Riemann-Hypothese

Wenn ich nach einem tausendjährigen Schlaf aufwachen würde, wäre meine erste Frage: «Wurde die Riemann-Hypothese bewiesen?»
David Hilbert

Um die vorletzte Jahrhundertwende herum stellte der bereits damals berühmte Göttinger Mathematiker David Hilbert eine Liste der 23 wichtigsten ungelösten mathematischen Probleme zusammen. Auf Platz acht der (ungeordneten) Liste: «Primzahlverteilung und die Riemannsche Vermutung». Hundert Jahre später unternahm das amerikanische Clay-Institut einen ähnlichen Versuch – und setzte Preisgelder von jeweils 1 Million Dollar für die sieben «Jahrtausendprobleme» der Mathematik aus. Auf Platz eins der Liste steht eines der wenigen Hilbert-Probleme, das hundert Jahre intensiver Bemühungen der Mathematiker unbeschadet überstanden hat: Die Riemann-Hypothese oder die ewige Frage, welchem Muster die Verteilung der Primzahlen folgt.

Alle, die diese Million für leichtverdientes Geld halten, seien darauf hingewiesen, dass es sich bei allen sieben Problemen um harten Stoff handelt und man eigentlich zumindest ein abgeschlossenes Mathematikstudium benötigt, um sie vollständig zu durchdringen. Für die Riemannsche Vermutung etwa braucht man nicht nur ein Verständnis von den sogenannten komplexen Zahlen und fortgeschrittener Differentialrechnung, man muss auch noch mit unendlichen Reihen von Zahlen umgehen können, eine Fähigkeit, die einem im normalen Leben überhaupt nichts bringt. Moderne Mathematik ist eine Ansammlung von hochgradig abstrakten Konzepten, die sich gegenseitig durchdringen und auf den ersten Blick erschreckend nutzlos aussehen, was allerdings ein Trugschluss ist. In der Tat sind bestimmte Aspekte des physikalischen Weltbildes so abstrakt, dass die dazugehörige Mathematik noch nicht einmal erfunden ist. Die Welt ist eben noch komplizierter als Mathematik. Trotzdem muss es möglich sein, wenigstens die Grundidee der Riemann-Hypothese aufzuschreiben, so einfach, dass Menschen nicht in tiefe Depressionen stürzen, und doch so weit korrekt, dass Mathematiker nicht anfangen, mit Steinen zu werfen.

Eines der großen Mysterien dieser Welt sind die Primzahlen, also Zahlen, die sich nur durch eins und sich selbst teilen lassen, zum Beispiel 2, 3, 5, 7, 11 usw. Es gibt viele eigenartige Geschichten rings um diese seltsamen Zahlen. Euklid bewies bereits vor mehr als 2000 Jahren, dass jede natürliche Zahl größer als eins, wirklich jede, entweder selber eine Primzahl ist oder sich als Produkt von Primzahlen darstellen lässt. Die Zahl 260 etwa ist zwar keine Primzahl, ergibt sich aber aus 2 × 2 × 5 × 13 – alles Primzahlen. Primzahlen werden zwar immer seltener, je weiter man zu großen Zahlen vordringt – unter den ersten 10 Zahlen gibt es 4 Primzahlen, unter den ersten 100 noch 25, unter den ersten 1000 nur 168. Trotzdem gibt es unendlich viele von diesen unteilbaren Gesellen; auch das hat bereits Euklid bewiesen. Aber wo liegen die Primzahlen? Lassen sie sich nieder, wo es ihnen gerade passt? Oder folgen sie einer Ordnung, und sei es auch einer sehr komplizierten?

Ein wichtiger Hinweis in dieser Angelegenheit kam von Carl Friedrich Gauß. Im Jahr 1791, er war damals erst deprimierende 14 Jahre alt, vermutete Gauß, dass man die «Primzahlendichte», also die Anzahl der Primzahlen, die zwischen null und einer bestimmten Zahl liegen, für große Zahlen mit einer einfachen Formel vorhersagen kann. Zwei Beispiele: Zwischen 0 und 1000 liegen 168 Primzahlen, die Dichte der Primzahlen ist also 16,8 Prozent. Mit Gauß’ Formel ergeben sich 14,4 Prozent, was schon nicht schlecht ist, aber noch klar daneben. Für den Zahlenbereich zwischen 0 und einer Million ist die Primzahlendichte nur noch 7,8 Prozent, die Formel sagt 7,2 Prozent voraus, liegt also schon fast richtig. Je größer die Zahlen werden, desto mehr nähert sich die tatsächliche Dichte dem leicht ausrechenbaren Wert an. Genau genommen schwankt die Primzahlendichte unermüdlich um diesen Wert, wobei das Ausmaß der Schwankungen immer mehr abnimmt, je größer die Zahlen werden. Es dauerte mehr als 100 Jahre, bis der Franzose Jacques Hadamard und der Belgier Charles de la Vallée Poussin den Geniestreich des jungen Gauß beweisen konnten. Mit Hilfe dieses Theorems ließ sich jetzt zumindest ungefähr ausrechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine beliebige, unbequem große Zahl, sagen wir 3 608 152 892 447, eine Primzahl ist – das «ungefähr» jedoch stört noch ein wenig. Die Riemannsche Vermutung lieferte den nächsten Schritt zu einer genaueren Verortung der Primzahlen.

Dafür lohnt es sich, ein wenig in den Abgründen der modernen Mathematik herumzustochern. Wer darauf verzichten will, sollte besser die nächsten zwei Absätze überspringen. Ihm entgeht dann allerdings eine der wichtigsten Errungenschaften der Neuzeit, die komplexen Zahlen.

Schon im Altertum fand man heraus, dass die gebräuchliche Vorstellung von Zahlen die Menschen in ihrem Drang, die Welt zu verstehen, stark beschränkt. Zum Beispiel lässt sich die Länge der Diagonale eines Quadrats nur bestimmen, wenn man Zahlen verwendet, die nach dem Komma unendlich lang sind und chaotisch vor sich hin stolpern – die sogenannten irrationalen Zahlen. Gleiches gilt für den Umfang von Kreisen, der ein Vielfaches von Pi ist – ebenfalls eine irrationale Zahl mit dem Wert 3,141592654 … (usw., bis das Buch voll ist, und dann immer noch weiter). Eine nochmalige Ergänzung erfuhr der Zahlenbegriff, als eine unglückliche Seele auf die Idee kam, die Quadratwurzel aus –1 zu ziehen – mit normalen Zahlen ein unlösbares Unterfangen. Resultat war die Einführung der «komplexen Zahlen»: Man fügt jeder normalen Zahl einen sogenannten Imaginärteil hinzu, der einfach ein Vielfaches von «i» ist, wie man die Wurzel aus –1 genannt hat. Eine handelsübliche komplexe Zahl lautet zum Beispiel 3+8i. Diese neue Art Zahlen erweist sich als äußerst praktisches Hilfsmittel im Hausgebrauch von Physikern. Genau genommen beruht ein Großteil unseres modernen Weltbildes auf einer Mathematik, die mit komplexen Zahlen arbeitet. Und das, obwohl wir im Supermarkt kein einziges Produkt zu imaginären Preisen kaufen können.

Als Nächstes benötigt man eine Vorstellung davon, was eine Funktion ist. Eine Funktion ist die omnipotente Wurstmaschine der Mathematik, sie nimmt eine Zahl (Fleisch) und stellt aus ihr eine andere Zahl her (Wurst), und zwar unter Benutzung einer bestimmten Vorschrift, die zum Beispiel lauten könnte «rechts an der Kurbel drehen» oder «die Quadratwurzel berechnen». Angewandt auf die Zahl neun, ergäbe das den Wert drei. Funktionen gibt es in vielen Farben, Formen und Geschmacksrichtungen, einige sind sehr einfach, andere hochkompliziert. Auch für komplexe Zahlen gibt es Funktionen, die genauso funktionieren wie bei anderen Zahlen auch: Sie nehmen eine Zahl, tun irgendetwas mit ihr und spucken am Ende eine andere Zahl aus. Dasselbe gilt für die sogenannte Riemannsche Zetafunktion, über deren Verhalten die Riemannsche Hypothese eine wichtige Vorhersage trifft. Leider ist diese spezielle Wurstmaschine ziemlich kompliziert und die dazugehörige Vorschrift unendlich lang, was gegen eine Wiedergabe an dieser Stelle spricht. Vieles an der Riemannschen Zetafunktion ist gut erforscht. Zum Beispiel weiß man, was passiert, wenn man sie auf gerade negative Zahlen anwendet, also –2, – 4, –6 usw.: Es kommt null heraus. Die geraden negativen Zahlen nennt man daher die «trivialen Nullstellen» der Riemannschen Zetafunktion. Die Riemann-Hypothese lautet nun: Alle restlichen Nullstellen haben eine bestimmte Eigenschaft – ihr Realteil ist immer genau ½. Das klingt nach all dem Hinundher, wie versprochen, erschreckend nutzlos, aber wenn man damit eine Weile herumspielt, erhält man eine erstaunliche Aussage über die Ordnung der Primzahlen.

Ab hier kann wieder ganz normal weitergeredet werden. Wie erwähnt, schwankt die Dichte der Primzahlen für große Zahlen um einen bestimmten, leicht zu berechnenden Wert. Wenn die Riemannsche Vermutung stimmt, dann tut sie das nicht vollkommen willkürlich, sondern folgt dabei dem wohlbekannten, geregelten Zufall. Wirft man eine Münze, so ist das Ergebnis zwar vorher unbekannt, man weiß aber, dass in der Hälfte aller Fälle Kopf erscheint. Man kann daher vorhersagen, wie wahrscheinlich es ist, ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen. Genauso kann man mit Hilfe der Riemannschen Vermutung vorhersagen, wie wahrscheinlich eine bestimmte Primzahlendichte ist. Man ist damit deutlich weniger hilflos bei der Suche nach Primzahlen: Ohne Riemann-Vermutung kann man ungefähr vorhersagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine bestimmte Zahl eine Primzahl ist. Mit Riemann-Vermutung weiß man zusätzlich, wie weit man danebenliegen könnte. Die Riemann-Hypothese gibt uns also so etwas Ähnliches wie eine Wünschelrute in die Hand: Sie weist den Weg zur Lage der Primzahlen. Oder wie es der Mathematiker Peter Sarnak ausdrückt: Ohne Riemann-Vermutung arbeitet man nur mit einem Schraubenzieher ausgerüstet im Primzahlendschungel. Die Riemann-Vermutung dagegen ist eine Planierraupe.

Bis jetzt klingt das alles immer noch sehr akademisch. Was, so könnte man fragen, scheren uns die Primzahlen? Die Antwort lautet: Wir sind mittlerweile von den kleinen Biestern abhängig. In den Zeiten der elektronischen Kommunikation funktioniert nichts mehr ohne Verschlüsselung. Jedes Mal, wenn man am Automaten Geld abhebt, jedes Mal, wenn man im Internet Rechnungen bezahlt, werden die übermittelten Informationen, zum Beispiel Geheimzahlen oder Kreditkartennummern, verschlüsselt übertragen. Moderne Verschlüsselungstechniken müssen leider aufwendig und kompliziert sein, weil die Betrüger (und ihre Computer) im Laufe der Jahrhunderte immer klüger geworden sind. Primzahlen sind die Basis der meisten wichtigen Techniken der Kryptographie. Eine große Rolle spielt die bereits erwähnte Möglichkeit, jede Zahl als Produkt von Primzahlen zu schreiben. Die Sicherheit der Verschlüsselung beruht nun auf der Annahme, dass sich diese Zerlegung in Primfaktoren bei sehr großen Zahlen auch mit einem noch so schnellen Computer nur mit unzumutbar großem Zeitaufwand ausrechnen lässt. Wüsste man aber mehr über die Ordnung der Primzahlen, könnte sich das ändern.

Hier kommt die Riemann-Hypothese ins Spiel. Es besteht die Gefahr, dass durch einen gelungenen Beweis neue, bestürzende Erkenntnisse über Primzahlen ans Licht kommen, die die Primzahlenzerlegung vereinfachen. Vor diesem Moment fürchten sich viele. Andere hegen Verschwörungstheorien, nach denen die Riemann-Hypothese längst bewiesen ist, aber niemand davon erfahren darf. Es geht also nicht nur um eine Million Dollar Preisgeld, die weltweite Datensicherheit steht auf dem Spiel. Abgesehen von diesen weitreichenden Konsequenzen gibt es jedoch noch eine viel wichtigere Motivation für andauernde Anstrengungen in dieser Angelegenheit. Warum wollen Mathematiker die Riemannsche Vermutung beweisen? Warum wollen Menschen den Mount Everest besteigen? In den Worten von George Mallory (der 1924 am Everest umkam): «Weil er da ist.»

Heute glauben die meisten Mathematiker, dass die Riemannsche Vermutung zutrifft. Die ersten zehn Billionen der nichttrivialen Nullstellen der Riemannschen Zetafunktion zumindest liegen genau da, wo Riemann sie vermutete. Das beweist natürlich gar nichts; schon die nächste könnte sich nicht daran halten, denn Zahlen gibt es unendlich viele und damit deutlich mehr als Sand am Meer. Der deutsche Mathematiker Bernhard Riemann, der uns das alles hinterlassen hat, war ein introvertierter Hypochonder, der außerdem häufig wirklich krank war. Seine Arbeit «Über die Anzahlen der Primzahlen unter einer gegebenen Größe» erschien 1859 und ist überraschenderweise nur acht Seiten lang. Zum Vergleich: Einer der letzten Versuche, die Hypothese zu beweisen, veröffentlicht 2004 von Louis de Branges, umfasst immerhin 41 dicht beschriebene Seiten.

Abgesehen von de Branges, der es in den letzten Jahrzehnten immer wieder versuchte, bisher ohne durchschlagenden Erfolg, haben sich seit 1859 die besten Mathematiker jeder Generation die Zähne an der Riemann-Hypothese ausgebissen. Lange hoffte man, dass Riemann selbst irgendwo einen Hinweis hinterlassen haben könnte. So fand man eine Notiz, die darauf hinzudeuten scheint, dass die Vermutung Riemann trotz seiner offenbar übermenschlichen Intuition nicht einfach in den Schoß fiel, sondern von etwas abgeleitet wurde, was er nicht zu publizieren wagte. Was das genau gewesen sein könnte, ist unbekannt. Mittlerweile halten viele Experten es für möglich, dass der Beweis der Riemann-Hypothese nicht aus der Mathematik kommen wird, sondern aus einem avantgardistischen Zweig der theoretischen Physik, der Quantenchaostheorie genannt wird, denn offenbar gibt es tiefgründige Verbindungen zwischen der Welt der Primzahlen und der Welt der Quanten. Wenn das funktionieren sollte, ist demnächst ein Physiker um eine Million Dollar reicher und die Welt um eine schöne, solide Rätselfrage ärmer. Man wird sich dann etwas Neues einfallen lassen müssen.

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