Schlaf

Bewusstsein, dieser lästige Zustand zwischen zwei Nickerchen.
Anonym

Säugetiere tun es, Vögel tun es, Reptilien tun es. Amphibien und Fische sind immerhin manchmal etwas unaufmerksamer als sonst, und wie man vor wenigen Jahren herausgefunden hat, schlafen sogar Insekten – obwohl man bei den Mücken nachts leider nicht viel davon merkt. Die Kleine Taschenmaus schläft mehr als 20 Stunden am Tag, die Giraffe dagegen nur zwei. Manche Tiere, wie die Gorillas, schlafen viele Stunden am Stück, andere, wie die Kühe und diverse kleine Nager, immer nur ein paar Minuten. Die einen schlafen nachts, die anderen tagsüber, und dämmerungsaktive Tiere wie die Fledermäuse haben zwei Wachphasen.

Das menschliche Schlafverhalten entwickelt sich erst nach und nach. Ein Säugling schläft (auch wenn die Klagen junger Eltern nicht darauf schließen lassen) immerhin 16 Stunden, verteilt über den ganzen Tag; beim Erwachsenen bleiben davon im Schnitt noch acht Stunden übrig. Die individuelle Schlafdauer schwankt stark, so variiert das Schlafbedürfnis beim Menschen zwischen vier und zehn Stunden. So viel ist bekannt. Aber was bewegt Mensch und Tier zu diesem seltsamen Verhalten? Warum erledigen einige Tiere das, was im Schlaf offenbar erledigt werden muss, in viel kürzerer Zeit als andere? Wie kommt es, dass das Schlafbedürfnis bei allen Landsäugetieren, einschließlich dem Menschen, im Laufe des Lebens abnimmt? Wem, außer den Bettenherstellern, nutzt der Schlaf überhaupt?

Die Schlafforschung ist eine relativ junge Disziplin. Sie entstand erst Ende der 1930er Jahre, als es durch die Erfindung des Elektroenzephalogramms möglich wurde, das Gehirn beim Schlafen zu beobachten. Schnell fand man heraus, dass beim Schlafen nicht, wie man bis dahin angenommen hatte, einfach das Licht im Kopf ausgeht, sondern dass sich dabei einiges bis heute nicht ganz Verstandenes tut. Es dauerte dann noch bis in die 1950er Jahre, bis man mit Hilfe der sogenannten Polysomnographie, einer Kombination mehrerer Messverfahren, zuverlässig die verschiedenen Schlafstadien und Schlaftiefen erkennen konnte. Da im Schlaf die Nervenzellen im Gehirn anfangen, im Takt zu feuern, und man diesen gemeinsamen Rhythmus (mit Hilfe einer sehr unkleidsamen Kabelmütze) messen kann, hat man den Schlaf anhand dieser Muster in fünf Stadien eingeteilt. Stadium I entspricht dem leichten Anfangsschlaf, im Stadium II verbringt man den größten Teil der Nacht, und in den Stadien III und IV findet der Tiefschlaf statt. Die fünfte Phase, der REM-Schlaf, unterscheidet sich grundlegend von den anderen vier: Das Gehirn ist so aktiv wie im Wachzustand, die Muskulatur aber völlig entspannt. Weckt man Testschläfer in REM-Schlafphasen, geben sie fast immer an, gerade geträumt zu haben. REM-Schlaf wurde bei so gut wie allen Säugetierarten nachgewiesen. Die Schlafstadien sind beim Menschen allerdings viel ordentlicher voneinander abgegrenzt als bei den meisten Tieren; man geht davon aus, dass ein Gehirn, das im Wachzustand mehr und schwierigere Dinge analysieren muss, auch nachts komplizierter schläft. Bei kleineren Tieren ist ein kompletter Schlafzyklus viel kürzer; die Kurzschwanzspitzmaus absolviert alle fünf Schlafphasen in nur 8 Minuten, der Elefant dagegen braucht fast zwei Stunden. Warum das so ist, weiß nicht einmal die Kurzschwanzspitzmaus selbst.

Weil es nicht leicht ist, direkt zu messen, was im Schlaf geschieht, kann man ersatzhalber untersuchen, was alles passiert, wenn man nicht schläft. Man setzt dazu eine Ratte auf eine von Wasser umgebene Plattform, die so klein ist, dass die Ratte nass wird, sobald sie sich beim Einschlafen entspannt. Ratten werden so ungern nass, dass sie in einer solchen Situation nicht schlafen können. Nach zwei bis vier Wochen Schlafentzug stirbt die Ratte aus unklarem Grund. Naheliegende Todesursachen wie Infektionen oder Herzversagen scheinen nicht im Spiel zu sein. Kritiker wenden allerdings ein, dass sich die Folgen der Schlaflosigkeit – ob für das Überleben oder auch nur für Stoffwechsel- und Gehirnfunktion – in diesen Experimenten nicht sauber von den Folgen der für die Ratte anstrengenden Ausnahmesituation unterscheiden lassen. Schlafentzug sei nun mal nicht einfach das Gegenteil von Schlaf, sondern ein abnormaler Zustand, aus dem man nicht viel über die Funktion des Schlafs lernen könne.

Die naheliegendste Vorstellung von dieser Funktion des Schlafs ist die sogenannte Erholungs- oder Reparaturtheorie: Wenn wir erschöpft sind, müssen wir schlafen, und da wir uns nach dem Aufwachen weniger müde fühlen, wird in dieser Zeit schon irgendeine Abnutzung im Körper rückgängig gemacht werden. So ganz kann das aber nicht stimmen. Zum einen müsste, wenn diese Hypothese zuträfe, eigentlich gerade die Giraffe nach ihrem 22-Stunden-Tag besonders lange schlafen. Das ist aber nicht der Fall: Je länger ein Tier wach ist, desto kürzer ist seine Schlafphase, denn Tiere halten sich (anders als etwa Programmierer) strikt an einen 24-Stunden-Tag. Zum anderen gibt es kaum Prozesse im Körper, von denen man sicher weiß, dass sie im Schlaf rückgängig gemacht werden. Zwar werden in den Schlafphasen III und IV vermehrt Wachstumshormone ausgeschüttet, und einige Indizien sprechen für einen – bisher unklaren – Zusammenhang zwischen Schlaf und der Regulation des Immunsystems. Der Nachweis wesentlicher Reparaturvorgänge ist aber bisher nicht gelungen.

Der Neuroendokrinologe Jan Born merkt dazu an, dass es zur Erholung nicht nötig wäre, das Bewusstsein abzuschalten. Erstens ist jedes Lebewesen in diesem Zustand durch Fressfeinde gefährdet, zweitens ist das Gehirn im Schlaf – insbesondere in der REM-Phase – gar nicht untätig, sondern sehr aktiv. Born vertritt die Gedächtnistheorie, nach der im Schlaf Lerninhalte verfestigt werden. Es gibt zahlreiche Experimente, in denen Versuchspersonen oder -tiere nach Schlafentzug bei verschiedenen Gedächtnisleistungen schlechter abschneiden. Aus diesen Experimenten lässt sich zwar eindeutig ableiten, dass Schlafentzug den Gedächtnisfunktionen abträglich ist, das beweist aber noch nicht umgekehrt, dass im Schlaf wichtige Gedächtnisprozesse ablaufen. Manche Forscher vermuten, dass Wissen sich nur schwer direkt ins Langzeitgedächtnis abspeichern lässt, sondern stattdessen erst zwischengespeichert und dann im Schlaf quasi auf die Festplatte geschrieben wird. Wenn es für diesen Prozess von Bedeutung ist, dass währenddessen keine neuen Informationen eingehen, wäre es tatsächlich sinnvoll, den Körper vorübergehend am Beobachten, Schnüffeln und Herumlaufen zu hindern. Leider ist die Theorie nicht ganz leicht zu überprüfen. Insbesondere wäre es hilfreich, wenn man mehr darüber wüsste, wie das Gedächtnis überhaupt funktioniert.

Borns Mitarbeiter Ullrich Wagner und Steffen Gais konnten 2004 immerhin erstmals belegen, dass Schlafen den Erkenntnisprozess befördert: Ihre Versuchspersonen mussten ein Problem bearbeiten, für das es einen mühsamen und einen einfachen Lösungsweg gab. Von den Testpersonen, die zwischen zwei Anläufen schlafen durften, kamen im Vergleich zu den wach gebliebenen mehr als doppelt so viele auf die simple Lösung. Wer schläft, anstatt zu arbeiten, spart also womöglich sogar Zeit. Schade, dass sich die Schlafforschung diesem wichtigen Einsatzfeld, der Rechtfertigung des Büroschlafs, nicht noch viel öfter widmet.

Die Gedächtnishypothese ist in ihren Grundzügen mittlerweile in verschiedenen Labors und mit unterschiedlichen Methoden belegt worden, aber nicht unumstritten. Ihren Hauptkritikern Jerome Siegel und Robert Vertes zufolge müsste es für eine so häufig untersuchte Hypothese inzwischen schlüssigere Belege geben. Um widersprüchliche Ergebnisse zu erklären, sei die ursprüngliche These bis zur Nutzlosigkeit verwässert worden, indem je nach Versuchsausgang eben nur bestimmte Formen des Gedächtnisses (etwa das Gedächtnis für Bewegungsabläufe) betroffen sein sollen, andere aber nicht.

Dass zumindest der REM-Schlaf keine Voraussetzung dafür zu sein scheint, sich Dinge zu merken, zeigt das – zum Glück seltene – Beispiel von Menschen, die aufgrund spezieller Gehirnverletzungen ohne REM-Schlafphasen leben. Auch die zahlreichen Patienten, die als Nebenwirkung gängiger Mittel gegen Depressionen ganz oder weitgehend auf REM-Schlaf verzichten müssen, leiden offenbar trotzdem nicht unter nennenswerten Gedächtnisproblemen. Früher ging man davon aus, dass Träume nur im REM-Schlaf vorkommen und eine wichtige Funktion haben, heute nimmt man an, dass in mehreren, womöglich in allen Schlafphasen geträumt wird. Allerdings ist unklarer denn je, welchem Zweck das Träumen dient. Freuds These, dass im Traum verdrängte Wünsche und Emotionen ausgelebt werden, ist ebenso aus der Mode gekommen wie die Vermutung, Träume seien nur bedeutungslose Nebenprodukte der Gehirntätigkeit im Schlaf. Träume, so lautet kurz zusammengefasst der Forschungsstand, haben vermutlich irgendeine Funktion. Welche das sein könnte, ist unbekannt. Vielleicht sollen sie ja nur wie Filme auf Langstreckenflügen verhindern, dass man sich beim Schlafen langweilt.

Aber zurück zur Funktion des Schlafs: Siegel vergleicht sie mit der des Winterschlafs und weist darauf hin, dass dessen Aufgabe nicht besonders umstritten ist. Er dient dazu, das Tier in einer Zeit aus dem Verkehr zu ziehen, in der es ohnehin nichts tun könnte, weil draußen Schnee liegt. (Winterschlaf ersetzt übrigens nicht den normalen Schlaf. Zumindest manche winterschlafenden Tiere müssen, man mag gar nicht darüber nachdenken, hin und wieder mühsam aus dem Winterschlaf erwachen und sich aufwärmen, um regulär zu schlafen.) Fleischfresser schlafen artenübergreifend am längsten, Pflanzenfresser am kürzesten, und Allesfresser, darunter auch die Menschen, liegen im Mittelfeld. Ein Tier, das den ganzen Tag grasen und sich vor Fressfeinden hüten muss, hat nicht viel Zeit zum Schlafen, während ein Löwe es sich nach dem Verzehr einer Antilope leisten kann, den Rest des Tages die Augen zuzumachen. Und da wir keine 24 Stunden brauchen, um das Nötigste zu erledigen, ist es sinnvoll, den Körper zu einer Tageszeit, in der er mehr Schaden anrichtet als nützt, einfach in einer Ecke abzulegen. Bei kleinen Tieren, deren Körperoberfläche relativ groß im Verhältnis zu ihrem Gewicht ist, kommt vermutlich eine Energieersparnis durch das Herumliegen in einem warmen Nest hinzu. Für diese These scheint auch zu sprechen, dass bei Meeressäugern die Schlafdauer im Laufe des Lebens nicht ab-, sondern zunimmt: Im Meer gibt es weder geschützte Ecken, in denen die Tiere ungefährdet ihre Jugend verschlafen können, noch Abgründe, in die man im Dunkeln stolpert.

Eine verwandte Hypothese besagt, dass die Schlafdauer genetisch so eingerichtet ist, dass ein ökologisches Gleichgewicht aufrechterhalten werden kann. Raubtiere schlafen demnach länger als ihre Beute, um so eine «Überweidung» ihres Jagdgebietes zu vermeiden. Auch hier dient der Schlaf also vor allem der Vermeidung anderer, ungünstigerer Verhaltensweisen. Man kann sich gut vorstellen, wie die Programmierabteilung der Evolution auf solche Ideen verfällt, anstatt ein aufwändiges Feature wie die Vernunft einzubauen: «Schalten wir das Tier doch einfach vorübergehend ab, dann kann es wenigstens keinen Unfug anstellen.»

Der heutige Hauptgrund für das Schlafen muss allerdings gar nicht derselbe Grund sein, aus dem der Schlaf sich einmal entwickelt hat. Vielleicht diente das Schlafen ja anfangs einem bestimmten Zweck, im Laufe der Evolution kamen aber diverse Aufgaben hinzu, die man – wo der Körper schon so tatenlos herumlag – bei der Gelegenheit gleich mit erledigen konnte. Es spricht jedenfalls manches dafür, dass es einen guten Grund für das Schlafen gibt: Schlaf nimmt immerhin sehr viel Zeit im Leben ein, er verläuft artenübergreifend erstaunlich ähnlich, und zumindest Ratten sterben, wenn er ihnen vorenthalten wird. Wer diesen Grund klar benennen könnte, dem wäre, so der Schlafforscher James Krueger, ein Nobelpreis ziemlich sicher.

Einige Forscher wenden gegen alle diese Hypothesen ein, die Frage «Warum schlafen wir?» sei bereits falsch gestellt: Man müsse sich vielmehr fragen, warum wir eigentlich hin und wieder wach werden. Schlaf sei der natürliche Daseinszustand, den wir mit vielen schlichter gebauten Tierchen sowie den Zellen unseres eigenen Körpers gemein haben. Von Zeit zu Zeit unterbrechen wir ihn, um Lebensmittel aus dem Kühlschrank zu holen oder unsere Art zu erhalten. Praktischerweise ist die Frage, warum wir aufwachen, viel leichter zu beantworten als die nach den Ursachen des Schlafens: Meist liegt es daran, dass der Wecker klingelt. Einen Nobelpreis gibt es dafür leider nicht.

Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt
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