Indus-Schrift

Nachdem sie dies getan hatten, brachten sie die Opfer dar, wie es der Sitte entsprach, um nicht fehlender Frömmigkeit geziehen zu werden.
Allzweck-Übersetzung lateinischer Inschriften, aus Henry Beard: «The Complete Latin For All Occasions»

Das Indus-Tal gilt als eins der Zentren früher Schriftkultur, seit britische Archäologen 1872 im heutigen Grenzgebiet zwischen Pakistan und Indien die ersten Siegel der 5000 Jahre alten Harappa-Kultur fanden. Heute sind insgesamt vier- bis fünftausend beschriftete Gefäße, Tonscherben, Siegel aus Stein und Metall, Amulette, Kupfertafeln, Waffen und Werkzeuge bekannt. Die Schrift selbst aber bleibt unentziffert, die verwendete Sprache unbekannt. Es gibt über hundert veröffentlichte Entschlüsselungsversuche, und für jede widerlegte Theorie wächst eine neue nach.

Falls es gelingt, die Indus-Schrift zu entziffern, wird die Welt der Literatur kaum reicher sein, denn die längste bekannte Indus-Inschrift ist gerade mal 17 Zeichen lang, und die durchschnittliche Inschrift hat keine fünf Zeichen, was bestenfalls für Erzählungen vom Format «boy meets girl» reicht. Trotzdem wäre es von großem Interesse, in welcher Sprache hier geschrieben wurde. Falls es sich überhaupt um eine Sprache handelt: Der Historiker Steve Farmer, der Indologe Michael Witzel und der Linguist Richard Sproat vertreten wegen ebenjener Kürze der Inschriften die These, dass die Indus-Symbole eher als Wappen, Eigentumsnachweis oder Gutschein, also schlicht zur Identifikation dienen. Hätte man es mit einer echten Schrift zu tun, müssten in den Inschriften mehr Symbolwiederholungen auftauchen, so kennt man das zumindest aus Aufzeichnungen in anderen Schriften.

Für die traditionelle Schriftthese spricht andererseits die Anordnung der Symbole in Zeilen und nicht etwa in einem hübschen Muster oder dort, wo gerade Platz ist. Gegen Ende der Zeile wird es manchmal eng, so als habe der Schreiber ein Wort nicht trennen wollen. Nach Ansicht der Schriftverteidiger sind die überlieferten Texte nur deshalb so kurz, weil längere Texte auf Material niedergelegt wurden, das die 5000 Jahre nicht überdauert hat. Farmer, Witzel und Sproat weisen wiederum darauf hin, dass alle bekannten antiken Schriftkulturen längere Texte auf haltbaren Materialien hinterlassen haben, auch die, von denen wir überwiegend kurze Notizen kennen. (Wenn allerdings nicht bald Geräte auf den Markt kommen, die Festplatten-Backups auf Tontafeln brennen, werden wir womöglich einst selbst zu den Kulturen gehören, von denen nur einige rätselhaft beschriftete Jackenknöpfe bleiben.)

Steve Farmer hat im Jahr 2004 einen Preis von 10 000 US-Dollar für denjenigen ausgesetzt, der die erste Indus-Inschrift von über 50 Zeichen Länge findet. Es reicht allerdings nicht, beim nächsten Pakistanurlaub eine Tafel aus dem Schutt zu ziehen oder die Symbole eigenhändig in einen Stein zu ritzen, denn das Beweisstück muss aus einer offiziellen Ausgrabung stammen und von Fachleuten als echt anerkannt werden.

Falls die Skeptiker recht haben und die Indus-Symbole tatsächlich nur «Hier absolutes Halteverbot» oder «Zertifizierte Qualität aus Harappa» bedeuten, gibt es für Freunde der Denksportaufgabe aber noch genügend unentschlüsselte Schriften zur Auswahl: Linear A, Meroitisch, die protoelamische Bilderschrift, etwa 25 Rongorongo-Tafeln von den Osterinseln, um die 13 000 etruskische Inschriften, der «Diskos von Phaistos» und, reizvoll für Fortgeschrittene, der als hoffnungslose Aufgabe geltende «Block von Cascajal». Alles, was man braucht, sind solide Kenntnisse einiger ausgestorbener Sprachen und etwas Geduld.

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