Trinkgeld

… wenn ich hier so ein Sirupgeschmiere veranstalte, muß ich dem Zimmermädchen morgen ein Trinkgeld auf dem Schreibtisch hinterlassen, und will ich das denn? Trinkgeld gibt man doch nur aus Angst vor grantigen Reaktionen des Dienstleistenden, und ob das Zimmermädchen dankbar oder unzufrieden mein Zimmer reinigt, bekomme ich ja eh nicht mit. Ich werde schon fort sein, wenn es kommt.
Max Goldt: «QQ»

Millionen von Hobbyforschern beschäftigen sich regelmäßig nach dem Essen mit der Frage, wie viel Trinkgeld für den Kellner angemessen ist. Insgesamt einigen sie sich allein in den USA auf mehr als 20 Milliarden Dollar pro Jahr. Warum sie überhaupt mehr zahlen, als auf der Rechnung steht, warum es so viel sein muss und wovon die Höhe des Trinkgeldes abhängt, das wissen sie nicht. Die wenigen hauptberuflichen Trinkgeldwissenschaftler haben zwar auch keine eindeutigen Antworten auf die drängenden Trinkgeldfragen, können aber immerhin Interessantes berichten.

Wenig überraschend ist zunächst, dass die Höhe des Trinkgelds mit der Höhe der Rechnung ansteigt, kann man doch in jedem Benimmbuch nachlesen, dass es Brauch ist, einen bestimmten Prozentsatz der Rechnung als Trinkgeld zu zahlen. Andererseits hält sich ein Fünftel der Menschen (zumindest in Amerika) aus unklaren Gründen nicht an diese Konvention, sondern legt immer denselben Betrag obendrauf, egal, was auf der Rechnung steht. Wer mit Kreditkarte die Rechnung begleicht, ist überdurchschnittlich freigebig, vermutlich weil die Anwesenheit von Kreditkarten unbewusst einen Kaufrausch auslöst. Das funktioniert auch, wenn ihm die Rechnung, wie in Amerika üblich, auf einem kleinen Tablett präsentiert wird, das die Insignien von Kreditkartenfirmen zeigt – und er am Ende doch bar bezahlt. Daraus sollte man als Serviceanbieter unbedingt Kapital schlagen und einfach das komplette Restaurant mit überlebensgroßen American-Express-Karten tapezieren.

Wie nicht anders zu erwarten, hängt die Höhe des Trinkgeldes ein bisschen davon ab, wie der Kunde die Qualität des Service bewertet: Fühlt er sich gut bedient, zahlt er ein wenig mehr, allerdings nicht sehr viel. Stattdessen sollten Bedienungen sich darauf konzentrieren, freundlich oder notfalls auch aufdringlich zu sein. Wie der Psychologe Michael Lynn herausfand, kann man bemerkenswerte Erhöhungen der Trinkgelder feststellen, wenn die Kellner den Kunden «leicht auf dem Arm, der Hand oder der Schulter» berühren, ihn «mit Spielen oder Witzen unterhalten» oder «Smileys oder andere Bilder auf die Rückseite der Rechnung zeichnen». Wenn man sich so verhält, kann man vermutlich den Daumen in die Suppe des Kunden halten, das ist ihm dann egal. Ansonsten hängt die Höhe der Trinkgelder unter anderem davon ab, wie groß die Stadt ist, wie alt der Kunde ist, was er verdient, ob das Personal attraktiv aussieht, ob draußen die Sonne scheint oder ob für den nächsten Tag Sonnenschein vorhergesagt ist und ob die Kellnerin Blumen im Haar trägt. Der Kunde, ein rätselhaftes Geschöpf.

Aber warum zahlt man überhaupt Trinkgeld, wo es doch freiwillig ist und so einiges kostet? Die meisten würden wohl erwidern: «Weil man es so macht.» Leider ist diese Antwort vollkommen unbefriedigend. Eine möglicherweise bessere Variante: Wir möchten sicherstellen, in Zukunft genauso gut oder besser bedient zu werden. Wenn das stimmt, dann sollte vernünftigerweise niemand Trinkgeld geben, wenn er den Menschen, der ihn bedient hat, voraussichtlich nie wiedersehen wird, bei Taxifahrern zum Beispiel. Vernünftig wäre es dann auch, vor dem Essen oder vor dem Fahrtantritt zu zahlen, um die Bedienung oder den Fahrer gnädig zu stimmen. Die Wirklichkeit sieht anders aus.

Als Nächstes könnte man auf die Idee kommen, dass Mitgefühl eine bestimmende Rolle spielt: Man müsse das arme Servicepersonal doch unterstützen. Dafür gibt es einige Hinweise, zum Beispiel erklärten in einer Untersuchung in den USA immerhin 30 Prozent der Befragten, sie gäben Trinkgeld, weil sie das Gefühl hätten, die Empfänger seien darauf angewiesen. Allerdings häufen sich auch hier die Widersprüche: Wäre Mitgefühl wichtig, könnte man erwarten, dass Trinkgelder hoch ausfallen, wenn die Gehaltsdifferenz zwischen Kunde und Bedienung hoch ist, zum Beispiel bei Schuhputzern. Vielleicht ist es aber auch prinzipiell der Eindruck, die Angestellten im Restaurant würden von ihrem Chef an der kurzen Leine gehalten. Dann aber sollte man nie dem Restaurantbesitzer Trinkgeld zahlen. All dies lässt sich bisher nicht belegen.

Vielleicht geben wir auch Trinkgeld, um der Welt zu signalisieren, wie großzügig wir sind, auch wenn das vielleicht gar nicht stimmt. Aber wieso zahlt man dann auch in Abwesenheit der Welt, zum Beispiel, wenn man alleine mit dem Taxifahrer ist? Der Ökonom Robert Frank liefert eine mögliche Antwort: Wir müssen uns ständig selbst beweisen, wie großzügig wir sind, um das Gewissen zu beruhigen und das Karma zu verbessern. Dies führt, so der Soziologe Diego Gambetta, der sich ansonsten unter anderem mit der Mafia befasst, zu einer überraschenden Vorhersage: Menschen, die ohnehin großzügig sind, sollten weniger Trinkgelder zahlen als geizige, weil sie es ja nicht mehr nötig haben. Das wurde zwar noch nicht überprüft, stimmt aber wohl eher nicht. Und überhaupt, so argumentiert Michael Lynn auf bestechende Art und Weise, ist diese Theorie zu kreativ, um wahr zu sein.

Am Ende bleibt vielleicht doch nur «weil man es so macht» übrig. Womöglich folgt der Trinkgeldzwang lediglich aus dem Wunsch, in der Masse unterzutauchen und sich genauso zu verhalten wie alle anderen, das ist schließlich das Einfachste. Aber auch stark individualistisch eingestellte Bevölkerungsgruppen zahlen Trinkgelder, und zwar nicht weniger als andere. Andererseits hat es zusätzliche unangenehme Konsequenzen, wenn man kein Trinkgeld zahlt und so mit der Konvention bricht: Angestellte sehen einen verärgert an, man fühlt sich schlecht und beschämt, vielleicht sogar dann, wenn man sich sonst gar nicht um seine Mitmenschen schert. Und auch wenn der einzelne Akt des Trinkgeldgebens unvernünftig ist, als Massenphänomen ist es durchaus sinnvoll, denn Trinkgelder geben insgesamt einen Anreiz zur Verbesserung der Bedienung. Aber ob der Einzelne, satt und zufrieden nach dem Abendessen im Restaurant, sich Gedanken über die gesellschaftlichen Konsequenzen seines Handelns macht?

Es gibt demnach verschiedene plausible Gründe, nicht mit der gesellschaftlichen Norm zu brechen und weiterhin 10 bis 15 Prozent Trinkgeld zu zahlen, auch wenn noch lange nicht geklärt ist, warum diese Norm überhaupt existiert. Und es gibt außerdem gute Gründe, das Phänomen weiter unter die Lupe zu nehmen. Man lernt dabei, dass sich Menschen in wirtschaftlichen Entscheidungen gar nicht so rational und egoistisch verhalten, wie das eine ordentliche Wirtschaft von ihnen verlangt, also genau abwägen, wie viel sie zahlen und was ihnen das bringt. Stattdessen ist ein unübersichtlicher Mix aus tradierten Verhaltensweisen, verschiedenen Gefühlsregungen und ein paar rationalen Bestandteilen am Werk.

Übrigens wird in manchen Ländern gar kein Trinkgeld gezahlt, in China zum Beispiel. Wiederum sind die Gründe unklar. Es kann jedoch kaum mit der jahrzehntelangen kommunistischen Erziehung zu tun habe, denn im kapitalistischen Singapur und in Australien ist es ganz genauso. Manchmal runden asiatische Taxifahrer den Preis sogar zu ihren Ungunsten ab, wodurch ein negatives Trinkgeld entsteht – der Bedienstete zahlt dem Kunden Trinkgeld. Aber auch im Trinkgeldparadies Amerika regen sich traditionell Widerstände. Im Jahr 2006 etwa machte der prominente Restaurantbesitzer und Kochbuchautor Thomas Keller Schlagzeilen, als er in seinem New Yorker Restaurant Trinkgelder prinzipiell verbot. In den darauffolgenden Debatten wird die Praxis des Trinkgeldgebens abwechselnd als «amerikanisch» oder als «unamerikanisch» bezeichnet, wohl weil es niemand so genau weiß.

Prägnant zusammengefasst wird der wissenschaftliche Erkenntnisstand in der Anfangsszene des Tarantino-Films «Reservoir Dogs». Am Ende eines langen Frühstücks im Café erklärt Steve Buscemi alias «Mr. Pink», als es ums Bezahlen geht, er glaube nicht an Trinkgelder, und löst damit eine lange Diskussion aus. Ausführlich erklärt er unter Verwendung vieler der oben beschriebenen Zusammenhänge, warum Trinkgelder sinnlos und unvernünftig sind. Der Trinkgeldzwang erweist sich jedoch als stärker, denn am Ende bezahlt Mr. Pink trotzdem seinen Anteil, und zwar aus Dankbarkeit, denn schließlich musste er schon nichts für die Rechnung geben. Irgendeinen Grund findet man ja immer.

Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt
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