Voynich-Manuskript

pada ata lane pad not ogo old wart alan ther tale feur far rant lant tal told
Charles Kinbote, in Vladimir Nabokov: «Pale Fire»

Das Voynich-Manuskript wurde vor mindestens 400 Jahren von einem anonymen Autor handschriftlich in einem unbekannten Alphabet und einer rätselhaften Sprache – nein, nicht Französisch – abgefasst. Seine Wiederentdeckung verdanken wir dem Archivar Wilfrid Michael Voynich, der es 1912 in aller Heimlichkeit italienischen Jesuiten abkaufte, die Geld brauchten. Heerscharen von Linguisten, Kryptologen, Mittelalterforschern, Mathematikern und Literaturwissenschaftlern versuchen sich seitdem erfolglos an der Entschlüsselung des Textes, gegen den Niklas Luhmanns Werke geradezu verständlich wirken.

Ursprünglich bestand das Manuskript wohl aus 272 Pergamentseiten unterschiedlicher Größe, von denen nur noch knapp 240 erhalten sind. Es ist in Abschnitte gegliedert, die sich – den reichen Illustrationen zufolge – wahrscheinlich mit Pflanzen, Astronomie, Biologie, Kosmologie und Heilkunde befassen. Dazu kommt ein Abschnitt mit kleinen, nicht bebilderten Absätzen, die als «Rezepte» bezeichnet werden, aber genauso gut Fahrplanauskünfte oder vermischte Nachrichten enthalten könnten. Die Seiten wurden zu einem späteren Zeitpunkt in Leder gebunden; auch die Seitenzahlen und die Kolorierung der Illustrationen sind wohl nachträglich ergänzt.

Im ersten Teil des Voynich-Manuskripts sind bisher größtenteils unidentifizierte Pflanzen detailreich abgebildet. Der Abschnitt über Astronomie enthält offenbar bekannte Tierkreiszeichen und Darstellungen der Jahreszeiten, und zumindest hier ist klar, dass die Abbildungen auf den Bewegungen der Sterne und Planeten beruhen. Unter anderem aus der Kleidung und den Frisuren der dargestellten Menschen (oder auch nur den Frisuren – bei den meisten Figuren handelt es sich um nackte Frauen) schloss man, dass das Manuskript in einem europäischen Land irgendwann zwischen 1450 und 1520 entstanden ist. Frühester Beleg für die Existenz des Textes ist allerdings ein Brief von 1639, in dem der Prager Alchemist Georg Baresch den Jesuiten Athanasius Kircher um Hilfe bei der Entschlüsselung bittet. Dieser erst in den 1970er Jahren veröffentlichte Brief befreite gleichzeitig Voynich von dem hin und wieder geäußerten Verdacht, er habe das Manuskript selbst produziert. Genauere Angaben zum Ursprung des Textes fehlen bis heute.

Das Manuskript wurde mittlerweile mit allen Mitteln der modernen Computerlinguistik analysiert. Das Ergebnis: Offenbar folgt es statistischen Grundregeln natürlicher Sprachen, die erst im 20. Jahrhundert wissenschaftlich beschrieben wurden – unwahrscheinlich, dass Fälscher im 16. Jahrhundert derart vorausschauend dachten. Andererseits enthält der Text kaum Wörter, die regelmäßig in derselben Gruppierung auftauchen, und er weist für natürliche Sprachen untypische Wortwiederholungen auf. Insgesamt ist der Wortschatz des Textes ungewöhnlich klein – aber auch das sollte noch keinen Anlass zum Misstrauen geben, sonst müssten viele zeitgenössische Bestseller als Fälschungen gelten.

Die folgende Ansammlung von Deutungsversuchen ist nur eine kleine Auswahl und zeigt zum einen die Hilflosigkeit, zum anderen den bemerkenswerten Einfallsreichtum der Voynich-Experten. William Romaine Newbold, ein Philosophieprofessor an der University of Pennsylvania, verkündete 1921 als Erster, er habe das Manuskript entschlüsselt. Jeder Buchstabe enthalte winzige Striche, die nur unter dem Vergrößerungsglas zu erkennen seien und eine alte griechische Kurzschrift darstellten. Der Text stamme tatsächlich – wie schon Voynich zu beweisen versucht hatte – aus der Feder des englischen Philosophen und Wissenschaftlers Roger Bacon und beschreibe unter anderem die Erfindung des Mikroskops. Allerdings stellte sich schnell heraus, dass es sich bei den angeblichen mikroskopischen Schriftzeichen um natürliche Risse in der verwendeten Tinte handelte.

Einen anderen kreativen Deutungsversuch legte 1978 der Amateurphilologe John Stojko vor. Er behauptete, der Text sei auf Ukrainisch mit weggelassenen Vokalen verfasst und handle von einem Bürgerkrieg. Leider passte seine Übersetzung weder zu den Illustrationen im Manuskript noch zur ukrainischen Geschichte. 1987 schrieb der Physiker Leo Levitov den Text den Katharern zu, einer Ketzersekte aus dem mittelalterlichen Frankreich; der Wortschatz sei ein Gemisch aus flämischen, altfranzösischen und althochdeutschen Elementen. Der Autor James Finn dagegen geht in seinem 2004 erschienenen Buch «Pandora’s Hope» davon aus, dass der Text in leicht verschlüsseltem Hebräisch verfasst ist – wie viele andere Interpretationen eröffnet auch dieses System praktisch unbegrenzte Deutungsmöglichkeiten des Textes. Der Linguist Jacques Guy vermutete, es könnte sich um eine asiatische Sprache handeln, die in einem erfundenen Alphabet niedergeschrieben wurde. Das ist nicht einmal unplausibel und passt auch gut zur Wortstruktur des Dokuments; andererseits sehen die Illustrationen gänzlich unasiatisch aus. Ende 2003 dann äußerte der Pole Zbigniew Banasik die Vermutung, man habe es mit mandschurischem Klartext zu tun. Banasik selbst konnte allerdings gar kein Mandschurisch, und kompetente Sprecher des Mandschurischen haben sich bisher nicht zu Wort gemeldet.

Schließlich kam es 2003 zum vorläufig letzten öffentlich diskutierten Deutungsversuch. Der britische Psychologe und Informatiker Gordon Rugg bewies in seiner Freizeit, dass sich ein Text mit vergleichbaren Eigenschaften mit Hilfe einer Tabelle fiktiver Vorsilben, Wortstämme und Suffixe herstellen lässt, die unter Verwendung einer Papierschablone kombiniert werden. Solche Schablonen, sogenannte Cardan-Gitter, wurden bereits Mitte des 16. Jahrhunderts zur Verschlüsselung von Texten benutzt. Ruggs Ergebnisse wurden in der Presse vielfach als Lösung des Voynich-Problems gefeiert, beweisen aber lediglich, dass es theoretisch möglich gewesen wäre, mit den damaligen Mitteln einen vergleichbaren Text in kurzer Zeit herzustellen. Ob es sich tatsächlich so zugetragen hat, ist weiterhin unklar. Rugg selbst äußert sich auf seiner Website verhalten: Er persönlich sei der Meinung, dass es sich wahrscheinlich um eine Fälschung handle. Finanziell hätte sich ein solches Unterfangen durchaus gelohnt: Angeblich erwarb Kaiser Rudolph II., ein eifriger Sammler alchemistischer Manuskripte und anderer Kuriositäten, das Werk um das Jahr 1600 herum für 600 Golddukaten. Ähnliche Gewinnhoffnungen machte sich einige Jahrhunderte später wohl der Antiquar Hans P. Kraus, der das Manuskript 1961 für $ 25 000 kaufte, dann jedoch keinen Abnehmer fand und es schließlich der Yale University stiftete. Entschlüsselungswillige finden heute das gesamte Material eingescannt auf der Website der Universität oder in der ersten Buchausgabe des kompletten Manuskripts, dem 2005 von Jean-Claude Gawsewitch herausgegebenen «Le Code Voynich».

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