Laffer-Kurve

Pomperipossa hörte erst davon, als eine gute Freundin sie eines Tages fragte: «Weißt du eigentlich schon, dass deine Marginalsteuer in diesem Jahr 102 Prozent beträgt?»
«Unsinn», sagte Pomperipossa, «so viele Prozente gibt’s ja gar nicht!»
Astrid Lindgren: «Pomperipossa in Monismanien»

Die Laffer-Kurve, benannt nach dem amerikanischen Ökonomen Arthur B. Laffer, beschreibt den Zusammenhang zwischen der Höhe der Steuersätze und den daraus resultierenden Steuereinnahmen des Staates. Eine uralte Weisheit ist unumstritten: Wenn man die Ausbeutung der Untertanen (moderner ausgedrückt: deren Besteuerung) übertreibt, so ruiniert man die Staatsfinanzen. Ein ähnliches Problem haben Vampire. Saugen sie zu viel Blut aus ihrem Opfer, stirbt es, und aus ist es mit der billigen Nahrungsquelle. Ab wann man aber aufhören muss zu saugen, wo also die optimale Steuerrate liegt, das Maximum der Laffer-Kurve, weiß niemand. Laffer sagt nun, dass der Staat, wenn die Steuersätze über diesem Maximum liegen, durch Steuersenkungen mehr einnehmen kann als durch Steuererhöhungen. Ob und wie genau das funktioniert, ist ebenfalls unklar. Die Laffer-Kurve – ein wichtiges Hilfsmittel zur Wirtschaftssteuerung oder nur Voodoo-Ökonomie?

Das Grundprinzip sei an einem einfachen Beispiel verdeutlicht. Seit Anfang der 1990er Jahre erhöhen viele europäische Länder, unter anderem Deutschland, langsam und stetig die Tabaksteuer. Bis vor kurzem hatte dies den womöglich gewünschten Effekt: Geraucht wurde trotzdem, daher stiegen die Staatseinnahmen aus der Tabaksteuer an. Als im Jahr 2003 die Bundesregierung durch eine abermalige Steuererhöhung den Preis für jede Zigarette um weitere 1,2 Cent erhöhte, sagte man Mehreinnahmen in Höhe von etwa einer Milliarde Euro voraus. Ein gutes Jahr später war klar, dass genau das Gegenteil eingetreten war. Statt mehr strömte plötzlich weniger Geld durch die Tabaksteuer in die Staatskasse, das Finanzministerium verzeichnete einen Fehlbetrag von mehreren hundert Millionen Euro. Möglicherweise stellten viele Raucher wegen der hohen Preise das Rauchen ein, denkbar aber auch, dass stattdessen auf Schmuggelware zurückgegriffen wurde. Was auch immer die Ursache war: Steuererhöhungen bewirkten paradoxerweise Einnahmeverluste.

Für das Gesamtstaatseinkommen sind Tabakwaren jedoch nur von geringer Bedeutung, viel wichtiger sind andere Einnahmequellen, die Besteuerung von Arbeit etwa. Auch hier kann ein zu hoher Steuersatz zu weniger Staatseinnahmen führen, auch wenn die Ursachen komplexer sind als bei der Tabaksteuer. Aber was heißt in diesem Zusammenhang «zu hoch»? Wo liegt die magische Grenze? Wie viel muss der Staat vom Einkommen jedes einzelnen Bürgers einbehalten, um maximale Einnahmen zu erzielen?

Man muss mit einfachen Betrachtungen anfangen. Wenn der Steuersatz null ist, also keinerlei Steuern erhoben werden, wird der Staat gar nichts einnehmen. Alle werden zwar glücklich und zufrieden sein, weil Bruttoeinkommen gleich Nettoeinkommen ist, aber der Staat steht in der Ecke und ist beleidigt, weil er nichts abbekommt. Dies ist der erste Punkt auf der Laffer-Kurve: Steuersatz 0 Prozent führt zu null Einnahmen. Klar ist ebenfalls, dass der Anfang der Laffer-Kurve bergauf führt: Erhöht man den Steuersatz von 0 auf zum Beispiel 2 Prozent, so sind immer noch alle zufrieden, aber die Einnahmen des Staates erhöhen sich ein wenig.

Weiterhin ist anzunehmen, dass bei Steuersätzen von 100 Prozent – jeder Bürger zahlt sein komplettes Einkommen an den Staat – so gut wie gar keine Steuereinnahmen zu erwarten sind. Arbeiten würden vermutlich nur ein paar Idealisten und Narren, entweder weil sie nicht rechnen können oder weil es ihnen im Bergwerk so gut gefällt. Die Menschen würden es vorziehen, illegalen Tätigkeiten nachzugehen, auszuwandern, zu betteln, im Bett herumzuliegen und zu verhungern, aber geregelt arbeiten, dann Steuern zahlen (und anschließend verhungern) käme nicht infrage. Demnach sind bei einem Steuersatz von 100 Prozent die Staatseinnahmen ebenfalls null oder zumindest nicht der Rede wert. Anfangs- und Endpunkt liegen also bei null. Um beide Punkte zu verbinden, muss man nun eine Kurve zeichnen, die zunächst ansteigt, irgendwo ein Maximum erreicht, um anschließend wieder auf null zu sinken – das ist die idealisierte Laffer-Kurve. Ist der Staat klug eingerichtet, so verlangt er genau die Menge an Steuern von seinen Bürgern, die auf dem Gipfel der Laffer-Kurve zum Maximum an Einnahmen führt. Verlangt der Staat zu hohe Steuern, so verringern sich seine Einnahmen. Folglich, so Laffers Argumentation, kann man die Einnahmen erhöhen, wenn man die Steuern senkt.

Die Grundidee hinter der Laffer-Kurve ist keineswegs neu. Laffer selbst führt sie auf den arabischen Politiker Ibn Chaldun zurück, der im 14. Jahrhundert Folgendes aufschrieb: «Es sollte bekannt sein, dass am Beginn einer Dynastie geringe Steuern großes Staatseinkommen erzielen. Am Ende einer Dynastie erhält man bei hohen Steuern nur geringe Staatseinnahmen.» Das klingt zwar klug, ist aber derart kryptisch formuliert, dass man vieles dahinter vermuten kann – ein generelles Problem mit Chalduns Schriften, die von Nachfolgegenerationen oft auf gegensätzliche Art und Weise ausgelegt wurden. Laffer jedenfalls versteht diese Worte als einen Auftrag zu Steuersenkungen.

Der Begriff Laffer-Kurve entstand dann 1974 in der Folge eines heute beinahe legendären Treffens zwischen Laffer, zu dieser Zeit Professor an der Universität von Chicago, und Vertretern des damaligen amerikanischen Präsidenten Gerald Ford. Anwesend war unter anderem Dick Cheney als Stellvertreter von Donald Rumsfeld, der zu dieser Zeit Stabschef im Weißen Haus war, wobei es umstritten ist, ob Rumsfeld selbst am Treffen teilnahm. Laffer kann sich an die Details des Treffens nicht mehr erinnern, sodass man darauf angewiesen ist, die Version von Jude Wanninski zu glauben, damals Mitherausgeber des renommierten «Wall Street Journal» und bis heute starker Befürworter von Laffers Theorie. Wanninski zufolge zeichnete Laffer die Kurve auf eine Serviette, um Cheney davon zu überzeugen, dass die Steuern gesenkt und nicht erhöht werden sollten, um die Wirtschaft anzukurbeln und infolgedessen die Staatseinnahmen zu sanieren. Cheney und Rumsfeld waren zwar angemessen beeindruckt, Ford jedoch folgte dem Vorschlag nicht. Laffer selbst hält Wanninskis Serviettengeschichte für fragwürdig, denn seine, Laffers, Mutter habe ihn «dazu erzogen, keine schönen Dinge zu entweihen». Seit dieser Episode jedenfalls heißt der Zusammenhang zwischen Steuersatz und Staatseinnahmen «Laffer-Kurve» und wird in jedem Lehrbuch als schöne, symmetrische Glockenkurve mit Beginn und Ende bei 0 sowie einem Maximum bei 50 Prozent Steuersatz dargestellt.

Diese ideale Gestalt der Kurve ist allerdings frei erfunden und hat mit der Wirklichkeit vermutlich nichts zu tun. Das genaue Aussehen der Laffer-Kurve, insbesondere die Lage des Maximums, ist heftig umstritten. Zahlreiche Publikationen befassen sich damit, den Zusammenhang zwischen Steuersätzen und daraus resultierendem Staatseinkommen mit Hilfe von mathematischen Modellen zu untersuchen. Dabei beschreibt man die Vorgänge in der Volkswirtschaft mit Hilfe eines Systems von Gleichungen, die miteinander gekoppelt sind. So hängen die Einnahmen des Staates aus Einkommenssteuern nicht nur von den Steuersätzen ab, sondern auch davon, wie viele Menschen arbeiten und was sie dabei verdienen. Die Höhe der Bruttogehälter hängt davon ab, wie erfolgreich die Arbeitgeber sind, also wie viele Produkte sie verkaufen. Dies wiederum hängt unter anderem davon ab, wie viel →Geld die Menschen nach Abzug der Steuern übrig behalten und somit ausgeben können, was logischerweise wiederum mit den Steuersätzen zu tun hat. Insgesamt entsteht ein komplexes, verschachteltes Gefüge.

Hier nur einige wenige Resultate aus solchen Modellrechnungen. Die Laffer-Kurve, die Peter Ireland in einer Studie aus dem Jahr 1994 erhält, hat ihr Maximum bei Steuersätzen von 15 Prozent. Mit einem etwas anderen Modell errechnete Paul Pecorino 1995 einen optimalen Steuersatz zwischen 60 und 70 Prozent. In einer weiteren Arbeit aus dem Jahr 1982 erhielt Don Fullerton gar einen optimalen Steuersatz von 79 Prozent. Das sind verwirrend unterschiedliche Zahlen. In einer aktuelleren Arbeit aus dem Jahr 2005 versuchten N. Gregory Mankiw und Matthew Weinzierl eine etwas allgemeinere Aussage zu treffen und führten zahlreiche Erweiterungen ein, die das Modell näher an die Realität bringen sollten. Sie kamen unter anderem zu dem Schluss, dass die Wirtschaft sehr empfindlich auf Steueränderungen reagiert und sich Steuersenkungen so zum Teil selbst finanzieren können. In welchem Ausmaß dies geschieht, ist jedoch schwer vorauszusagen. Ob es überhaupt möglich ist, tatsächlich mehr einzunehmen, wenn man weniger Steuern verlangt – wie von Laffer beschrieben –, ist unklar.

Die realistische Simulation einer Volkswirtschaft ist eine schwierige Aufgabe. Auch wenn die Modelle komplex und ausgereift sind, geben sie die Wirklichkeit nur stark vereinfacht wieder, weil die Wirklichkeit noch komplexer und ausgereifter ist. Die Einkommensteuer zum Beispiel ist in vielen Ländern (unter anderem in Deutschland) progressiv – für höhere Einkommen gelten auch höhere Steuersätze. So kann es sein, dass für eine bestimmte Einkommensgruppe ein Laffer-Effekt eintritt, weil die Steuern zu hoch sind, für alle anderen aber nicht. Zudem erzeugen viele Ausnahmen, Sonderregelungen und Ausnahmen von Sonderregelungen einen undurchdringlichen, komplizierten Wirrwarr im Steuersystem, der es beinahe unmöglich macht, vorherzusagen, was passiert, wenn man irgendwo eine Kleinigkeit verändert. Mit unseren Steuersystemen haben wir über die Jahrhunderte vielbeinige Monster herangezüchtet, die schwer zu bändigen sind.

In Laffers Veröffentlichungen zu seiner Kurve findet man ausführliche Belege für seine Theorie, insbesondere bezogen auf Ereignisse in der jüngeren Geschichte der Vereinigten Staaten. Diskutiert werden unter anderem die Steuersenkungsprogramme unter den Präsidenten John F. Kennedy in den 1960ern und Ronald Reagan in den 1980ern. In beiden Fällen finden sich klare Hinweise, dass die Steuersenkung positive Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum hatte – das war aber gar nicht das Ziel. Eigentlich sollten sich die Gesamtsteuereinnahmen des Staates erhöhen, und das lässt sich schon nicht mehr eindeutig belegen. Schlimmer noch: Es wäre selbst im Erfolgsfall praktisch unmöglich, einen kausalen Zusammenhang zwischen Steuersenkungen und Veränderungen der Einnahmen des Staates nachzuweisen, weil es in der Rechnung viel zu viele Unbekannte gibt. Ein Beispiel: Die Gesamtsituation in der Volkswirtschaft hängt nicht nur von der Situation im eigenen Lande, sondern unter anderem auch von der Produktnachfrage im Ausland ab. So ist es vorstellbar, dass Menschen in Deutschland weniger amerikanisches Ketchup kaufen, weil im eigenen Land gerade eine neue Ketchupbilligmarke in den Läden aufgetaucht ist. Oder weil Deutschland eine Sonderketchupsteuer eingeführt hat, die die Menschen dazu bringt, verstärkt Senf zu verwenden.

Und letztlich kann man die gesamte Diskussion auf den Kopf stellen, indem man fragt, ob es überhaupt die Aufgabe des Staates sein sollte, seine Steuereinnahmen zu maximieren. Denn Steuern sind nicht nur eine Einnahmequelle des Staates, sondern können überdies zur Beeinflussung und Lenkung von Verhaltensweisen eingesetzt werden. Ein gutes Beispiel ist wiederum die eingangs angeführte Tabaksteuer: Wird sie nur erhoben, um mehr Einnahmen aus den Rauchern herauszupressen, oder soll sie im Gegenteil die Menschen dazu bewegen, das Rauchen aufzugeben? In letztgenanntem Sinne wären weniger Steuereinnahmen, also weniger verkaufte Zigaretten, sogar als Erfolg zu werten. Dies führt direkt zur Frage, inwieweit sich ein Staat in das Leben seiner Bürger einmischen sollte. Sind Staaten lediglich eine Art Wirtschaftsunternehmen, die bestimmte Leistungen anbieten (zum Beispiel den Bau von Straßen) und dafür über Steuern bezahlt werden? Oder haben sie zusätzlich die Aufgabe, sich um das Wohlergehen, die Erziehung und die Gesamtausrichtung der Gesellschaft zu kümmern? Abhängig davon, wie man diese Frage beantwortet, kann die Diskussion um die Laffer-Kurve am Ende auch vollkommen irrelevant sein.

Was man auch davon halten mag – die Grundidee der Laffer-Kurve jedenfalls ist von einer kaum zu überbietenden Schönheit und Klarheit: Wird eine an sich gute, nützliche Sache – Blutsaugen zum Beispiel – im Übermaß betrieben, so wirkt sie entgegen der ursprünglichen Absicht und ist somit schädlich. Diese Idee führt daher direkt zu einer Generalkritik am Übermaß. Essen ist lebensnotwendig und prinzipiell eine gute Idee, zu viel jedoch ist ungesund und führt zur Verfettung. Medikamente helfen nur, wenn sie nicht in Überdosis eingenommen werden. Strafen haben bestenfalls dann einen erzieherischen Effekt, wenn sie nicht zu kurz oder zu lang, sondern angemessen ausfallen. Nur Alexander Solschenizyn ist da anderer Meinung und behauptet, dass Haftstrafen unter 25 Jahren nur verrohen, alles darüber jedoch sittigend wirke. Hoffentlich kommt nie jemand auf die Idee, diese Philosophie aufs Steuersystem zu übertragen.

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