Klebeband

Das Tier klebt nur infolge des Luftdrucks an dem Gegenstande, den es beklettert.
Brehms Tierleben: Der Gecko

Fragt man Fachleute, warum Klebeband eigentlich klebt, erhält man verdächtig ausweichende Antworten. Wenige geben es offen zu, aber augenscheinlich ist diese für den Fortbestand der Zivilisation so wesentliche Frage nicht abschließend geklärt. Man nähert sich dem Problem meist von der praktischen Seite: Hauptsache, es klebt.

Zwischen zwei Oberflächen wirken unterschiedliche Adhäsionskräfte – und zwar je nach Klebstoff und Differenzierungsfreude des jeweiligen Fachmanns zwei bis sieben verschiedene. Bei aushärtenden Klebstoffen aus der Tube kommen einige Varianten zum Tragen: Die mechanische Adhäsion, so nimmt man an, verankert den Klebstoff ähnlich wie mit den Häkchen eines Klettverschlusses an der Oberfläche. Bei der Adhäsion durch Diffusion vermischen sich die obersten paar hundert Moleküle von Klebstoff und Oberfläche. Chemische Bindungen zwischen den verklebten Materialien sind eine weitere Möglichkeit. Welche Rolle diese unterschiedlichen Adhäsionskräfte spielen, ist weder allgemein noch für spezielle Oberflächen und Materialien abschließend geklärt. Auch sind einige Klebeleistungen der Natur noch unverstanden, so weiß man etwa bisher nicht genau, wie Muscheln sich auf nassen Oberflächen oder gleich unter Wasser – ein Härtefall für jeden Klebstoff – festzementieren.

Vor anderen Fragen steht man bei den sogenannten Haftklebstoffen, wie man sie auf Klebeband oder Post-it-Notizzetteln vorfindet. Sie kleben sofort, ohne erst trocknen oder abbinden zu müssen. Diese Wirkung führt man vor allem auf Van-der-Waals-Kräfte zurück. Dabei handelt es sich um sehr schwache Kräfte, die auf der elektrischen Anziehung von positiven und negativen Ladungen in einzelnen Atomen oder Molekülen beruhen und deshalb nur auf kurze Entfernung wirken können. Sie sind darauf angewiesen, dass sich die beiden zu verbindenden Seiten sehr nahe kommen, was man beispielsweise durch extrem glatte Oberflächen erreichen kann. Ein Klebstoff, der willig in alle Vertiefungen fließt, bringt auch unebene Oberflächen auf diese Art miteinander in Kontakt. Solche Bindungskräfte nutzen sich nicht ab, deshalb kann man Fensterklebebilder oder Frischhaltefolie beliebig oft auf Glas aufkleben und wieder abziehen.

Van-der-Waals-Kräfte sind bei Klebstoffexperten besonders beliebt, weil man zu ihrer Erforschung einen Gecko ins Labor gestellt bekommt. Der Gecko nämlich beherrscht das Kleben, Abziehen und Wiederankleben beneidenswert gut, er kann sich an nur einer Zehe von der Decke baumelnd halten und sich im Sturz noch mit einem einzigen Fuß abfangen. Nach zweihundertjährigem Geckopfotenstudium, davon die letzten dreißig auf der richtigen Fährte, weiß man heute ziemlich sicher, dass sich der Gecko vor allem durch Van-der-Waals-Kräfte mit ein wenig Unterstützung durch Kapillarkräfte an der Decke halten kann. (Die Kapillarkräfte beruhen in diesem Fall darauf, dass sich in winzigen Hohlräumen zwischen Geckomolekülen und Wandmolekülen Wasser befindet; dazu reicht schon eine etwas höhere Luftfeuchtigkeit.) Weil beide Kräfte so schwach sind, würde man jeden auslachen, der auf die Idee käme, einen Gecko zu erfinden, aber zum Glück gibt es den Gecko ja bereits. Und durch geschickte Vergrößerung der Pfotenoberfläche vermittelst spezieller Fußhaare gelingt es ihm, diese schwachen Kräfte sehr oft zu bemühen, ungefähr so, als ließe man Ameisen einen in kleinste Teile zerlegten Lkw hochheben.

Aber genügen Van-der-Waals-Kräfte zur Erklärung der Klebrigkeit von Klebeband? Der französische Klebstoffspezialist Cyprien Gay jedenfalls bezweifelt das. Wenn man ausmisst, wie viel Energie zum Ablösen von Aneinandergeklebtem erforderlich ist, stellt sich Gay zufolge heraus, dass der Klebstoff etwa zehntausendmal besser haftet, als man mit Van-der-Waals-Kräften begründen kann. Eine Möglichkeit, die Situation zu retten, ist die sogenannte Viskoelastizität: Die langen Klebstoffmoleküle benehmen sich zwar nicht geschmacklich, aber sonst in vielerlei Hinsicht wie Spaghetti, sie lassen sich nur mit großer Mühe und Geduld voneinander trennen. Wenn Viskoelastizität und Van-der-Waals-Kräfte zusammenarbeiten, muss man immerhin hundertmal mehr Arbeit aufwenden, um zwei aneinandergeklebte Dinge zu trennen, als bei Van-der-Waals-Kräften allein. Doch damit sind immer noch nur etwa 1 Prozent der «Klebeenergie» erklärt. Welche Kraft sorgt für die verbleibenden 99 Prozent? Und warum ist zum Ablösen von Klebeband zuerst ein kräftiger Ruck und dann gleichmäßiger Zug erforderlich? Bei einer Messung der aufzuwendenden Kraft ergibt sich eine ungefähr sesselförmige Kurve – zunächst benötigt man für kurze Zeit viel Kraft (Lehne), dann längere Zeit wenig (Sitzfläche). Warum die Kurve so und nicht anders aussieht, lässt sich mit Van-der-Waals-Kräften nicht erklären.

Die Kavitationstheorie, die Cyprien Gay 1999 gemeinsam mit Ludvik Leibler vorstellte, soll beide Fragen beantworten. Sie besagt, dass sich im Klebstoff von Klebeband und Post-it-Zetteln zahlreiche Bläschen verbergen, die sich wie lauter kleine Saugnäpfe gegen das Abziehen sträuben. Falls die Kavitationstheorie stimmt, leisten die Bläschen wegen des entstehenden Unterdrucks anfangs Widerstand gegen das Abreißen, bis sie sich vergrößern und zusammenfließen. Dann muss nur noch der Widerstand der Klebstofffäden überwunden werden. Wenn es sich wirklich so verhält, müsste Klebeband sich auf hohen Bergen wegen des geringeren Luftdrucks messbar leichter abziehen lassen. Dieses Experiment wurde schon im Ursprungsjahr der Theorie angekündigt, scheint aber bisher nicht durchgeführt worden zu sein. Vielleicht ist es doch schwerer als gedacht, ein Klebstofflabor auf einen hohen Berg zu transportieren.

Warum bauen Klebstoffhersteller nicht einfach den Gecko nach? Die Frage drängt sich umso mehr auf, als Geckos nur einen Bruchteil ihrer theoretischen Klebkraft zu nutzen scheinen. Der US-Biologe Kellar Autumn berechnete, dass ein an einer Wand sitzender Tokeh-Gecko 140 Kilo Gewicht tragen könnte. Er will nur nicht. Aber Geckofüße sind Nanostrukturen und als solche etwas knifflig zu basteln. Zudem sorgt der Gecko dafür, dass seine Hafthaare sauber bleiben, während Kunstgeckos bisher noch schnell verschmutzen und ihre Haftkraft verlieren. Vermutlich möchte der Konsument auch gar nicht, dass seine Notizzettel im Büro an Wänden und Decken herumhuschen und Fliegen fangen. Es ist auch so schon schwer genug, den Überblick zu behalten.

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