Anästhesie

Können Sie mir sagen, welches von diesen zwei Taschentüchern stärker nach Chloroform riecht?
Sam & Max, Freelance Police

Zum Glück braucht man in der Praxis nicht unbedingt zu wissen, warum etwas funktioniert, damit es funktioniert. Wäre es anders, könnte man ja keinen Kugelschreiber benutzen. Dass Narkosen sehr zuverlässig funktionieren, ist seit hundertfünfzig Jahren bekannt, aber warum sie funktionieren – lesen Sie an dieser Stelle nicht weiter, wenn Sie demnächst unters Messer müssen –, weiß niemand so genau. Klar ist, dass eine Vollnarkose das Rückenmark, das Stammhirn und die Großhirnrinde beeinflusst und so einen Zustand der Bewusstlosigkeit, Schmerzfreiheit und Muskelentspannung hervorruft, nach dessen Ende sich die meisten Patienten an nichts erinnern können. Beim Feintuning der erwünschten Narkose und der Unterdrückung unerwünschter Nebenwirkungen ist man inzwischen weit gekommen, eine eigentliche Erklärung der Anästhesie allerdings fehlt. Wir freuen uns zwar, dass es nicht umgekehrt ist, stehen damit aber heute wie vor hundert Jahren vor den Fragen: Wie und wo in der Zelle setzen Anästhetika an? Wie können die unterschiedlichsten Substanzen relativ gleichförmige Auswirkungen auf den Körper haben? Und wie kommt es von diesen Wirkungen auf die Zelle zu den komplexen Folgen für das Bewusstsein?

Anästhetika gibt es in großer Zahl – vom simplen Edelgas bis zum unübersichtlichen Molekülgestrüpp ist alles dabei. Weil die chemische oder physikalische Struktur der Stoffe so unterschiedlich ist, kann es kaum spezifische Rezeptoren für sie geben. Das heißt aber nicht, dass es gar keine Gemeinsamkeiten gibt. Um das Jahr 1900 entdeckten der Marburger Pharmakologe Hans Horst Meyer und der Zürcher Biologie-Privatdozent Charles Ernest Overton mehr oder weniger gleichzeitig einen auffälligen Zusammenhang: Je fettlöslicher ein Anästhetikum ist, desto stärker seine Wirkung. Die nach den beiden benannte Meyer-Overton-Hypothese besagt, dass alle fettlöslichen Stoffe narkotisch auf die Zellen von Lebewesen wirken, und zwar insbesondere auf die Nervenzellen, da «in deren chemischem Bau jene fettähnlichen Stoffe vorwalten», wie Meyer schreibt. Man nahm an, dass sich das Narkosemittel in der Membran der Nervenzelle löst und so deren Eigenschaften verändert. Wie das funktionieren sollte, war unklar, und so brachte man einige Jahrzehnte mit vergeblichen Versuchen zu, diese «Lipidtheorie der Narkose» zu beweisen. Seit den 1970er Jahren wurde sie von der «Proteintheorie» abgelöst, die davon ausgeht, dass Anästhetika an Proteinen, also Eiweißen, in der Nervenzellmembran angreifen. Vereinfacht kann man sagen, dass die Kommunikation der Nervenzellen gestört wird, sodass sie – anstatt zum Beispiel eine Schmerzempfindung ordentlich adressiert weiterzuleiten – nur noch müde «Was? Wie war das?» murmeln. Die Proteintheorie ist in ihren Grundzügen mittlerweile gut belegt. Aber was genau stellen die Narkosemittel mit den Proteinen an?

Vor wenigen Jahren gelang dem deutschen Pharmakologen Uwe Rudolph durch Versuche an genetisch modifizierten Labormäusen der Nachweis, dass einige Anästhetika spezifisch auf bestimmte Ionenkanäle – eine Art Ventile in der Nervenzellmembran – wirken. Ein Stoff mit dem schönen Namen Gamma-Aminobuttersäure (GABA) steuert das Öffnen und Schließen dieser Ventile und hemmt so die Signalweiterleitung. Rudolphs «GABA-Hypothese» besagt, dass Anästhetika an denselben Stellen andocken, die normalerweise von der GABA genutzt werden, und daher zur selben Hemmung und – auf einem noch zu erforschenden Weg – zum kontrollierten Abschalten des Gehirns führen können. Allerdings gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher GABA-Rezeptoren mit unterschiedlichen Funktionen, die von den fraglichen Substanzen unterschiedlich beeinflusst werden, sodass bis zur endgültigen Klärung der Ionenkanalfrage wohl noch ein paar Doktoranden verschlissen werden müssen. Außerdem behandelt die GABA-Hypothese nur einige bestimmte Narkosemittel, die direkt in die Blutbahn injiziert werden; über die Angriffspunkte der Stoffe, die inhaliert werden, ist nach wie vor wenig bekannt. Man weiß zwar, dass sie auf viele Proteine in der Zelle irgendeine Wirkung ausüben, es ist aber umstritten, ob gerade dieses Flächenbombardement den Anästhesieeffekt hervorruft oder ob ein Großteil der so beeinflussten Eiweiße dafür völlig irrelevant ist.

Mit den neuen Erklärungsmodellen der letzten Jahrzehnte kam auch das Ende der «Einheitshypothese der Narkose», der zufolge alle Anästhetika im Wesentlichen gleich funktionieren. Mittlerweile weiß man, dass die Wirkung mancher Anästhetika auf mehreren voneinander unabhängigen Vorgängen beruht, während andere Stoffe nur an bestimmten Stellen anzugreifen scheinen. Es ist also, wie so oft, alles sehr unordentlich eingerichtet.

Trotz ihrer unterschiedlichen Vorgehensweisen im Hirn ähneln sich die Effekte der diversen Mittel verdächtig. Zwar liegt der Schwerpunkt mal mehr auf der Schmerzausschaltung, mal mehr auf der tiefen Bewusstlosigkeit oder der Muskelentspannung, aber man kommt nicht an der grundsätzlichen Frage vorbei, warum die Körperfunktionen im Verlauf einer Narkose in derselben Reihenfolge wie beim Einschlafen oder einer Ohnmacht abgeschaltet werden. Theoretisch wäre es ja durchaus denkbar, dass zuerst der Geschmackssinn ausfällt, dann das rechte Bein und schließlich das logische Denken, während die Fähigkeit, sich beim Arzt zu beschweren, die ganze Zeit erhalten bleibt. Schon Overton hatte festgestellt, dass die Narkose dem Schlaf so deutlich ähnelt, «dass man ganz unwillkürlich zu der Frage gedrängt wird, ob nicht der natürliche Schlaf durch eine von dem Organismus selbst producirte, narcotisch wirkende Substanz verursacht sein dürfte». Bisher ist es nicht gelungen, eine solche Substanz dingfest zu machen, aber es ist gut möglich, dass Anästhetika nur einen bereits existierenden, evolutionär entstandenen Mechanismus auslösen. Die Überlegungen, welcher Art dieser Mechanismus sein könnte, sind heute nicht viel weiter gediehen als zu Overtons Zeiten.

Erste Anhaltspunkte, was sich eigentlich im Gehirn während einer Narkose tut, hat man in den letzten Jahren durch verschiedene Experimente mit Verfahren wie der Magnetresonanz- und der Positronen-Emissions-Tomographie gefunden, bei denen man Bilder vom Inneren des Gehirns gewinnt, ohne es vorher in Scheiben zu schneiden. Steckt man Versuchspersonen in einen Tomographen und versetzt sie in Narkose, kann man beobachten, in welcher Reihenfolge die Hirnfunktionen heruntergefahren werden und in welchen Teilen des Gehirns der Stoffwechsel am stärksten herabgesetzt wird. So zeigt sich auch, dass unterschiedliche Anästhetika die Aktivität unterschiedlicher Teile des Gehirns bremsen: Das Narkosegas Halothan zum Beispiel reduziert vor allem die Aktivität in Thalamus und Mittelhirn, den Schaltstellen, die Informationen an die zuständigen Sachbearbeiter in der Großhirnrinde verteilen. Das gebräuchliche Injektionsanästhetikum Propofol dagegen wirkt stärker auf die Großhirnrinde selbst. Es sieht so aus, als gäbe es mehr als eine Möglichkeit, das Bewusstsein kontrolliert abzuschalten, und da die entsprechenden Experimente noch relativ neu sind, kann man bisher bestenfalls vorsichtig vermuten, auf welchem Weg dieser herabgesetzte Stoffwechsel einzelner Gehirnteile zu Bewusstlosigkeit, Schmerzfreiheit und Amnesie führt.

Dass die Forschung hier in hundertfünfzig Jahren recht überschaubare Fortschritte gemacht hat, liegt nicht – oder zumindest nicht in erster Linie – daran, dass Anästhesisten zu viel golfen und zu wenig forschen. Eigentlich müssten andere Fachbereiche erst einmal herausfinden, wie Bewusstsein, Schmerz und →Schlaf funktionieren. Aber vielleicht ist es ja auch umgekehrt, und die Forschungsarbeiten zur Frage, wie wir das Bewusstsein verlieren, werden dabei helfen, das Bewusstsein zu erklären. Mal sehen, wer schneller ist.

Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt
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