Kapitel 9

In den Tälern und Senken hing noch der Morgennebel. Will blickte von seinem Sitz auf dem Traktor über die Farm hinweg aufs Meer hinaus. Keine einzige Wolke war am Himmel zu sehen. Wenn nur endlich ein Ostwind aufkommen und schwere graue Nebelschleier mitbringen würde, damit sich die ausgedörrte, eiskalte Erde mit Feuchtigkeit vollsaugen konnte. Während sich die Räder des Traktors in den Boden gruben, sah Will zu der bröckelnden, nackten Erde hinab. Die Käferlarven hatten an dem Hang, wo das Vieh stand, bereits großen Schaden angerichtet. Wenn er nur Zeit hätte, um ein Schädlingsbekämpfungsmittel zu sprühen. Vielleicht konnte er das Kate überlassen, wenn sie endlich einmal zu Hause war. Aber da war auch noch Nell. Er konnte sich Annabelle beim besten Willen nicht als Babysitterin vorstellen. Will seufzte. Seine kleine Schwester. Sie war noch immer so wütend darüber, dass sie ihre Mutter verloren hatte. Und jetzt war sie selbst Mutter. Die Mutter des süßesten kleinen Mädchens, das er je gesehen hatte. Der Gedanke, dass Nell von nun an auch Teil seines Leben wäre, weckte in Will ein Gefühl der Begeisterung. Aber er glaubte hinter dem fröhlichen Lächeln des kleinen Mädchens bereits eine gewisse Vorsicht entdeckt zu haben. Er wusste, dass die Kleine bis jetzt noch nicht viel Stabilität in ihrem Leben erfahren hatte.

Will schaltete einen Gang zurück, als er den Hügel hinunterfuhr. Er schwor sich, dass er versuchen würde, Kate das Gefühl zu vermitteln, auf Bronty ein sicheres Zuhause zu haben. Und er schwor sich auch, dass Nell sich stets auf ihn verlassen könnte.

Ein Stück voraus standen die Rinder bereits ungeduldig muhend am Gatter. Sie hatten offenbar schon den großen, runden Heuballen gesehen, der auf der Frontgabel des Traktors aufgespießt war. Der Wind trug den süßen Duft des Heus zu ihnen. Sie drängelten wie die All Blacks beim Einwurf. Die Bullen senkten ihre Köpfe, um ihre Artgenossen mit ihren Hörnern zur Seite zu schieben. Der Hunger machte sie so reizbar.

Der riesige Heuballen hüpfte auf der Gabel auf und ab und hinterließ dabei eine Spur von Halmen, die im Licht des Morgens wie Lametta schimmerten. Am Rahmen des silbernen Weidetors glitzerten Spinnweben und Tautropfen wie zarte Spitze. Das Tor musste endlich repariert werden, bemerkte Will, verärgert über die unendlich vielen Aufgaben, die auf Bronty zu erledigen waren. Er versuchte sich nicht von dem nagenden Gefühl beeinflussen zu lassen, mit seiner Arbeit immer im Rückstand zu sein. Immer gestresst. Niemals mit irgendetwas fertig.

Er musste über seinen Tellerrand hinaussehen. Er wusste, was aus einem Farmer wurde, der nichts anderes als seine Arbeit hatte. Immer dieselbe Koppel, nur ein anderer Tag. Eine beschissene Jahreszeit, die in die nächste überging. Wenn es einmal etwas ruhiger war und das Gras wuchs, gab es immer noch zu viel zu tun. Die Arbeit war nur eine andere.

Aber Will gab nicht auf, denn er liebte diese Farm. Genau wie er die wunderbare Aussicht liebte, die sich ihm jetzt bot. Er nahm den Blick aufs Meer hinaus jeden Tag ganz bewusst wahr. Dort draußen war seine Mutter. Dort draußen lag seine Zukunft. Eine Zukunft, die heller und glücklicher war als das Leben, das er jetzt führte. Ein Leben ohne die ständigen, bitteren Kommentare von Annabelle, ein Leben, in dem es ihm gelingen würde, sich aus dem tiefen Loch zu ziehen, das die Distanziertheit seines Vaters bei ihm hatte entstehen lassen. Er hatte sich so sehr danach gesehnt, dass seine kleine Schwester nach Hause kam, damit sie und Nell die riesige Lücke füllten, die seine Mutter hinterlassen hatte. Vielleicht würde ja jetzt alles besser, da Kate wieder da war. Sie konnten ihren Vater vielleicht gemeinsam dazu überreden, ihnen die Erlaubnis zu geben, das Projekt mit den Sämereien anzugehen. Wenn die alte Bitterkeit ein für alle Mal begraben war, konnten sie sich vielleicht sogar irgendwann ein neues Familienleben schaffen. Er stellte sich vor, wie er an einem schönen Sommertag mit Nellie zusammen in dem alten Boot saß und angelte. Wie er glänzende Fische an gespannten Angelschnüren aus dem Wasser zog. Irgendwann würden bestimmt wieder bessere Tage kommen.

Die Morgensonne ging über der Bucht auf und erweckte die weiche Silhouette von Schouten Island zum Leben. Das Sonnenlicht ließ den braunen Ton im schwarzen Fell der Kühe deutlich hervortreten. Will war sich nicht sicher, ob er die Färsen durch den Winter bringen würde. Die Scheune war bereits zur Hälfte leer, und Heu zu füttern war für die Tiere ohnehin nicht das Beste. Aber zumindest würde es ihre Bäuche füllen, dachte er, als er die Tiere ansah. Speichelfäden hingen ihnen von den Mäulern, als sie sich mit ihren rauen, grauen Zungen über ihre feuchten, schwarzen Nasen leckten. Ihre Bäuche rundeten sich, während die Kälber in ihnen heranwuchsen. Für Will jedoch schien der Frühling noch so unendlich weit weg zu sein.

Will legte den Leerlauf ein, zog dann die Handbremse an und sprang vom Fahrzeug, wobei er auf dem feuchten Boden kurz ausrutschte. Als er zum Tor ging, hörte er trotz des im Leerlauf vor sich hin tuckernden Motors das hohe Jaulen eines Motorrads. Unten im Tal donnerte Aden gerade durch eine Gruppe von Mutterschafen mit ihren Lämmern.

»Penner«, murmelte Will. Er konnte förmlich spüren, wie sein Blutdruck stieg, als er zusah, wie die Mutterschafe auseinanderstoben, während ihre Lämmer verwirrt und erschrocken umhersprangen. Will schüttelte den Kopf und fluchte noch einmal laut vor sich hin. Er musste ihn aufhalten, bevor noch einige der jetzt trächtigen Tiere eine Fehlgeburt erlitten. Einige der Schafe waren bereits sichtlich geschwächt. Das war jetzt das Letzte, was sie brauchten.

Die Tiere waren überhaupt nur deshalb trächtig geworden, weil Aden vor sechs Monaten vergessen hatte, das Gatter der Weide, auf der die Böcke standen, zu schließen. Die Merino- und die White-Suffolk-Böcke hatten drei Tage lang ihren Spaß gehabt, bevor Will sie bei den Schafen entdeckt hatte. Jetzt waren die Lämmer, hineingeboren in eine kahle und dürre Welt, nicht im Einklang mit Mutter Natur.

Will rannte zum Traktor zurück, griff nach oben und ließ den Motor dreimal laut aufheulen, in der Hoffnung, Aden würde das hören. Das Geräusch erschreckte die Färsen, und sie machten einen Satz vom Zaun weg. Eine Wolke von schwarzem Diesel strömte aus dem Auspuffrohr, hob dabei die runde Scheibe an, die das Rohr bedeckte. Bei dem Geräusch blickte Aden kurz auf und winkte. Dann fuhr er weiter durch die flachen Abzugsgräben auf der Ebene, die Will im letzten Jahr mit so viel Mühe angelegt hatte. Die Räder von Adens neuem knallgrünem Motorrad gruben sich tief in den Boden und verursachten eine Fontäne aus Gras und Erde.

»Aden! Du Arschloch!«, brüllte Will, obwohl er wusste, dass Aden ihn nicht hören konnte. Als Will sich wieder vom Traktor entfernte, spürte er, dass er mit seiner Jacke an irgendetwas hängen geblieben war. Er riss sich ärgerlich los und ging zum Tor, um es zu öffnen. Er biss die Zähne zusammen, seine Schultern waren verkrampft. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Aden einfach verschwinden würde, einfach abhauen, in die verdammte Stadt zurückkehren.

Will bemerkte nicht, dass der Traktor ganz langsam zu rollen begann, während er an dem klemmenden Torriegel herumhantierte. Die großen schwarzen Räder rollten langsam, aber sie rollten. Der runde Heuballen kam wie ein Ungeheuer drohend immer näher. Zu spät. Will spürte etwas an seinem Rücken und versuchte sich noch umzudrehen, aber er konnte sich schon nicht mehr bewegen. Der Heuballen wurde gegen seinen Rücken gepresst. Die Metallstange des Tors grub sich schmerzhaft in seine Brust. Das Gewicht war einfach unglaublich. Es quetschte die Luft aus seinen Lungen. Panik erfasste Will, seine Gedanken rasten, aber er konnte nichts mehr tun. Wann gab das Tor endlich nach? Verdammtes altes Ding. Sicherlich würde es bald aufspringen. Die Kette war bereits bis zum Zerreißen gespannt, aber noch hielten die Angeln. Ein ungeheurer Schmerz begann seinen Körper zu durchfluten. Seine Augen traten hervor. Will konnte neben dem im Leerlauf tuckernden Motor des Traktors das Quietschen von Metall und das Ächzen von Holz hören. Dann hörte er gurgelnde, kehlige Laute. Es dauerte eine Zeit, bis ihm bewusst wurde, dass diese Laute von ihm kamen. Luft. Er brauchte Luft. Und diese Schmerzen. Sie machten ihn schier wahnsinnig. Er wurde verrückt vor Schmerzen. Er musste schreien. Dann würde Aden kommen und ihm helfen. Aber Will konnte nicht mehr schreien. Er spürte, wie sich das Gewicht jetzt ganz auf ihn legte. Das tiefe Brummen des Traktors, der langsam seine Knochen zermalmte. In seinem Schädel platzten mehrere Adern. Seine Augen traten aus ihren Höhlen. Seine Füße und Arme zuckten wild.

Plötzlich senkte sich eine große Stille über ihn. Seine bereits erloschenen Augen sahen aufs Wasser hinaus. Dort war seine Mutter.

»Mama!«, glaubte er zu rufen. Aber da hatte er bereits keinen Atem mehr. Es war kein Leben mehr in ihm. Will bewegte sich schon auf das Wasser zu, wo seine Mutter auf ihn wartete. Hinter ihm auf dem Land schrie eine Krähe, schwarz wie die Nacht. Adens Motorrad war zu hören. Er fuhr mit heulendem Motor davon. Der Traktor tuckerte noch immer im Leerlauf. Das Vieh kam vorsichtig näher, um an Wills gesenktem Kopf zu schnuppern und am Heu zu zupfen. Von seinen Lippen tropfte jetzt Blut und versickerte, sich schwarz verfärbend, schnell im durstigen Boden. Die Rinder entfernten sich eines nach dem anderen wieder. Sie hatten Hunger, aber der Geruch des Todes, der sich mit dem Duft des Heus vermischte, machte sie argwöhnisch.


Nell schlief tief und fest, als Kate von der Straße in den kleinen Zufahrtsweg abbog, der nach Bronty führte. Sie hatte das Radio aufgedreht und sang mit. Sie hatte die Hoffnung, damit das bedrückende Gefühl vertreiben zu können, das sie wegen ihrer Rückkehr noch immer quälte, weil Annabelle jetzt hier lebte. Sie zwang sich zu einem Lächeln. Sie würde das schon irgendwie schaffen. Sie würde ihrem Dad einen Begrüßungskuss geben, würde Annabelle umarmen und einfach so tun, als wäre nichts gewesen. Dies war jetzt Nells Zuhause. Es war ein neuer Anfang. Sie hatte ja Will auf ihrer Seite. Will würde ihr dabei helfen, alles richtig zu machen.

Als sie jedoch auf das Haus und den Hof zufuhr, erstarb das Lächeln auf ihrem Gesicht. Eine Gruppe von Menschen in den Uniformen des Staatlichen Rettungsdienstes sahen gerade dabei zu, wie jemand von ihnen den Deutz-Traktor ihres Vaters auf den Hof fuhr. Dem Traktor folgte ein Krankenwagen, der es jedoch offensichtlich nicht eilig hatte. Ein Polizist führte Henry den Gartenweg entlang. Eine Decke lag um seine Schultern. Kate konnte sein Gesicht nicht sehen. Er schaffte es gerade bis zur Hintertreppe, dann drehte er sich um und ließ sich einfach auf die Stufen sinken, wobei er einen Augenblick schwankte, als wäre er betrunken. Kate konnte an seinem Gesicht erkennen, dass etwas unfassbar Schreckliches passiert war.

Sie sprang aus dem Pick-up und sah sich verzweifelt nach Will um. Aden stand im Hof neben einem Motorrad und sprach leise mit einem Polizisten. Amy stand auf der Veranda, ihr blasses Gesicht war noch blasser als sonst. Annabelle kam aus dem Haus und ging mit ausgestreckten Armen und einem kummervollen Ausdruck auf dem Gesicht auf Kate zu. Kate lief jedoch einfach an ihr vorbei zu ihrem Vater hinüber. Sie forschte in seinem Gesicht.

»Will?«

Der Ausdruck auf dem Gesicht ihres Vaters war Antwort genug. Kate spürte, wie ihre Beine unter ihr nachzugeben drohten.

»O nein. Nicht Will. Bitte nicht Will. Nein, nein, nein!«

Ihr Vater nahm sie in die Arme und hielt sie fest. Sie roch die vertraute Mischung aus Dieselöl und Pears-Seife. Sie hätte ihn jedoch am liebsten geschlagen und nicht umarmt. Ein kehliger Schrei kam tief aus ihrem Inneren, ein Schrei wie an jenem Tag, als sie ihr Baby zur Welt gebracht hatte. Ein Laut, animalisch und primitiv zugleich. Nell, die im Pick-up saß und schlief, wachte auf, sah den Krankenwagen und die Polizeiautos, sah ihre Mutter und begann ebenfalls zu schreien.