Erkältung

Auch wenn das Gehirn des Menschen einigermaassen rein und gesund ist, dringen doch bisweilen die Wirbel der Luft und der andern Elemente ein und lassen verschiedenartige Säfte ein- und ausfliessen und erzeugen im Nasen- und Kehlwege einen nebelhaften Dunst, so dass dort ein schädlicher Eiter wie Dunst von nebligem Wasser sich zusammenzieht.
Hildegard von Bingen: Vom Schnupfen

Im Vergleich zum, sagen wir, Tausendfüßler Illacme plenipes, von dem im letzten Jahrhundert ganze 13 Exemplare gesichtet wurden, ist die Erkältung ein relativ bequem zu erforschendes Phänomen, denn man braucht sie zumindest nicht lange zu suchen. Erwachsene erkranken im Schnitt weltweit zwei- bis fünfmal jährlich daran; Schulkinder fünf- bis siebenmal. Auch wenn der Forschungsdruck auf diese nicht gerade exotische Krankheit entsprechend hoch ist, wissen wir bis heute nicht, wann und warum Menschen sich erkälten. Und das, obwohl in der langen Forschungsgeschichte einiges herausgefunden wurde.

Bekannt ist zum Beispiel, dass 30 – 50 Prozent der Erkrankungen bei Erwachsenen von Rhinoviren ausgelöst werden, den Rest teilen sich ein paar andere Viren, darunter das erst 2001 entdeckte Metapneumovirus, sowie beträchtliche Mengen bisher unbekannter Erreger. Die typischen Symptome – Schnupfen, leichtes Fieber, Halsschmerzen – verdanken wir dabei nicht den Erregern, sondern indirekt der Reaktion unseres Immunsystems. Nach überstandener Erkältung stellt sich Immunität gegen den Auslöser ein, man erkrankt also nur einmal an einem bestimmten Virus. Da es aber um die 100 bis 200 infrage kommende Erreger gibt, ist die Auswahl groß genug, um sich lebenslänglich jedes Jahr mit neuen Viren zu infizieren. Der Nachweis der Erreger ist einerseits nicht ganz einfach, andererseits können zahlreiche andere Tierchen die Symptome einer Erkältung auslösen, was die Arbeit der Erkältungsforscher nicht gerade erleichtert. Viele Studien sind daher nur beschränkt aussagefähig, weil die angeblich untersuchten Fälle nicht klar genug von ähnlichen Erkrankungen wie Heuschnupfen oder Grippe abgegrenzt wurden.

Wie aber, lautet das große Rätsel, handelt man sich die Erreger ein? Zweifelsfrei erwiesen ist nur, dass in Laborversuchen 95 Prozent aller Testpersonen, die Rhinoviren direkt in die Nase geträufelt bekommen, sich auch infizieren. Doch wie gelangen die Erreger zu uns, wenn man keine Pipette zu Hilfe nimmt? In einem klassischen Experiment steckte man gesunde und erkältete Testpersonen für zwei Stunden in einen Raum, trennte sie durch einen Vorhang voneinander und verabreichte den Erkälteten nach einer Stunde zur Sicherheit eine Dosis Niespulver, damit sie nicht etwa aus falscher Bescheidenheit alle Erkältungsviren für sich behielten. In der Folge erkrankten nur um die 10 Prozent der gesunden Testpersonen, was nicht komplett gegen die Luftübertragung als Hauptansteckungsweg spricht, aber eben auch nicht sehr stark dafür.

Um herauszufinden, ob die Anwesenheit der Infizierten überhaupt genügte, um nennenswerte Mengen Erreger im Raum zu verteilen, befestigte man in einem anderen Experiment einen dünnen Schlauch in der Nase eines gesunden Freiwilligen, aus dem ihm – ganz wie bei einer echten Erkältung – eine farblose Flüssigkeit aus der Nase tropfte, die mit einem Fluoreszenzmarker versehen war. Nach einigen Stunden, in denen der falsche Kranke mit anderen Versuchsteilnehmern redete und Karten spielte, war der ganze Raum samt Spielkarten und Möbeln mit Leuchtfarbe bekleckert, einschließlich der Nasen der anderen Testpersonen. Einerseits will man so genau gar nicht wissen, wie es um die Verteilung von Körperflüssigkeiten zum Beispiel in U-Bahn-Waggons bestellt ist, andererseits scheint uns diese Allgegenwart der Erreger nicht sonderlich zu schaden: Mütter stecken sich keineswegs zuverlässig bei ihren erkälteten Kindern an, Ehegatten infizieren sich nicht besonders häufig gegenseitig, und selbst das Küssen Erkälteter gilt als unbedenklich. Offenbar ist der Ansteckungsprozess selbst schon ein komplizierter Vorgang.

Aber nicht einmal die grundlegende Aussage «Eine Erkältung bekommt man, indem man sich bei anderen Erkälteten ansteckt» ist unumstritten, auch wenn einiges dafür spricht: Solange die Dörfer auf Grönland und Spitzbergen nur per Schiff zu erreichen waren, blieb die Bevölkerung in den Wintermonaten, in denen man von der Außenwelt abgeschnitten war, von Erkältungen verschont; nach Ankunft des ersten Schiffs im Frühjahr allerdings brach unweigerlich das große Husten und Niesen aus. Dieser Sachverhalt ist gut dokumentiert, aber bis heute ist nicht hinreichend erklärt, warum sich die Erkältung in der Arktis so eindeutig als von außen eingeschleppte Infektionskrankheit gebärdet, während sich in mehreren großen Studien zeigen ließ, dass die Erkältungsepidemien der Nordhalbkugel sich nicht etwa nach und nach durch die Bevölkerung ausbreiten, wie man es von einer ordentlichen Infektionskrankheit erwarten sollte. Die großen Erkältungswellen treten vielmehr in allen untersuchten Gegenden gleichzeitig auf, und zwar mit Jahresmaxima im Januar, September und November. (Typisch für die Erkältungsforschung: Auch hier gibt es mehr als eine sorgfältig durchgeführte Studie, aus der das Gegenteil hervorgeht.)

Diese gleichzeitigen Erkältungswellen versucht man zu erklären, indem man annimmt, dass wir die entsprechenden Viren als «kommensale Organismen» mit uns herumtragen, die Infektion somit immer in uns schlummert. Allerdings braucht man jetzt wieder einen äußeren Reiz, um diese Infektion auszulösen. Die Art dieses Reizes ist unklar – klimatische Faktoren wie Wind, Feuchtigkeit, plötzliche Erwärmung oder Abkühlung der Umwelt oder des Körpers etwa werden seit der Antike genannt und spiegeln sich in vielen indoeuropäischen Wörtern für «Erkältung» wider. Da auf der Nord- wie auf der Südhalbkugel die Erkältungshäufigkeit in der kalten Jahreszeit deutlich größer ist, liegt es nahe, nach einem Zusammenhang zwischen Klima und Erkältung zu suchen – gefunden hat man ihn bisher noch nicht. Häufig hört man die Begründung, dass wir uns im Winter dicht gedrängt in schlecht gelüfteten Räumen aufhalten. Tatsächlich aber sitzen wir auch im Sommer die meiste Zeit in denselben Räumen herum, was die These etwas unglaubhaft wirken lässt. Trockene Zentralheizungsluft kann ebenfalls kaum der Verursacher sein, denn die Nasenschleimhäute kommen mit trockener Luft gut zurecht. Im Experiment und in der Wüste zeigt sich, dass sie auch bei extrem niedriger Luftfeuchtigkeit weiterhin problemlos funktionieren. Zudem beginnt die Heizperiode in vielen Ländern erst deutlich später als die herbstlichen Erkältungswellen. Spielt ein «geschwächtes Immunsystem» bei der Infektion eine Rolle? Schützen Glück, positives Denken oder Kniebeugen am offenen Fenster? Nichts davon ist bisher erwiesen – das heißt, jeder dieser Effekte wurde bereits nachgewiesen, aber ebenso viele Studien ergeben das Gegenteil oder gleich gar nichts.

Liegt es vielleicht nicht so sehr an der Umgebungstemperatur, sondern an der Auskühlung des Körpers? Zahlreiche Experimente, bei denen wenig beneidenswerte Freiwillige in nassen Badehosen auf zugigen Fluren herumstehen mussten, verliefen unbefriedigend. Auch die erwähnten Studien aus Grönland und Spitzbergen sprechen gegen einen solchen Zusammenhang, da die Epidemien dort zwar mit der Ankunft des ersten Schiffs, jedoch nicht im Geringsten mit Temperatureinflüssen zu tun haben. Besonders perfide wäre die denkbare, aber schwer zu untersuchende Variante, in der die Infektion und die Auskühlung des Körpers zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattfinden müssen, damit es zu einer Erkrankung kommt. Untersuchungen an Bord von Schiffen und insbesondere U-Booten ergeben übrigens, dass die vom Rest der Welt isolierten Besatzungen auf See zum Teil sogar öfter als der Bevölkerungsdurchschnitt unter Erkältungen leiden – und das, wie im U-Boot, auch in einer Umgebung ohne Wettervariablen, Sonne, Temperaturveränderungen oder Wind. Und schließlich erschien 2005 eine Studie des «Common Cold Centre» in Cardiff, die erstmals seit langer Zeit dann doch wieder einen Zusammenhang zwischen akuter Abkühlung durch kalte Fußbäder und nachfolgendem «Auftreten von Erkältungssymptomen» nachweisen konnte. Die Frage, ob diese Symptome auch mit einer tatsächlichen Infektion in Zusammenhang stehen, wäre – so die Autoren der Studie – noch zu untersuchen.

Erstaunlich genug, dass die üblichen Erklärungsmodelle rätselhafter Phänomene – Außerirdische, Antimaterie, Erdstrahlen, Nikola Tesla ist an allem schuld – im Zusammenhang mit Erkältungen bisher ausgeblieben sind. Vielleicht muss man die Forscher erst durch Publikation absurder Hypothesen aufstacheln, damit die Erkältungserkenntnis Fortschritte macht. Ein Vorschlag wäre, einmal die Fortpflanzungsgewohnheiten von Taschentüchern genauer zu erkunden: Am Ende sind es diese so unschuldig aussehenden kleinen weißen Kreaturen, die im Verborgenen dafür sorgen, dass die Erkältung nicht ausstirbt.

Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt
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