Hawaii

Steig hinab, kühner Wanderer, in den Krater Snæfellsjökull,
welchen der Schatten des Skartaris vor dem ersten Juli liebkoset,
und du wirst zum Mittelpunkt der Erde gelangen; das habe ich vollbracht.
Arne Saknussemm
Jules Verne: «Reise zum Mittelpunkt der Erde»

Seit einigen Jahren ist wieder unklar, warum es Hawaii gibt. Schlimmer noch: Wir wissen auch nicht, wo Island herkommt, welche Vorgänge uns die Azoren beschert haben und warum die Pukapuka-Inseln aus dem Südpazifik ragen.

Mehrere tausend Jahre lang hielt sich unter Medizinmännern auf Hawaii die folgende Arbeitshypothese: Pele, die nymphomane Göttin des Feuers, befand sich auf der Flucht vor ihrer wütenden Schwester Na-maka-o-kaha‘i, deren Mann sie verführt hatte. Sie landete auf einer unbewohnten Insel, aber gerade als sie mühsam mit ihrem Grabestock eine Wohnhöhle ausgehoben hatte, überflutete die Schwester, von Beruf Göttin des Meeres, die Insel. Also zog Pele zum nächsten Eiland, wo sich dasselbe Familiendrama abspielte. Auf dem Weg nach Südosten hinterließ sie eine Kette aus Inseln mit großen Löchern. Pele rettete sich letztlich auf den Berg Mauna Loa, der zu hoch für die schwesterliche Flutwelle war, und verbringt seitdem ihre Zeit damit, Hawaii mit Lava zu bewerfen. Diese Theorie gilt heute als falsch.

Seit den 1970er Jahren bevorzugen die meisten Geologen stattdessen die Hypothese von den Mantelplumes. «Plume», ein englisches Wort, das sich am ehesten mit «Rauchschlot» übersetzen lässt, nennt man einen Strom heißen Materials, der aus den Tiefen der Erde nach oben drängt. Viele vulkanische Inseln wie Hawaii, Island und die Azoren entstehen in diesem Modell ungefähr wie folgt: Die heiße Plume ist ortsfest im Erdmantel angebracht und befeuert von unten eine bestimmte Stelle auf der Erdoberfläche. Letztere jedoch ist gemeinerweise beweglich, weil sich die Platten der Erdkruste langsam, aber sicher verschieben (→Plattentektonik). Daher wandert die durch die Plume erzeugte heiße Stelle im Laufe von ziemlich viel Zeit über die Erdoberfläche, befördert heißes, flüssiges Material nach oben und wirft es in hohem Bogen ans Tageslicht. Oben angekommen, erstarrt das Gestein und bildet eine Insel mit Palmen und Menschen in albernen, bunten Hemden rings um den von der Mantelplume beheizten Vulkan. Schon wenige Millionen Jahre später ist die Plume weitergezogen, der Vulkan stirbt, aber die Insel bleibt. So falsch war die Geschichte von Pele, der Feuergöttin, dann auch wieder nicht.

Um die Entstehung Hawaiis durch eine Plume zu veranschaulichen, nehme man einfach ein Feuerzeug, halte es unter ein Blatt Papier und bewege das Papier langsam über die Flamme. Wenn man es richtig macht, also genauso wie die Erde, entsteht eine Kette aus schwarz geränderten, erloschenen Papiervulkanen. Hawaii wird oft als Musterbeispiel für eine Mantelplume genannt. Wie viele es insgesamt geben könnte, ist umstritten; die Schätzungen aus den letzten Jahrzehnten schwanken zwischen einer Handvoll bis etwa fünftausend. Die eleganten Plumes erklären einwandfrei eine ganze Reihe von Dingen, zum Beispiel viele Eigenschaften der hawaiianischen Inselkette: Die nämlich liegt quer im Pazifik, und je weiter man von der praktisch brandneuen «Big Island» im Südosten in Richtung Nordwesten vordringt, desto älter werden die Inseln, bis man am Ende der Kette etwa bei einem Alter von 50 Millionen Jahren angelangt ist. Ungefähr stimmen Position und Alter der Inseln mit der Bewegung der pazifischen Platte überein, durch die sich die mutmaßliche Plume hindurchbrennt. Besonders schön an den Mantelplumes: Sie entstehen im Erdmantel, vielleicht sogar im Erdkern, also Hunderte, vielleicht mehrere tausend Kilometer unter der Oberfläche. Weil man diese Regionen ansonsten nur besichtigen kann, wenn man in einem Buch von Jules Verne mitspielt, könnten tief verwurzelte Plumes uns wichtige Dinge aus dem Herz der Finsternis mitteilen – falls es sie denn gibt.

Denn das ist mittlerweile nicht mehr so klar. Obwohl sich die elegante Plume-Hypothese über die Jahrzehnte in den meisten Lehrbüchern (und daher Köpfen) eingenistet hat, gab es immer einige renitente Zweifler, zum Beispiel Don Anderson, Geologe vom California Institute for Technology. In den letzten zehn Jahren jedoch ist die Zahl der Kritiker, ihre Lautstärke und ihre Publikationsrate beachtlich angestiegen. Konferenzen werden abgehalten, die sich ausschließlich damit befassen, warum es Plumes nicht gibt, vorzugsweise an Orten vulkanischen Ursprungs. Und schließlich errichtete Gillian Foulger von der Universität in Durham, eine der prominentesten Plume-Gegnerinnen, ein spezielles Internetportal, das den Erdinteressierten mit zahllosen Details über seismische Aktivität, Temperaturanomalien und lithosphärische Ablösung bombardiert. Wem das zu viel ist, für den seien hier einige Argumente für und wider die Plume-Hypothese zusammengefasst.

Zum Beispiel ist die Magmaproduktion der hawaiianischen Vulkane keinesfalls konstant, sondern stark veränderlich. Es kann sich also, so sagen die Kritiker, nicht um einen ordentlichen Plume-Schlot handeln, der unbeirrbar Lava nach oben pumpt. Allein in den letzten 5 Millionen Jahren hat sich der Lavaausstoß verzehnfacht: Jedes Jahr strömen etwa hundert Millionen Kubikmeter Gestein aus dem Erdinnern in die Welt hinaus. Plumisten halten das nicht für ein Problem und argumentieren andersherum: Ohne Mantelplume hätte man enorme Schwierigkeiten, die Herkunft dieser großen Mengen Magma zu erklären.

Das nächste Argument der Plume-Gegner ist der «Imperatorrücken», eine Kette aus alten, erloschenen Vulkanen, die sich nordwestlich an die hawaiianische Inselkette anschließt und durch dieselbe Plume erzeugt worden sein müsste. Hawaiiinseln und Imperatorrücken gehen allerdings nicht einfach so ineinander über, sondern bilden einen Winkel von etwa 60 Grad – ein deutlicher Knick in der Vulkankette. Gäbe es eine ortsfeste Plume, die zunächst die Imperatorinseln, dann Hawaii gebildet hat, so müsste die pazifische Platte vor rund 50 Millionen Jahren plötzlich scharf abgebogen sein. Erdplatten haben jedoch genauso wie Güterzüge und Finanzämter ihre Probleme mit abrupten Richtungsänderungen. Es ist jedoch durchaus möglich, antworten Plumisten, dass die Plume durch Strömungen im Erdmantel abgelenkt wird und sich der «heiße Fleck» auf der Erdoberfläche bewegt – eine Mantelplume mit losem Ende.

Die Verteidiger der Plumes hätten es leichter, sich gegen ihre Kritiker zu behaupten, wenn sie ein Bild einer Mantelplume vorzeigen könnten. Im Idealfall sollte man darauf eine Plume sehen, die sich von den unteren Regionen des Erdmantels wie eine Made im Apfel knapp dreitausend Kilometer quer durch die Erde frisst. Ein solcher direkter, unumstrittener Nachweis fehlt jedoch bisher. Die Methode dafür ist schon erfunden: Mit zahlreichen, überall auf der Erde verstreuten Messgeräten vollzieht man nach, wie sich Erdbeben im Innern der Erde ausbreiten, und errechnet daraus, wie es dort unten aussieht. Bis heute ist es allerdings nicht gelungen, eine Mantelplume zweifelsfrei bis in die Tiefen des Erdmantels zu verfolgen.

Viele Alternativen zur Plume-Hypothese wurden mittlerweile vorgeschlagen. Eine davon erklärt Hawaii auf «oberflächliche» Art und Weise, nämlich mit den Eigenschaften der Erdkruste. Der Boden unter unseren Füßen ist keinesfalls so stabil, wie er sich oft anfühlt. Die Kruste bricht manchmal entzwei, deformiert sich und legt sich Risse und Spalten zu. Außerdem ist die Erde von Pickeln und Mitessern geplagt: Temperatur und Zusammensetzung der Platten sind nicht immer und überall gleich, sondern verändern sich ständig durch die Bewegung der Platten. Es bilden sich Sollbruchstellen, an denen eklige Substanzen austreten und ganze Südseeparadiese verwüsten beziehungsweise erst mal entstehen lassen. In diesem Szenario benötigt man keine Plume, die sich aus dem Erdkern nach oben bohrt. Alles, was man zum Verständnis der Hawaiientstehung braucht, findet in den obersten Schichten des Erdmantels statt. Gillian Foulger und andere Plume-Gegner sind davon überzeugt, dass diese Theorie die Eigenschaften Hawaiis und anderer Gegenden deutlich besser erklärt als die Geschichte von der Mantelplume.

Die Debatten zwischen Plumisten und Plume-Gegnern, teilweise öffentlich im Internet ausgetragen, sind sicherlich nicht nur deswegen so erhitzt, weil es um heiße Lava geht. Es könnte sein, dass ein Paradigmenwechsel in der Hawaiifrage bevorsteht, vielleicht aber auch nicht. Wenn Jules Verne uns in der «Reise zum Mittelpunkt der Erde» nicht so schamlos angelogen hätte, wüssten wir mehr.

Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt
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