Herbstlaub

Denkt nur an die Kastanie, die auf die Üppigkeit des Sommers einen provozierend kargen Nude Look folgen lässt!
Hilfscheckerbunny

Die Frage, warum sich Bäume im Herbst verfärben, ist ein Dauerbrenner in allen Sammlungen häufig gestellter Kinder-, aber auch Erwachsenenfragen. Die Antwort lautet normalerweise: Wenn das Chlorophyll, der grüne Blattfarbstoff, abgebaut wird, treten die bisher überdeckten anderen Blattfarbstoffe in den Vordergrund. Für die Carotinoide, die für gelbe und orange Farben zuständig sind, stimmt diese Erklärung zwar, aber die im Herbstlaub vieler Bäume ebenfalls vertretenen roten Farbstoffe – die Anthocyane – werden erst zum Zeitpunkt der Verfärbung gebildet. Damit drängt sich die Frage auf, wozu der Baum sich diese Mühe macht. Denn die Natur ist faul und rührt ohne guten Grund keinen Finger – ganz anders als die eifrigen Biologen, denen die zahlreichen offenen Fragen im Jahr 2001 Anlass genug für ein Symposium zum Thema «Why Leaves Turn Red» waren.

Fangen wir bei den bekannten Fakten an: Die Blätter vieler Laubbäume in gemäßigten Breiten verfärben sich im Herbst. Wenn die Tage kürzer werden und die Temperaturen sinken, beginnen die Bäume, Nährstoffe, die sie im Frühling wieder brauchen, von den Blättern in tiefergelegene Rindenschichten und in die Wurzeln zu verlagern. Besonders leuchtende Laubfarben entstehen, wenn es kalt ist und gleichzeitig die Sonne scheint, also zum Beispiel morgens nach klaren Nächten. Ist der Herbst neblig und verregnet, kann mangels Gelegenheit zur Photosynthese nicht genug Zucker gebildet werden, der für die Anthocyanproduktion benötigt wird. Unterschiedliche Arten haben unterschiedliche Vorlieben, was das Verfärben angeht: Birken und Buchen werden gelb, Eichen rötlich braun, Ahornbäume gelb, orange und rot, und die Nadelbäume geht – mit ein paar Ausnahmen – die ganze Geschichte überhaupt nichts an.

Die Anthocyane wurden erstmals 1835 von dem deutschen Apotheker Ludwig Clamor Marquart in seiner Abhandlung «Die Farben der Blüthen» beschrieben: «Anthokyan ist der färbende Stoff in den blauen, violetten und rothen und vermittelt ebenfalls die Farbe aller braunen und vieler pomeranzenfarbigen Blumen.» Zunächst hielt man das im Herbstlaub vorkommende Anthocyan für ein Abfallprodukt des Chlorophyllabbaus, später stellte sich jedoch heraus, dass die Anthocyanproduktion oft schon anläuft, bevor das Chlorophyll verschwindet. Im späten 19. Jahrhundert beobachteten Botaniker, dass die Produktion der Anthocyane sowohl bei niedrigen Temperaturen als auch bei starker Lichteinstrahlung zunimmt. In der Folge ging man davon aus, dass die Anthocyane die Blätter vor Licht und Kälte schützen. Mitte des 20. Jahrhunderts wurde entdeckt, dass auch UV-Strahlung die Anthocyanproduktion ankurbelt. Anthocyane, so vermutete man jetzt, bewahren die Pflanzen vor Schädigung durch UV-Licht. Leider merkte man in den 1980er Jahren, dass Anthocyane gerade im besonders schädlichen UV-B-Spektrum kaum Schutz bieten und zudem im Inneren der Blätter gebildet werden – das ist etwa so sinnvoll, als würde man Sonnenmilch trinken, anstatt sich damit einzucremen. Ebenfalls in den 1980er Jahren tauchte die mittlerweile zu den Akten gelegte Vermutung auf, dass die Bäume im Herbst noch schnell Schadstoffe in die Blätter auslagern, um sie loszuwerden, eine Art Müllabfuhr also.

In den letzten Jahrzehnten gelang es durch verbesserte Messmethoden, mehr über die Blattverfärbung herauszufinden. Die alte Lichtschutzthese wurde in den 1990er Jahren wiederbelebt, als der Tropenbotaniker David Lee und der Physiologe Kevin Gould belegen konnten, dass rot pigmentierte Blätter besser mit sehr starker und schwankender Lichteinstrahlung zurechtkommen als grüne. Photosynthese nämlich funktioniert dann am besten, wenn es gleichmäßig hell ist und sich der Photosyntheseapparat an genau diese Lichtbedingungen anpassen kann. Mehrere Studien belegten in den nächsten Jahren, dass ältere Blätter anfälliger für eine Hemmung der Photosynthese durch zu viel Licht sind als jüngere. Vielleicht brauchen sie deshalb in ihren letzten Lebenstagen besonderen Schutz, den die Anthocyane liefern.

Aber Anthocyane können noch mehr: Füttert man Mäuse mit Heidelbeeren oder Menschen mit Rotwein – beides schön bunte Lebensmittel mit hohem Anthocyangehalt –, dann werden zwar nur die Menschen betrunken, aber im Blut von Mann und Maus steigt der Gehalt von Antioxidantien, die freie Radikale binden. Freie Radikale sind Atome oder Moleküle, die eins ihrer Elektronen verloren haben oder einfach nur gern eins mehr hätten als bisher und deshalb aggressiv ein neues Elektron an sich reißen wollen – aus der DNA, den Zellmembranen oder irgendwelchen wichtigen Proteinen. Es ist sinnvoll, sie daran zu hindern, denn solche Schäden können unter anderem zu Krebs führen. Um zu untersuchen, ob diese Funktion auch den Blättern lebender Pflanzen zugute kommt, piekte Kevin Gould mit seinen Studenten Löcher in rote und grüne Blätter einer neuseeländischen Pflanze. Die freien Radikale, die an den verletzten Stellen entstehen, verschwinden in roten Blättern sehr viel schneller wieder als in grünen. Aber wie schützen die Anthocyane die Pflanze vor Schäden? «Das ist ein ziemlich rätselhaftes Phänomen», geben Lee und Gould zu, denn die Anthocyane stecken größtenteils in den Zellvakuolen – großen, mit Flüssigkeit gefüllten Blasen –, während die freien Radikale ihr Werk ganz woanders im Blatt verrichten.

Verschiedene Schutzfunktionen der Anthocyane sind jedenfalls mittlerweile gut belegt, wenn auch nicht ganz so gut erklärt. Trotzdem bleibt offen, warum Bäume so viel Energie in den Schutz von Blättern investieren, die ohnehin demnächst abfallen. Wozu mühsam ein Auto umlackieren, das nur noch drei Tage TÜV hat? Vielleicht sorgen die Anthocyane für eine koordinierte Zerlegung und Einlagerung des komplexen Photosyntheselabors. Vielleicht geht es aber auch um die Rückgewinnung des in diesen Photosynthesegerätschaften gebundenen Stickstoffs, der sonst einfach vom Baum fallen würde; Pflanzen trennen sich aber vom mühsam erwirtschafteten Stickstoff ähnlich ungern wie Menschen von Geld.

Ein anderes Erklärungsmodell stammt von dem amerikanischen Biologen Frank Frey, der 2005 Salatsamen mit Extrakten aus gelben, grünen und roten Blättern übergoss: Mit dem Extrakt aus roten Ahornblättern behandelte Samen keimten und wuchsen deutlich schlechter. Bäume mit besonders anthocyanreichem Herbstlaub, so Freys Hypothese, vergiften den Boden für andere Arten, wenn die Anthocyane aus dem Laub ins Erdreich wandern. Vom Walnussbaum, der Kastanie, dem Apfelbaum und der Kiefer ist bekannt, dass sie die Konkurrenz mit ähnlich unfairen Techniken unterdrücken.

Ausgehend von einer Idee des Evolutionstheoretikers William D. Hamilton, entwickelten die Biologen Archetti und Brown seit 2000 die «Signaltheorie» des Herbstlaubs, nach der gesunde, widerstandsfähige Bäume besonders auffällige Herbstfarben anlegen. So teilen sie Schädlingen, insbesondere Blattläusen, mit, dass sie sich teure Farben leisten können und daher auch bei der Verteidigung nicht sparen werden – denjenigen Menschen nicht unähnlich, die durch ihre Hautfarbe zu erkennen geben, dass sie immerhin genug Geld fürs Solarium haben. Kluge Blattläuse lassen sich dann den Winter über in weniger resistenten Bäumen nieder. Die Signaltheorie beruht bisher auf rein theoretischen Überlegungen, und gegen sie spricht ein Zusammenhang zwischen Anthocyan-Konzentration und der Konzentration bestimmter Abwehrstoffe, den der Biologe Martin Schaefer nachgewiesen hat. Der Baum hat demzufolge kein Interesse an der Kommunikation mit Blattläusen – kluge Blattläuse könnten aber womöglich von sich aus einen Zusammenhang zwischen Farbe und Gift erkennen.

2004 veröffentlichten israelische Biologen um Simcha Lev-Yadun die These, dass unterschiedliche Laubfärbungen generell dazu dienen, Insekten die Tarnung nicht allzu leicht zu machen. So werden grüne Blattfresser im Herbst noch schnell ihren Fressfeinden preisgegeben. Weil die Herbstverfärbung nur kurz andauert, ist der Selektionsdruck zur Anpassung auf die Insekten nicht sehr groß – jedenfalls war bisher kein grünes Insekt raffiniert genug, sich mit dem Herbstlaub zu verfärben. Und die Physiologin Linda Chalker-Scott entwickelte die These, dass Anthocyane als Frostschutzmittel dienen: Im Gegensatz zu Chlorophyll und vielen anderen Farbstoffen sind sie nämlich wasserlöslich, und →Wasser, in dem Substanzen gelöst sind, gefriert bei niedrigeren Temperaturen als normales Wasser. Denkbar wäre aber auch, dass Anthocyane das Wachstum bestimmter Pilze hemmen. Diese Hypothese entstand, als man in den 1970er Jahren beobachtete, dass pilzzüchtende Ameisen darauf achten, keine roten Blätter an ihre Pilze zu verfüttern. Vielleicht haben die Ameisen dafür tatsächlich bessere Gründe als eine Abneigung gegen die Farbe Rot, denn eine Studie der Universität Freiburg ergab ebenfalls, dass Anthocyanextrakte das Pilzwachstum in Früchten hemmen.

Insgesamt sind in den letzten zehn Jahren große Fortschritte in der Herbstlaubangelegenheit zu verzeichnen. Noch offen sind aber beispielsweise die Fragen: Welche Funktion hat die Rotverfärbung, die man manchmal bei jungen Blättern findet? Warum sind manche Pflanzen ganzjährig rot? Warum verfärben sich eng benachbarte Bäume derselben Art im Herbst oft sehr unterschiedlich? Oder verfärben sie sich in Wirklichkeit gar nicht? Vielleicht sind es ja nur unsere Augen, die sich auf den Herbst vorbereiten.

Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt
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