafür entschied, nicht zurück, sondern nur nach vorn zu blicken. Sie selbst wie auch die Farm erinnerten ihn auf unerträglich schmerzvolle Weise an all das, was er verloren hatte. Ohne seine Familie hatte die Farm für Henry Webster keinen Sinn mehr. Sie quälte ihn nur noch mit bitteren Erinnerungen. Er hatte seine Frau verloren, seinen Sohn, und durch eine Reihe von Umständen, für die vor allem sie selbst verantwortlich war, hatte er auch seine Tochter verloren. Sie erinnerte sich plötzlich wieder daran, wie er zusammen mit Nell bei der Schafschur gelacht hatte. Weil sie, Kate, so starrsinnig war, hatte er nun auch noch seine Enkeltochter verloren. Sie dachte daran, dass er in den vergangenen Wochen immer wieder versucht hatte, sie anzurufen. Sie hatte ihn immer wieder abgewiesen. Voller Entsetzen erkannte sie nun, dass allein sie für die jetzige Situation verantwortlich war. Der Verkauf der Farm war das Einzige, was Henry noch blieb. Ein purer Akt der Verzweiflung. Die Tat eines zutiefst gekränkten Mannes.

Völlig in Gedanken versunken, fuhr Kate an den üppig grünen Gärten des Government House und dann an den jungen schwarzweißen Kühen vorbei, die auf ihren Weiden am Rande des Geschäftszentrums grasten. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Bis zu ihrem Termin mit Colin in der Bank blieben ihr noch zehn Minuten. Sie betätigte den Blinker und folgte dem grünen Schild, auf dem »City« stand. Sie fluchte leise und wechselte dann wieder den Fahrstreifen. Was tue ich hier eigentlich? Als ob ein Banker ihr bescheidenes Einkommen und die zweihunderttausend aus der Lebensversicherung als ernsthafte Grundlage für einen Kauf von Bronty ansehen würde. Was war das nur für ein unsäglich naiver Gedanke. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel und sah Nell an. Ihre Tochter hatte die ganze Zeit aus dem Fenster zum Dervent hinübergesehen und die Jachten und Boote beobachtet. Kate hielt einfach am Straßenrand an. Sie ging die Liste ihres Handys durch, bis sie Colins Nummer gefunden hatte, dann drückte sie die Wahltaste.

»Colin?«, sagte sie, als sie seine Stimme hörte. »Entschuldige bitte, dass ich dich schon wieder störe, aber könnten wir vielleicht unseren Termin streichen?«

»Sicher«, antwortete er ein wenig verwirrt. »Sollen wir gleich einen anderen vereinbaren?«

»Nein. Ich glaube, das ist nicht nötig. Trotzdem vielen Dank.«


In dem Geschäft roch es moschusartig. Die vielen Vögel, die im hinteren Teil des Ladens in ihren Käfigen piepsten und sangen, machten einen Heidenlärm. Goldfische schwammen stumm in ihren Aquarien umher, orangefarbene und schwarze Kleckse, die sich langsam durch das klare Wasser bewegten. Von den Helmen kleiner Taucher aus Plastik stiegen Blasen auf, während Süßwasserschnecken ihre Saugfüße an das Glas pressten. Kate hatte Nell an der Hand genommen und ging mit ihr an bunten Hundeleinen und Bürsten vorbei durch den Laden.

Sie blieben schließlich vor einer Vitrine stehen, in der ein kunterbunter Haufen noch ganz junger Kätzchen in geschreddertem Zeitungspapier herumtollte. Da war eine kurzhaarige getigerte Katze mit einem frechen weißen Gesicht. Ein rötlich brauner kleiner Kater mit schon stolzer Haltung. Eine Katze, so grau wie ein Tag im Winter und einer dazu passenden Persönlichkeit und eine schildpattfarbene, die gerade ein von heftigem Fauchen begleitetes Duell mit ihrem gleichermaßen gescheckten Geschwisterchen austrug.

»Welches möchtest du haben, Nell?«, fragte Kate. Nells Augen leuchteten vor Begeisterung, als sie die Kätzchen beobachtete. Sie trat aufgeregt von einem Fuß auf den anderen und streckte dabei vor Konzentration die Zunge heraus, als sie angestrengt durch die Scheibe starrte.

»Das da«, sagte sie schließlich und zeigte in die Vitrine.

»Welches?«

»Das müde.«

»Welches meinst du?«, fragte Kate und musterte das Durcheinander von Katzen.

»Den Bordercollie da. Ganz hinten.« Kate folgte Nells Blick. Dort lag, tief in den Zeitungspapierschnitzeln vergraben, ein schwarzweißes Fellknäuel. Es hatte sich so fest zusammengerollt, dass es aussah wie ein Pompon.

»Das ist kein Bordercollie, Nell. Das ist ein Kätzchen.«

»Es ist ein Bordercollie-Kätzchen«, beharrte sie.

»Also gut, Nell.« Obwohl Kate lachte, standen ihr Tränen in den Augen. »Dann nehmen wir also das Bordercollie-Kätzchen.«

Nell sprang vor Freude auf und ab und klammerte sich dann an Kates Bein.

»Danke, Mami! Danke! Ich hab dich lieb!«


Zur Mittagszeit waren auf dem Salamanca Place mit seinen historischen Sandsteingebäuden, deren Fassaden ausgewaschen und wie pockennarbige Haut aussahen, viele Menschen unterwegs. Kate schlängelte sich mit Nell durch die Menge und genoss dabei das tröstliche Gefühl, die kleine warme Hand ihrer Tochter in der ihren zu spüren. Das Kätzchen hatten sie im Wagen zurückgelassen, wo es jetzt zufrieden in seinem Transportkäfig schlief. Kate hatte alle Fenster einen Spalt offen gelassen und den Wagen im Schatten abgestellt. Sie hatte sich vorgenommen, Nell das größte Eis zu kaufen, das sie finden konnte, und dann mit ihr zusammen am Kai spazieren zu gehen, dort, wo die Fischerboote an ihrer Vertäuung sanft auf und ab schaukelten.

Während sie an Cafés vorbeigingen, deren Gäste im Schatten von Sonnenschirmen saßen und sich mit den Speisekarten Luft zufächelten, dachte Kate an ihren Vater und an Nick. Wie fühlten sich die beiden wohl in ebendiesem Moment? Der eine, der den Verlust seines Vaters betrauerte, der andere, der seinen Sohn verloren hatte und seine Tochter, die sich im Zorn von ihm abgewendet hatte. Wenn sie nur genügend Vertrauen zu sich selbst hätte, dann wäre ihr bestimmt bewusst geworden, dass der eine sie ebenso brauchte wie der andere. Auch Nell brauchte sie. Kate schwor sich, dass sie sich so bald wie möglich bei den beiden melden würde, um reinen Tisch zu machen und vielleicht noch einmal von vorn beginnen zu können. Sie wollte die Fehler der Vergangenheit, die sie zweifellos begangen hatte, hinter sich lassen. Heute würde sie erst einmal Nell den schönsten Tag ihres Lebens bescheren.

Kate betrat mit Nell jetzt das dämmrige Innere eines Cafés, das in einem der von Sträflingen errichteten ehemaligen Lagerhäuser eingerichtet worden war. Nach der neuesten Mode gekleidete Städter nippten an ihrer Latte und lasen dabei Zeitung. Kate sah sich nach einem Sitzplatz um. Es gab nur noch zwei freie Metallhocker an einem langen Tisch, der an der gesamten Fensterfront entlanglief und auf dem Stapel von Hochglanzmagazinen lagen. Kate hob Nell auf einen der beiden Hocker, setzte sich selbst auf den anderen und zog ihren Rock zurecht. Dann nahm sie ihr Handy aus der Handtasche und warf einen Blick auf das Display. Keine Nachrichten. Wenn sie nur Nicks Handynummer gehabt hätte. Möglicherweise war er jetzt sogar hier in der Stadt, um die Formalitäten für die Beerdigung seines Vaters zu erledigen. Sie wollte gerade die Nummer von Rutherglen wählen, als ein schlanker, gutaussehender Kellner mit Spitzbart die Karte brachte.

»Darf ich Ihnen schon etwas zu trinken bringen?«, fragte er und musterte dabei die gutaussehende, dunkelhaarige junge Frau in ihrem kurzen Rock und das fröhliche kleine Mädchen, das bereits mit den langen Papiertütchen mit Zucker herumzuspielen begonnen hatte.

»Für mich bitte ein Wasser und für meine Tochter eine Limonade«, sagte Kate. »Und den größten und besten Eisbecher, den Sie haben. Nein. Bringen Sie bitte zwei Eisbecher.«


Später dann saßen Nell und Kate, die leeren Becher vor sich, auf ihren Hockern und seufzten zufrieden.

»Ah! Lecker«, sagte Kate.

»Ah! Lecker!«, ahmte Nell sie nach.

Kate nahm ihre Tasche und schob einen Zwanzigdollarschein unter die Rechnung. »Möchtest du noch ein Glas Wasser haben, bevor wir zu deinem Bordercollie-Kätzchen zurückgehen?« Nell nickte. »Dann bleib hier sitzen, ich komme gleich wieder«, sagte Kate, als sie von dem hohen Hocker hinunterrutschte und zum Wasserspender ging.

Kate wollte gerade zwei Gläser füllen, als sie verblüfft innehielt, denn in ebendiesem Moment betrat Aden, aus dem hellen Licht des Sommertages kommend, das Café. Er trug Skaterhosen, Laufschuhe und ein modisches kurzärmeliges Hemd. Sein Haar war kurz geschnitten und mit Gel in Form gebracht. Er war in Begleitung von Felicity, die neben ihm wie ein scheues, nervöses Reh wirkte. Sie trug ein Sommerkleid aus fließendem weißem Stoff mit dünnen Trägern, die auf der Schulter zu Schleifen gebunden waren. Ihre schlanken Beine und Arme waren sonnengebräunt und glänzten. Ihr glattes blondes Haar fiel ihr offen über die Schultern.

Kate stand wie angewurzelt neben dem Wasserspender und versuchte verzweifelt, mit den Kinoplakaten an der Wand zu verschmelzen. Sie sah, wie Aden seine Hand auf Felicitys Rücken legte und sie in die langgestreckte dunkle Höhle des Cafés hineinführte. Gott im Himmel! Wann hatten die beiden sich denn gefunden?, fragte Kate sich verblüfft. Dann erinnerte sie sich an den Rouseabout. An Aden, der so schick, und an Felicity, die so strahlend ausgesehen hatte. An ihren überstürzten Aufbruch. Kate lächelte, als ihr klar wurde, dass Aden Felicity an diesem Abend »gerettet« haben musste. Wenn Aden jetzt also mit Felicity zusammen war, überlegte sie, dann war es zwischen ihr und Nick tatsächlich aus und vorbei. Kate wartete nicht erst ab, bis die beiden sich an einen Tisch gesetzt hatten. Sie schnappte sich ihre Tasche, hob Nell von ihrem Hocker herunter und verließ das Café. Sie musste unbedingt mit Nick reden. Zuerst einmal musste sie aber mit ihrem Vater sprechen.

Wegen des hellen Sonnenlichts heftig blinzelnd, ging Kate mit schnellen Schritten zu ihrem Pick-up. Nell hüpfte fröhlich neben ihr her. Auch sie wollte möglichst schnell zum Auto zurück, denn dort wartete schließlich ihr Kätzchen auf sie. Kates Gedanken rasten unaufhörlich, seit sie Aden und Felicity gesehen hatte, sie fragte sich immer wieder, was das für sie bedeuten mochte.

Sie waren fast beim Pick-up angekommen, als ihr ein Zeitungsständer vor einem Laden ins Auge fiel. In dem großen weißen Metallständer steckte auch eine Immobilienzeitschrift. Auf deren Titelseite war die weite, mondsichelförmige Bucht von Bronty zu sehen. Außerdem, in einem kleineren Bild am unteren Rand die Ansicht des niedrigen, mit Schindeln verschalten Farmhauses, halb verdeckt von der blühenden weißen Kletterrose und umgeben von seinem üppigen Garten. Die Überschrift verkündete: »Der Traum an der Küste«.

Die kräftige tasmanische Sonne brannte Kate in den Nacken. Sie nahm die Menschen, die an ihr vorbeigingen, nur noch verschwommen wahr. Sie stand da, starrte den Zeitungsständer an und umklammerte dabei Nells Hand. Sie brachte es jedoch nicht über sich, die Zeitschrift aus dem Ständer zu nehmen und aufzuschlagen.

Kate atmete tief aus. Sie musste mit ihrem Vater sprechen. Sie musste ihn sehen. Jetzt auf der Stelle.


Das Meer hinter Bronty war noch nie so blau gewesen. Kate setzte ihre Sonnenbrille auf, weil das Licht der Sonne glitzernd auf dem Wasser tanzte. Selbst jetzt konnte sie kaum zum Strand hinsehen, so strahlend weiß war er. Kate bog in die Zufahrt zu Bronty ein und vermied es dabei, das große, hässliche »Zu verkaufen«-Schild anzusehen. Sie fuhr über das Weidegitter.

Auf der zweieinhalbstündigen Fahrt von Hobart nach Bronty hatte sie, während Nell im Wagen geschlafen hatte, in Gedanken immer wieder formuliert, was sie sagen wollte. Trotzdem herrschte jetzt in ihrem Kopf ein einziger Wirrwarr von Gedanken. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel, um zu sehen, was Nell machte. Sie schlief noch. Auch das Kätzchen schlief.

Als sie die Tür des Pick-ups öffnete und ausstieg, traf sie die Hitze des Tages. Sie wollte gerade in den Garten gehen, als sie bemerkte, dass sich in der Scheune etwas bewegte. Dann erkannte sie ihren Vater, der, die Hände in die Hüften gestemmt, im Halbdunkel des Schuppens stand und sie mit zusammengekniffenen Augen beobachtete. Sah er sie böse an, oder blinzelte er nur wegen der grellen Sonne? Sie konnte es nicht sagen. Kate beugte sich in den Pick-up hinein und nahm den Sanierungsplan für Bronty vom Beifahrersitz. Dann kurbelte sie die Fenster herunter, damit Nell und das Kätzchen Luft bekamen, und ging auf ihren Vater zu. Obwohl sie aufrecht und mit erhobenem Kopf ging und Henry dabei direkt in die Augen sah, fühlte sie sich wieder wie ein kleines Mädchen.

Als sie das Halbdunkel der Scheune betrat, fiel ihr auf, dass ihr Vater, schlank und kraftvoll wie er noch immer war, ein wirklich gutaussehender Mann war.

»Ich bin gekommen, um mit dir über die Farm zu sprechen«, sagte sie.

»Ich versuche schon seit längerer Zeit, dich anzurufen.« Henrys Stimme klang gepresst und angespannt.

»Ja. Ich habe …«, begann sie. »Will und ich … Wir …« Kate brach ab und hielt ihm die Mappe hin. »Wir haben da an ein paar Ideen gearbeitet. Steht alles hier drin.«

Henry sah die Mappe an, nahm sie aber nicht entgegen. »Kate«, sagte er müde. »Annabelle und ich haben uns entschieden.«

»Wozu?«

»Das weißt du. Ich habe versucht, es dir persönlich zu sagen. Aber du willst ja mit dem Ganzen nichts zu tun haben. Genauso wenig wie mit uns.«

Kate starrte zu Boden.

»Ich weiß, dass ich Mist gebaut habe. Und das tut mir auch leid. Aber das alles ist mir ganz und gar nicht egal. Wirklich! Es ist nur so … Ich war so … so wütend.« Kate wurde jetzt derart von ihren Emotionen überwältigt, dass sie all ihre einstudierten Worte vergaß. Sie ging einen Schritt auf ihren Vater zu. »Sieh dir die Pläne wenigstens einmal an. Bitte, Dad. Ich habe alles bis ins Detail ausgearbeitet. Gemeinsam können wir es schaffen. Und das ist das, was Mama immer gewollt hat.« Kate sah, wie Henry zusammenzuckte, als sie Laney erwähnte.

»Glaubst du nicht, dass es dafür ein bisschen zu spät ist?«, fragte er bitter. »Wir haben uns entschieden.«

Kate spürte Panik in sich aufsteigen. Und diese Panik äußerte sich als Zorn. »Habe ich denn überhaupt kein Mitspracherecht?«

»Kate, hör auf. Bis jetzt wolltest du dieses Mitsprachrecht doch nie haben. Du bist abgehauen und hast alles mir und Will überlassen.«

»Das stimmt nicht! Du wusstest, dass ich bei Maureen bin. Du hättest mich jederzeit besuchen können.«

»Du begreifst es anscheinend immer noch nicht«, brüllte Henry sie jetzt an. Dann senkte er seine Stimme und sagte in ersticktem Ton: »Du hast keine Ahnung, wie schlimm es für mich war, deine Mutter zu verlieren.«

Für einen kurzen Moment sah Kate den Schmerz in den Augen ihres Vaters. Sie dachte an Nick und daran, wie sehr sie ihn liebte. Endlich verstand sie, wie sehr der Tod ihrer Mutter ihren Vater getroffen hatte.

»Ich wollte immer hier auf Bronty leben, Dad«, sagte sie. »Immer! Ich war einfach nur jung und dumm und wütend! Ich konnte nicht akzeptieren, dass die da …« Sie zeigte zum Haus hinüber und meinte damit Annabelle »jetzt zu deinem Leben gehören soll. Es tut mir leid, das zu sagen, Dad. Aber es ist mir einfach zuwider, sie an Mamas Platz zu sehen.«

»Hier geht es nicht um Annabelle«, sagte Henry.

»Aber du verkaufst doch nur ihretwegen die Farm! Wie kannst du sie verkaufen, wenn die Träume, die Will und Mama hatten, noch immer verwirklicht werden können?«

»Kate, tu das nicht. Bitte. Es ist meine Entscheidung, die Farm zu verkaufen, und nicht die von Annabelle. Es gibt hier einfach nichts mehr, was mir noch etwas bedeuten würde.«

»Das stimmt nicht«, sagte Kate. Sie bot ihm wieder die Pläne an, flehte ihn an: »Bitte, Dad. Schau dir das doch wenigstens einmal an. Bitte.« Ihre Hände zitterten. Sie schämte sich zutiefst dafür, dass sie ihrem Vater so viele Jahre lang Schmerz bereitet hatte. Genau wie sie Will wehgetan hatte, und das, obwohl sie ganz genau gewusst hatte, dass er immer alle Brände gelöscht hatte, die sie in ihrer Familie gelegt hatte. »Es tut mir leid. Es tut mir wirklich schrecklich leid«, sagte Kate noch einmal, und ihre Stimme brach dabei.

Nell war jetzt aufgewacht und rief nach ihr. Kate legte die Mappe vor Henrys Füße auf den Boden und ging dann zu ihrem Pick-up. Sie nahm Nell auf den Arm und kehrte mit ihr zu ihrem Vater zurück. Kate überkam ein unendliches Bedauern über die vielen verlorenen Jahre. Janies Worte taten ihre Wirkung. Und auch die ihres Vaters. Aber jetzt war es zu spät, um noch irgendetwas zu ändern. Sie vergrub ihr Gesicht an Nells Hals und begann stumm zu weinen. Sie empfand nur noch eine tiefe Traurigkeit und einen großen Abscheu vor sich selbst. Sie war unendlich verbittert, dass sie so lange gebraucht hatte, um so weit zu reifen, dass sie sich selbst so sah, wie sie war.

»Ach! Arme Mami«, tröstete Nell sie. Sie streichelte Kate übers Haar. »Opa, Mami ist traurig. Einen Kuss für Mami.«

In diesem Moment schallte Annabelles scharfe Stimme über den Hof. Sie ging mit energischen Schritten auf die drei zu. Mit ihrem sonnengebräunten Teint und ihren modisch nach oben frisierten blondgrauen Haaren sah sie geradezu wie ein Musterbeispiel der perfekten und bezaubernden Farmerfrau aus.

»Bilde dir bloß nicht ein, du könntest hierherkommen und ihm dieses Kind vor die Nase halten, um deinen Willen zu bekommen«, sagte sie und baute sich dann, die Hände in die Hüften gestemmt, vor ihr auf. »Nach dem, was du mit unserem Haus gemacht hast, bist du hier nicht mehr willkommen. Du magst es vielleicht komisch finden, Schafe in ein Haus zu sperren, aber das war unser Zuhause, bevor du es ruiniert hast. Das hat das Fass zum Überlaufen gebracht! Wir gehen weg von hier, weil du jeden von uns zutiefst verletzt hast, vor allem deinen Vater!«

»Es tut mit leid«, sagte Kate leise.

»Wie bitte?«

Kate sah Annabelle in die Augen. In ihrer Stimme lag jetzt eine Ruhe, die ihre absolute Niederlage zum Ausdruck brachte.

»Es tut mir leid. Wirklich.«

»Mami tut es leid«, sagte Nell. Kate sah einen versöhnlichen Ausdruck über das strenge Gesicht ihres Vaters huschen.

»Wage es ja nicht, dieses Kind zu benutzen, um uns zu erpressen«, schrie Annabelle. »Jetzt verschwinde hier, bevor ich … bevor ich die Polizei rufe. Wir dulden auf diesem Anwesen keine Vandalen.«

»Gut. Ich habe verstanden«, sagte Kate mit sanfter, ruhiger Stimme. Henry starrte seine Stiefel an, vor denen noch immer die Mappe lag. Kate ging mit Nell auf dem Arm zu ihrem Pick-up zurück. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie setzte Nell zitternd in ihren Kindersitz und schnallte sie an, wobei sie wieder leise zu weinen begann.

Nell rief: »Tschüs, Opa. Tschüs, An-bell.« Aber auch ihr kleines Gesicht war ernst.

Kate schlug die Tür zu und setzte sich hinters Steuer. Sie fuhr langsam davon, wobei sie das Meer vor sich nur noch durch einen Schleier von Tränen wahrnahm.