Gähnen

Bei Ermüdung und Schlafbedürfnis ist das Gähnen eine natürliche Äußerung, die nicht unangenehm ist. (…) Bei wirklicher Ermüdung gebe man nach und lege sich hin.
Dr. med. Anna Fischer-Dückelmann: «Die Frau als Hausärztin»

Um es gleich vorwegzunehmen: Gähnen ist nicht zwangsläufig auf Langeweile oder Müdigkeit zurückzuführen. Bei Olympischen Spielen kann man oft beobachten, dass Spitzensportler unmittelbar vor dem entscheidenden Wettkampf ausgiebig gähnen. Und das, obwohl es garantiert nicht langweilig ist, vor einem Millionenpublikum um die Wette zu laufen, so hört man jedenfalls. Einig sind sich alle Experten nur darin, dass Gähnen ansteckend ist. Warum das so ist und warum wir überhaupt gähnen, ist unbekannt. Alle Leser, bei denen die folgenden Ausführungen zu einem Gähnen führen, sollten sich darum als Probanden eines Experiments im Rahmen der weltweiten Gähnforschung begreifen.

Gähnen oder allgemeiner ein gelegentliches Mundaufsperren ist eine verbreitete Angewohnheit. Bei vielen Wirbeltieren hat man es beobachtet, unter anderem bei Fischen, Vögeln, Schlangen, Elefanten, und zahllosen anderen Tierarten. Menschen beginnen damit bereits im Mutterleib, in einem Alter, in dem sie ansonsten noch fast gar nichts können. Ausgelöst wird der Gähnprozess offenbar durch einen ganzen Cocktail aus Hormonen, denen man hilflos ausgeliefert ist. Menschen mit Krankheiten wie Schizophrenie gähnen einzelnen Berichten zufolge wesentlich seltener als normal, andere Krankheiten führen dagegen zu einer erhöhten Gähnrate. Gesunde Menschen gähnen am häufigsten kurz nach dem Aufwachen und kurz vor dem Einschlafen. Andere Lebewesen, männliche Ratten etwa, entwickeln beim Gähnen ab und zu eine Erektion. Wieder andere gähnen, so liest man manchmal, vorzugsweise in Gesellschaft. Gähnen in Verbindung mit dem Zeigen der Zähne gilt unter Affen als Drohgeste, was schon Charles Darwin auffiel. Wie bereits erwähnt, ist Gähnen ansteckend, nicht nur bei Menschen, sondern zumindest auch bei Schimpansen und Makaken, allerdings nicht bei Säuglingen. Männer gähnen wahrscheinlich häufiger als Frauen, und in Ausnahmefällen kann zu ausgiebiges Gähnen zu einer schmerzhaften Ausrenkung des Kiefergelenks führen. Langweilig ist die Gähnforschung jedenfalls selten.

Oft hört man, die Ursache des Gähnens sei Sauerstoffmangel. Angeblich, so der Volksglaube, gähnen Menschen, wenn sie in schlecht durchlüfteten Räumen sitzen, und zwar, um durch das weite Aufsperren des Mundes an mehr Luft zu kommen. Dieser Gedankengang ist vermutlich zu simpel, um wahr zu sein. Schon einfache Plausibilitätsüberlegungen erwecken leise Zweifel: Warum gähnen Löwen beim Herumliegen in der Savanne? Sauerstoffmangel etwa? Warum gähnen ungeborene Babys im Mutterleib, wo sie doch durch die Nabelschnur (und nicht durch den Mund) mit Sauerstoff versorgt werden? Warum gähnt man dann nicht viel häufiger bei sportlichen Aktivitäten, wenn man also viel Sauerstoff verbraucht? Aufgabe der Wissenschaft sollte es sein, für klare Verhältnisse zu sorgen, und genau das hat der Psychologe Richard Provine mit seinen Mitarbeitern Ende der 1980er Jahre getan: Die Forscher maßen, ob die vermehrte Zufuhr von Sauerstoff das Gähnen reduziert und ob die Zufuhr von «verbrauchter», also mit Kohlendioxid angereicherter, Luft zu mehr Gähnen führt. Und schließlich überprüften sie auch, ob sportliche Aktivität zum Gähnen anregt. Das Ergebnis war in allen Fällen eindeutig negativ – «schlechte Luft» und Sauerstoffmangel sind möglicherweise Ursachen von Müdigkeit, aber wahrscheinlich eher nicht Auslöser des Gähnens. So wünscht man sich Forschung – Theorie, Experiment, Theorie widerlegt, fertig.

Provine, der sein Gähninteresse als «pervers» bezeichnet, zeigte sich zunächst überrascht von seinen Ergebnissen. Er glaubt seitdem, dass Gähnen nichts mit der Atmung zu tun hat, sondern mit einer Änderung des Wachheitszustandes, dass es also dann auftritt, wenn Menschen entweder müde werden oder munter. Sein Kollege Ronald Baenninger liefert für den zweiten Fall einige experimentelle Belege. Er bat Testpersonen, den ganzen Tag bewegungsempfindliche Armbänder zu tragen und diesem Gerät per Knopfdruck jedes Gähnen zu melden. Dabei kam heraus, dass Gähnen typischerweise Phasen hoher Aktivität vorausgeht. So ähnlich verhalten sich womöglich auch einige Tiere: Der männliche Siamesische Kampffisch zum Beispiel sperrt vor dem Angriff ausgiebig sein Maul auf, ein Vorgang, der dem Gähnen zumindest ähnlich sieht, obwohl es auch etwas ganz anderes darstellen könnte. Das Problem: Siamesische Kampffische lassen sich keine Armbänder anlegen.

Vielleicht erklärt dieser Ansatz die seltsame Gähnhäufigkeit bei Marathonläufern kurz vor dem Start, bei Fallschirmspringern vor dem Sprung und Studenten vor dem Examen: Sie werden gerade richtig wach. Es kann sein, dass beim Mundaufsperren ein zusätzlicher Schub Blut ins Hirn gepumpt und so irgendwie die Aufmerksamkeit erhöht wird. Wenn das stimmt, wäre Gähnen eine Art Kickstart des Gehirns. Aber warum gähnen wir dann auch beim Müdewerden, wie jeder bestätigen kann? Dient Gähnen in diesem Fall als ein Alarm, um dem Körper klarzumachen, dass es so nicht weitergeht?

Übrigens kann man Gähnen auslösen, wenn man es sich nur vorstellt beziehungsweise angestrengt darüber nachdenkt. Deshalb ist es auch ganz normal, wenn man beim Lesen über die Gähnforschung häufig gähnend innehält. Seit einigen Jahren nutzen Gähnforscher die modernen Verfahren der Neurologie und erzeugen Bilder der Hirnaktivität während des Gähnvorganges: Man steckt Probanden in eine Metallröhre (den MR-Scanner) und zeigt ihnen Gähnvideos – nicht etwa ausgesucht langweilige Filme, sondern Filme von gähnenden Menschen. Eine deutsch-finnische Arbeitsgruppe fand dabei 2005 Hinweise auf die Ursache des ansteckenden Gähnens: Es handelt sich dabei, ihren Ergebnissen zufolge, nicht einfach um eine Imitation des Verhaltens anderer. Genauer: Es ist kein Lernprozess in dem Sinne, dass wir uns ansehen, was der andere tut, und es dann nachmachen. Die für solche Lernvorgänge verantwortlichen Hirnareale, Spiegelneuronen genannt, werden nämlich durch Gähnvideos nicht stärker aktiviert als durch vergleichbare Videos ohne Gähnen. Wir müssen also nicht verstehen, wie ein anderer gähnt, um es selbst zu tun, es geschieht vollkommen automatisch. Deshalb wird spekuliert, es handele sich beim Gähnen um einen uralten Mechanismus, der eventuell zur Kommunikation in einer Gruppe und zur Synchronisation von Gruppenverhalten eingesetzt wird. «Los, Angriff!» oder «Achtung Feind!» oder aber auch «Gehen wir schlafen!» könnte die Nachricht sein, die dahintersteckt. Möglicherweise war Gähnen also ehemals eine schnelle und effektive Methode, die lebensnotwendigen Dinge ohne viel Gerede zu klären.

Der Hirnforscher Steven Platek und seine Gruppe dagegen kommen im Rahmen ihrer Gähnexperimente zu einem anderen Schluss. Nach ihrer These ist die Gähnansteckung ein Akt des Mitgefühls, eine Ansicht, die schon in den 1970er Jahren geäußert wurde. Um ihre Theorie zu testen, verglichen Platek und Kollegen im Jahr 2003 das Gähnverhalten von Menschen, bei denen durch Persönlichkeitstests entweder eine besonders hohe oder besonders niedrige Empathiefähigkeit festgestellt wurde. Auch hier wurden Gähnvideos vorgeführt, und tatsächlich zeigte sich der erwartete Effekt: Probanden, die sich gut in andere Menschen hineinversetzen können, waren leichter zum Gähnen zu bringen als weniger einfühlsame Testpersonen. Um das Ergebnis zu überprüfen, griffen Platek und Co. wiederum zu hirnabbildenden Verfahren. In der Tat werden beim Gähnen bestimmte Hirnareale aktiviert, von denen man annimmt, dass sie eine Rolle bei der Ausbildung von Mitgefühl spielen. Eventuell bedeutet das Mitgähnen also gar nicht «Mir ist auch langweilig», sondern stattdessen «Ich leide mit dir». Ob dieses Mitgefühl die Langeweile lindert, sei dahingestellt.

Das große Problem sind die stark unterschiedlichen Kontexte, in denen Gähnen auftritt. Zum einen gibt es vermutlich eine rein körperliche Komponente, man gähnt entweder, um tief einzuatmen, den Kreislauf anzuregen oder einfach als Dehnübung der Gesichtsmuskeln. Außerdem öffnet Gähnen die Verbindung zwischen Mundhöhle und Ohr, die eustachische Röhre, und sorgt so für Druckausgleich im Mittelohr, zum Beispiel bei Erkältungen oder bei der Flugzeuglandung. Gähnen ist daher gesund, darüber sind sich die Experten einig. Zum anderen aber scheint Gähnen eine soziale, kommunikative Komponente zu haben, ob es nun aus Mitleid geschieht oder um Handlungen zu synchronisieren. In diesem Rahmen spielt das ansteckende Gähnen wahrscheinlich eine große Rolle. Es klingt erschreckend, aber offenbar führen wir unbewusste Gähngespräche unklaren Inhalts. Das können wir übrigens auch nicht verhindern, indem wir uns die Hand vor den Mund halten. Das Gehirn ist schlau genug, trotzdem zu erkennen, dass der andere gähnt.

Egal, warum man letztlich gähnt, der eigentliche Vorgang des Mundaufsperrens sieht trotz der vielfältigen Ursachen auf bewundernswerte Weise immer genau gleich aus. Die komplexe Bedeutung des Gähnvorgangs ist einzigartig, vor allem, wenn man bedenkt, dass andere unfreiwillige Anstrengungen des Körpers wie Niesen, Husten oder Lachen viel weniger vielseitig einsetzbar sind. Das Gähnen scheint eine Allzweckwaffe zu sein, von der Evolution erdacht, um unserem ohnehin schon bizarren Dasein eine neue, absonderliche Komponente hinzuzufügen.

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