Tiergrößen

Da sprach das Kalb
zur Kuh:
ich bin halb
so groß wie du.
Ich reich dir bis zum Euter
und nicht weiter
Arnold Hau

Manche Tiere haben Hörner und Bärte, andere haben Flossen, Flügel, Tentakel, haarige Beine oder nichts davon, aber eins haben alle Tiere: eine Körpergröße. Und weil die sich sogar bei toten, ja selbst versteinerten Tieren leicht messen und mit der anderer Tiere vergleichen lässt, ist sie ein oft und gern untersuchtes Thema. Einiges hat man dabei herausgefunden: Zum Beispiel sterben kleinere Tiere früher, produzieren schneller zahlreichere Nachkommen und essen – relativ zu ihrer Größe – mehr als große Tiere. Und es gibt viel mehr kleine Tierarten als große: Betrachtet man etwa die Landsäuger, so wiegen 75 Prozent von ihnen weniger als ein Kilogramm.

Eine grundlegende Schwierigkeit ist, dass man beim Durchzählen und Vermessen der Tierwelt bislang viele Tierarten übersehen hat. Derzeit sind etwa 1,5 Millionen Tier- und Pflanzenarten bekannt und beschrieben, und nach vollbrachter Kartierung könnte man mit 5 Millionen dastehen oder aber, wie manche meinen, auch mit 50 Millionen. Diese 3,5 bis 48,5 Millionen unentdeckten Arten sind nicht alle winzig klein; jedes Jahr stecken ein paar neue große Säugetiere ihren Kopf aus dem Busch und verblüffen die Biologen. Das mit bloßem Auge gut sichtbare Vietnamesische Waldrind beispielsweise wurde 1993 erstmals beschrieben. Kleine Arten werden aber aus verschiedenen Gründen später aufgefunden als große: Erstens wollten die frühen Tierforscher vor allem große, auffällige Tiere entdecken, die ausgestopft den Neid der Nachbarn erwecken. Zweitens haben große Tiere größere Reviere, sodass man leichter über sie stolpert. Und drittens braucht man bessere, modernere Techniken, um kleine Tiere nicht mit ihren nahen Verwandten zu verwechseln, denn bei kleinen Tieren unterscheiden sich die Arten weniger stark voneinander. (Eine Art zeichnet sich, so eine gängige Definition, dadurch aus, dass ihre Angehörigen sich nicht mehr erfolgreich mit denen der Nachbararten fortpflanzen können.) Das alles bedeutet, dass es vermutlich nicht nur mehr, sondern viel mehr kleine Tierarten als große gibt.

Im Laufe des jahrzehntelangen Tiervermessens wurden einige Gesetzmäßigkeiten erkannt und beschrieben. Anscheinend nimmt die durchschnittliche Größe der Tiere einer Art, über lange Zeiträume betrachtet, normalerweise zu. Dieser Sachverhalt wird nach dem Paläontologen Edward Drinker Cope als «Copes Regel» bezeichnet. Sie ist nach wie vor umstritten, gewinnt aber in den letzten Jahren neue Anhänger. Eine Erklärung dieses Wachstumstrends fehlt allerdings. Vermutlich trägt eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren dazu bei: Größere Weibchen produzieren zum Beispiel mehr Eier, und größere Männchen haben mehr Erfolg bei der Fortpflanzung, kurz: Groß sein ist generell eine gute Strategie, das Überleben zu sichern.

Aber wenn Größe so viele Vorteile bietet, warum lässt sich dann bei vielen Tierarten überhaupt kein kontinuierliches Größenwachstum nachweisen? «Warum ist Copes Gesetz so wenig gesetzmäßig?», fragen sich die Forscher ratlos. Und warum gab es früher so ansehnliche Tiere wie den drei Tonnen schweren Riesenwombat in Australien oder den dreieinhalb Meter langen Riesenbiber in →Amerika, die heute ausgestorben sind? Wenn Copes Regel zutrifft, muss mindestens ein zweiter Mechanismus existieren, der dem Größenwachstum ein Ende macht. Die Paläobiologen Blaire van Valkenburgh, Xiaoming Wang und John Damuth stellten 2004 ein Erklärungsmodell zumindest für manche Teilbereiche vor: In den letzten 50 Millionen Jahren sind einige erfolgreiche große Raubsäuger entstanden und wieder ausgestorben, ohne dass man so genau wüsste, warum. Van Valkenburgh, Wang und Damuth zufolge spezialisierten sich die Tiere, wie man an ihren fossilen Gebissen ablesen kann, mit zunehmendem Größenwachstum auf eine reine Fleischernährung. Diese Spezialisierung wurde ihnen immer wieder zum Verhängnis, wenn sich die Umweltbedingungen änderten, während Allesfresser sich den neuen Verhältnissen flexibel anpassen konnten. Denkbar wäre also, dass es sich für das einzelne Tier lohnt, wenn es seine Artgenossen überragt, und auch ganze Arten kurzfristig vom Größerwerden profitieren, mittelgroße Arten aber auf lange Sicht bessere Chancen haben. Und wer klein bleibt, profitiert nicht zuletzt davon, dass alles schneller geht: Groß werden dauert seine Zeit, sodass die Wahrscheinlichkeit steigt, vor Erreichen des fortpflanzungsfähigen Alters Parasiten oder Fressfeinden zum Opfer zu fallen.

Ohnehin können Tiere auch in guten Zeiten nicht beliebig groß werden. Für Insekten, die durch Tracheen atmen, ist der Sauerstoffgehalt der Luft der limitierende Faktor, weil ab einer bestimmten Körpergröße nicht mehr genug Sauerstoff ins Körperinnere gelangt; deshalb haben etwa Libellen heute keine Spannweite von 70 Zentimetern mehr wie im Oberen Karbon – damals enthielt die Erdatmosphäre mehr Sauerstoff als heute. Tiere ohne Tracheen haben dafür andere Probleme, denn mit zunehmender Körpermasse wachsen ihre Lebenshaltungskosten. Bei der Ernährungsumstellung von kleinen Beutetieren auf große steigt der Energiebedarf von Raubtieren überproportional an, denn jetzt genügt es nicht mehr, der Beute entspannt aufzulauern oder sie einfach einzusammeln, sondern sie muss gejagt und erlegt werden. Die Zoologen Chris Carbone, Amber Teacher und Marcus Rowcliffe berechnen daher für Raubsäuger ein maximal mögliches Körpergewicht von 1100 kg (zum Vergleich: Heute wiegt der größte Raubsäuger, der Eisbär, etwa 500 kg). Die sehr viel größeren Raubsaurier, so vermuten sie, kamen wohl mit einem wesentlich sparsameren Stoffwechsel durchs Leben. Die geschätzte Stoffwechselrate der größten Raubsaurier, die bis zu neun Tonnen wogen, entspricht der eines Säugetiers mit einem Gewicht von etwa einer Tonne. Daran schließt sich die verwandte Frage an, ob es eine optimale Größe gibt, die alle Tiere annehmen würden, wenn sie keine Fressfeinde und jederzeit genug zu essen hätten. Manche Fachleute nehmen an, dass Tiere unter diesen idyllischen Bedingungen langfristig auf eine Körpermasse von einem Kilogramm oder weniger zusammenschnurren würden. Andere glauben gar nicht an eine solche optimale Größe.

Die Größe eines Tiers hängt irritierenderweise auch mit der Größe der Landmasse zusammen, auf der es wohnt. Das bedeutet nicht, dass in Luxemburg ganz, ganz kleine Eichhörnchen leben, sondern dass große Arten offenbar schrumpfen, wenn sie auf Inseln ziehen oder durch das Verschwinden einer Landbrücke zu Inselbewohnern werden. So gab es noch bis vor etwa 2500 Jahren auf einigen Mittelmeerinseln Elefanten mit einer Schulterhöhe von nur einem Meter. Auch vom Wrangel-Mammut ist bekannt, dass es nach dem Abreißen der Landverbindung zwischen Sibirien und der Wrangelinsel im Lauf von nur 500 Generationen auf die für Mammutverhältnisse handliche Größe von 1,80 Meter schrumpfte. Kleinerer Lebensraum, kleineres Tier – es könnte alles so einfach sein. Aber da in der Natur selten irgendwas einfach ist, neigen viele Arten wiederum dazu, auf Inseln größer zu werden als auf dem Festland. Diese beiden Phänomene beschreibt das nach dem Zoologen J. Bristol Foster benannte Foster-Gesetz. Kleine Tiere werden, so stellte Foster in den 1960er Jahren fest, auf Inseln größer, große aber kleiner. Auch das stimmt wohl nur so ungefähr: Hasenartige, Fledermäuse, Paarhufer, Elefanten, Füchse, Waschbären, Schlangen, Schienenechsen und Echte Eidechsen sind auf Inseln oft kleiner als anderswo, bei Wühlern, Leguanen, Schildkröten und Bären ist es umgekehrt. Und der Komodowaran, eines der größten Reptilien der Welt, besteht darauf, auf einer Insel recht bescheidenen Ausmaßes zu leben. In der Frage, warum das alles so ist, hat man sich bisher nicht geeinigt. Pflanzenfresser unterliegen vermutlich anderen evolutionären Einflüssen als Raubtiere, und bereits vorhandene Tiere können aufgrund von Nahrungsbegrenzung und Konkurrenz schrumpfen, während neu einwandernde Tiere häufig eine konkurrenzfreie Umwelt vorfinden und deshalb größer werden. Es gibt diverse Abwandlungen der Inselregel für andere Lebensbereiche wie etwa die Tiefsee. Eine davon besagt, dass Fische in kleineren Flüssen kleiner bleiben als Fische in größeren Gewässern. Die Abwesenheit von Haifischen in Bächen scheint für diese These zu sprechen, bewiesen ist aber noch nichts.

Die Arbeit der Biologen wird dadurch nicht leichter, dass Tiere, diese flatterhaften Geschöpfe, sich offenbar von vielen verschiedenen Auslösern zu Größenänderungen bewegen lassen. Die Paläobiologen Gene Hunt und Kaustuv Roy veröffentlichten 2006 eine Studie über eine Muschelkrebsart, die im Verlauf der letzten 40 Millionen Jahre nur dann an Größe zunahm, wenn sich ihre Umgebung abkühlte – in Zeiten gleich bleibender Temperaturen passierte gar nichts. Die Beweggründe der Muschelkrebse ähneln womöglich denen der heute lebenden Tiere, die in kälteren Gegenden größer sind als ihre nahen Verwandten in wärmeren Regionen. Die 1847 von dem Anatom und Physiologen Carl Bergmann aufgestellte Bergmann-Regel beschreibt dieses Phänomen, das auf das Verhältnis von Körperoberfläche zu Volumen zurückgeführt wird: Ein großes, dickes Tier ist leichter zu beheizen als ein kleines; aus demselben Grund gibt es in sehr kalten Gegenden keine kleinen warmblütigen Tiere. Manche Tiere scheren sich nicht um die Bergmann-Regel, dafür folgen ihr auch einige wechselwarme Tiere wie die Schildkröten, die eigentlich gar keinen guten Grund dazu haben dürften, während andere, namentlich die Echsen und Schlangen, mit abnehmender Temperatur kleiner werden. Und der Biologe Wayne A. van Voorhies meldete sich 1996 mit der Beobachtung zu Wort, die einzelnen Zellen eines bei Biologen beliebten Experimentiertiers, des Fadenwurms Caenorhabditis elegans, würden bei Temperaturen von zehn Grad Celsius um 33 Prozent größer als bei 25 Grad. Tschechische Forscher wiesen 2005 für bestimmte Gecko-Arten einen Zusammenhang zwischen der Größe ihrer roten Blutkörperchen und der Gecko-Gesamtgröße nach. Manche Tiere sind also womöglich nicht nur deshalb groß, weil sie aus zahlreicheren Zellen bestehen als kleine Tiere, sondern auch, weil diese Zellen größer sind.

Insgesamt bleiben die Wachstumsgewohnheiten der Tiere schwer durchschaubar. Ziemlich wahrscheinlich ist, dass unterschiedliche Kräfte zur gleichen Zeit an den Tieren zerren und ihre Größe beeinflussen. In der Welt der unbelebten Gegenstände sind ähnliche Vorgänge zu beobachten: Schiffe werden immer größer, Telefone aber gleichzeitig immer kleiner. Warum das alles so und nicht umgekehrt ist, wird die Wissenschaft sicherlich demnächst herausfinden.

Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt
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