Kugelsternhaufen

Wer einen Apfelkuchen ganz ohne Fertigzutaten machen will, muss als Erstes das Universum erschaffen.
Carl Sagan: «Cosmos»

Nehmen wir einmal an, jeder Stern am Himmel ist ein einzelnes, beleuchtetes Haus. Dann muss man Galaxien wie unsere Milchstraße als Großstädte bezeichnen, in denen mehrere hundert Millionen Häuser sich in überwiegend sinnvollen Strukturen anordnen. In diesem Bild sind Kugelsternhaufen die Vorstädte: Sie liegen verstreut in der näheren Umgebung der Galaxie und bestehen selbst aus zigtausend Häusern. Die Milchstraße zum Beispiel verfügt über einen Halo aus etwa 150 Kugelsternhaufen. Weil sie aber alle weit weg sind, sehen selbst die größten von ihnen mit dem Fernglas nur wie verwaschene, runde Nebelflecken aus. Je größer aber das Fernrohr wird, mit dem man den Himmel betrachtet, umso deutlicher erkennt man, womit man es zu tun hat: mit einer überdimensionalen Wunderkerze voller Sterne nämlich. Warum Galaxien von Kugelsternhaufen umgeben sind und wie diese großen Sternansammlungen entstehen, das ist trotz großer Fortschritte in den letzten Jahren bis heute nicht aufgeklärt.

Sobald man nah genug dran ist, um einzelne Sterne erkennen zu können, kann man das Alter der Kugelsternhaufen zuverlässiger bestimmen als das von Tierheimhunden. Man findet heraus, dass die meisten von ihnen vor rund 10 – 14 Milliarden Jahren entstanden sind, was erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass das gesamte Universum nach aktuellen Erkenntnissen auch nicht älter ist. Damit wären Kugelsternhaufen so etwas wie das Stonehenge des Universums: Überreste aus einer Zeit, von der wir ansonsten wenig wissen. Sie sind so antik, dass man hofft, mit ihrer Hilfe mehr über die Kindheit des Weltalls herauszufinden, über die Zeit, in der die ersten Sterne und Galaxien entstanden.

Frühe Theorien zur Entstehung von Kugelsternhaufen gingen oft davon aus, dass es sich bei ihnen um die Vorläufer von Galaxien handelt – erste zaghafte Versuche des Universums, seine frischgebackenen Sterne ordentlich anzuordnen. Erst danach, so diese «primären» Szenarien, seien die Kugelhaufen von den später entstandenen Galaxien einverleibt worden. Seit den 1980er Jahren nimmt man immer mehr Abstand von solchen Modellen, weil sich herausstellte, dass Kugelsternhaufen und Galaxien nicht zufällig zusammengewürfelt sind, sondern sich offenbar schon länger kennen. So entdeckte man unter anderem einen Zusammenhang zwischen der chemischen Zusammensetzung der Sterne in den Haufen und der Gesamthelligkeit ihrer jeweiligen Muttergalaxie, was auf eine gemeinsame Vergangenheit hindeutet. Seitdem glaubt man, dass die Haufen entweder gleichzeitig mit den Galaxien entstanden oder später in der schon fertigen Galaxie. Man hofft daher, mit Hilfe der Kugelhaufen herausfinden zu können, wie Galaxien geboren werden und wie sie ihre Kindheit verbringen – zwei weitere große Probleme der Astronomie.

Auch mit den besten Teleskopen ist das Gewimmel im Zentrum von Kugelsternhaufen kaum überschaubar. Mehrere hundert Sterne sind dort in einem Kubiklichtjahr zusammengepfercht, ein astronomisch betrachtet winziges Volumen. Zum Vergleich: Der nächste Nachbar der Sonne ist mehr als vier Lichtjahre entfernt. Das allgemeine Prinzip der Entstehung von solchen Sternenansammlungen ist uns immerhin bekannt: Sie bilden sich aus einer riesigen Wolke aus Gas und Staub. Stabil ist so eine Wolke, wenn die eigene Schwerkraft, die danach strebt, alles auf möglichst kleinem Raum zusammenzupressen, durch andere Kräfte ausgeglichen wird. Eine dieser anderen Kräfte ist die in der Wolke gespeicherte Hitze; wird das Material wärmer, dehnt es sich aus und wirkt daher der Schwerkraft entgegen. Bringt man dieses schöne Gleichgewicht durcheinander, zum Beispiel, indem man die Wolke plötzlich komprimiert, dann gewinnt die Schwerkraft, und die Wolke kollabiert unter ihrem eigenen Gewicht – es entstehen Ansammlungen von Sternen. Aus irgendeinem Grund schaffen es gewöhnliche Spiralgalaxien wie unsere Milchstraße heute nicht mehr, auf diese Weise neue, große Kugelsternhaufen herzustellen, stattdessen ziehen sie es vor, nur noch zögerlich neue Lichter an den Himmel zu bauen. Aber warum ist das so?

Eine der Theorien zur Entstehung von Kugelsternhaufen handelt von Galaxienverschmelzungen, großangelegten Verkehrsunfällen, in denen aus zwei Galaxien eine wird. Man vermutet schon länger, dass große, elliptisch geformte Galaxien durch die Verschmelzung zweier Spiralgalaxien entstehen könnten. Wenn das so ist, so argumentierte Astronom Sidney van den Bergh 1984, warum beobachtet man dann in elliptischen Galaxien nicht die Summe der Anzahl der Kugelsternhaufen zweier Spiralgalaxien, sondern deutlich mehr? Die mutmaßliche Antwort lieferten die Amerikaner Keith M. Ashman und Stephen E. Zepf im Jahr 1992: Bei der Kollision entstehen Bedingungen, die die Entstehung neuer Kugelsternhaufen ermöglichen, sodass die neue Galaxie am Ende mehr Haufen hat als die Summe ihrer Teile.

Das Ashman-Zepf-Modell gewann in den 1990er Jahren das Wohlwollen vieler Experten, vorwiegend aus zwei Gründen: Es sagt unter anderem voraus, dass es in elliptischen Galaxien zwei Arten Kugelsternhaufen geben müsste, die einen alt und mit langem Bart, die anderen erst später beim Verschmelzen von Galaxien entstanden. Wie man mittlerweile herausgefunden hat – hauptsächlich mit Hilfe des Hubble-Weltraumteleskops und dessen scharfem Blick auf das Weltall –, existiert eine solche Zweiteilung der Kugelsternhaufen tatsächlich: Ein Teil der Haufen ist «metallarm», was bei Astronomen meist gleichbedeutend ist mit «sehr alt», weil das jugendliche Weltall nur aus Wasserstoff und Helium bestand und sich alle schweren Elemente, Metalle zum Beispiel, erst nach und nach bildeten. Der andere Teil dagegen ist «metallreich» – und daher vielleicht erst später bei der Galaxienkollision entstanden, so jedenfalls dieses Modell. Die zweite in diesem Zusammenhang wichtige Entdeckung der letzten Jahre: Wenn Galaxien zusammenstoßen, entstehen tatsächlich extrem massereiche Sternhaufen, die heute meist für seltene Fälle von jungen Kugelhaufen gehalten werden.

Auf der anderen Seite jedoch kämpft das Ashman-Zepf-Szenario mit einigen Schwierigkeiten. Zum Beispiel zeigen einige Untersuchungen, dass Galaxien, die besonders viele Kugelsternhaufen besitzen, einen hohen Anteil an metallarmen Haufen aufweisen. Im Rahmen des Kollisionsmodells sollte man genau das Gegenteil erwarten, je öfter es zu Zusammenstößen kommt, umso mehr metallreiche Kugelsternhaufen sollten sich ansammeln. Eine alternative Möglichkeit, die zwei unterschiedlichen Arten von Kugelsternhaufen zu erklären: Zunächst trägt jede Galaxie ihre eigene Schar Haufen mit sich herum. Im Laufe der Zeit, und Zeit hat das Universum genug, streunen die Galaxien herum, und immer, wenn sie sich begegnen, saugen die größeren unter ihnen einige Haufen von den kleineren ab. Diese Vorstellung hilft unter anderem dabei, einen seltsamen Unterschied zwischen der Milchstraße und dem Andromedanebel, beides Spiralgalaxien ähnlicher Bauart, zu verstehen: Während in der Milchstraße vermutlich alle Kugelsternhaufen uralt sind, häufen sich in letzter Zeit die Hinweise auf die Existenz einiger «junger» Kugelhaufen im Andromedanebel – das heißt: nicht älter als fünf Milliarden Jahre. Die Beweislage ist noch nicht erdrückend, aber womöglich hat der Andromedanebel diese brandneuen Kugelsternhaufen von seinen kleinen Nachbargalaxien gestohlen.

Aber auch das Modell der kannibalisierenden Galaxien hat Probleme, die komplizierten Beziehungen zwischen Kugelhaufen und ihren Muttergalaxien zu erklären. Andere Experten vermuten, es handele sich zumindest bei einigen Kugelhaufen gar nicht um Sternhaufen, sondern um die unverdaulichen Kerne von ehemaligen Zwerggalaxien, deren sonstige Bestandteile sich die Muttergalaxie einverleibt hat. Klar ist mittlerweile, dass Galaxien keinesfalls einzelgängerisch veranlagt sind, sondern im Gegenteil ein bewegtes Sozialleben führen. Sie stoßen zusammen, zerreißen, verschmelzen miteinander und essen sich gegenseitig auf, alles Vorgänge, bei denen man heute mit geeigneten Teleskopen zusehen kann. Diese Geschehnisse, so glaubt man heute, spielen sicherlich eine Rolle beim Zusammenbau der Galaxien und daher auch bei der Entstehung der Kugelhaufen. So kann man durch genaue Betrachtung der Kugelsternhaufen einer bestimmten Galaxie viel über ihr bewegtes Leben erfahren. Aber das Grundproblem – wo kommen die Haufen ursprünglich her? – lässt sich damit wohl eher nicht lösen.

Darum bleibt kaum eine andere Möglichkeit, als davon auszugehen, dass ein Großteil der Kugelsternhaufen, zumindest die metallarmen unter ihnen, mehr oder weniger gleichzeitig mit den Galaxien entstanden sein muss. Jeder Astronom, der eine Idee hat, wie man Galaxien zusammenbaut, und das Ganze im Computer simuliert, muss gleichzeitig mit der Galaxie eine Anzahl kugelförmiger Haufen produzieren. Weil man deren Eigenschaften – räumliche Verteilung, Anzahl, Masse, chemische Zusammensetzung – einigermaßen zuverlässig bestimmen kann, haben die Beobachter draußen an den Teleskopen gute Möglichkeiten, die Wirklichkeit mit den Vorhersagen der Simulationen zu vergleichen und so herauszufinden, welches der Modelle ihrer Theoretikerkollegen sinnvoll ist und welches nicht. Die Kugelsternhaufen dienen als Nagelprobe für unsere Vorstellungen vom frühen Universum.

Die ersten Sterne im Weltall entstanden vermutlich in großen Wolken aus Gas und →Dunkler Materie, den mutmaßlichen Vorgängern der Galaxien. Dieser Vorgang, etwa einige hundert Millionen Jahre nach dem Urknall, markiert das Ende des dunklen Zeitalters des Weltalls. Von «außen» muss es so ausgesehen haben, als würde jemand im dunklen Universum das Licht einschalten. Was aber dann genau die Entstehung der Kugelhaufen auslöst, für die man, wie gesagt, große Mengen Gas kurzzeitig komprimieren muss, ist eine offene Frage. Möglicherweise war es gerade das Licht der ersten Sterne, das den Wasserstoff aufheizte und so Dichtewellen durch die Gaswolken jagte, ähnlich wie ein ins vorher ruhige Wasser geworfener Stein. Rätselhaft ist außerdem, warum man in Kugelsternhaufen bisher keine Dunkle Materie gefunden hat, wo sie doch in einer Umgebung entstanden sein müssen, in der man nicht aus dem Haus gehen konnte, ohne knietief durch Dunkle Materie zu waten. Irgendwie haben die Haufen es geschafft, sich ihrer dunklen Schatten zu entledigen. Und schließlich wird weiterhin darüber spekuliert, wieso Kugelsternhaufen nur wenige Milliarden Jahre später ein wenig aus der Mode gerieten und das Weltall ihre Produktion offenbar stark zurückfuhr, sodass man sie heute nur noch gebraucht kaufen kann – wenn man nicht gerade, wie oben beschrieben, mit einer anderen Galaxie zusammenstößt.

Wie soll man diese Probleme lösen? Astronomen haben es leicht, sie verlangen einfach nach besserem Spielzeug: größere Teleskope, bessere Kameras und schnellere Computer. Solange man ihnen diese Wünsche nicht verweigert, werden sie alle Rätsel sicherlich noch vor den großen Sommerferien aufklären.

Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt
titlepage.xhtml
Lexikon_des_Unwissens_split_000.html
Lexikon_des_Unwissens_split_001.html
Lexikon_des_Unwissens_split_002.html
Lexikon_des_Unwissens_split_003.html
Lexikon_des_Unwissens_split_004.html
Lexikon_des_Unwissens_split_005.html
Lexikon_des_Unwissens_split_006.html
Lexikon_des_Unwissens_split_007.html
Lexikon_des_Unwissens_split_008.html
Lexikon_des_Unwissens_split_009.html
Lexikon_des_Unwissens_split_010.html
Lexikon_des_Unwissens_split_011.html
Lexikon_des_Unwissens_split_012.html
Lexikon_des_Unwissens_split_013.html
Lexikon_des_Unwissens_split_014.html
Lexikon_des_Unwissens_split_015.html
Lexikon_des_Unwissens_split_016.html
Lexikon_des_Unwissens_split_017.html
Lexikon_des_Unwissens_split_018.html
Lexikon_des_Unwissens_split_019.html
Lexikon_des_Unwissens_split_020.html
Lexikon_des_Unwissens_split_021.html
Lexikon_des_Unwissens_split_022.html
Lexikon_des_Unwissens_split_023.html
Lexikon_des_Unwissens_split_024.html
Lexikon_des_Unwissens_split_025.html
Lexikon_des_Unwissens_split_026.html
Lexikon_des_Unwissens_split_027.html
Lexikon_des_Unwissens_split_028.html
Lexikon_des_Unwissens_split_029.html
Lexikon_des_Unwissens_split_030.html
Lexikon_des_Unwissens_split_031.html
Lexikon_des_Unwissens_split_032.html
Lexikon_des_Unwissens_split_033.html
Lexikon_des_Unwissens_split_034.html
Lexikon_des_Unwissens_split_035.html
Lexikon_des_Unwissens_split_036.html
Lexikon_des_Unwissens_split_037.html
Lexikon_des_Unwissens_split_038.html
Lexikon_des_Unwissens_split_039.html
Lexikon_des_Unwissens_split_040.html
Lexikon_des_Unwissens_split_041.html
Lexikon_des_Unwissens_split_042.html
Lexikon_des_Unwissens_split_043.html
Lexikon_des_Unwissens_split_044.html
Lexikon_des_Unwissens_split_045.html
Lexikon_des_Unwissens_split_046.html
Lexikon_des_Unwissens_split_047.html
Lexikon_des_Unwissens_split_048.html
Lexikon_des_Unwissens_split_049.html
Lexikon_des_Unwissens_split_050.html
Lexikon_des_Unwissens_split_051.html
Lexikon_des_Unwissens_split_052.html