Plattentektonik

Please do not attempt to stop continental drift by yourself.
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Fragt man nach den wissenschaftlichen Erfolgsgeschichten des 20. Jahrhunderts, werden oft Quantenmechanik, Relativitätstheorie oder Raumfahrt genannt, aber viel zu selten die Plattentektonik. Dabei ist die Plattentektonik, die Geschichte von der Wanderung der Kontinente, die große vereinheitlichende Theorie zum Verständnis der Erde. Sie erklärt, wo Gebirge, Ozeane und die meisten Vulkane herkommen, wieso es Erdbeben nur in bestimmten Regionen gibt, weswegen eng verwandte Tierarten auf verschiedenen Kontinenten leben, warum bestimmte Steine da liegen, wo sie liegen, wieso die Ostküste Südamerikas genau an die Westküste Afrikas passt und vieles mehr. Kaum eine andere Theorie liefert auf einen Schlag so schöne Erklärungen für so viele rätselhafte Phänomene. Aber die Freude über die Plattentektonik ist nicht ungetrübt: Gleichzeitig wirft sie einige brandneue Rätsel auf, von deren Lösung die Wissenschaft weit entfernt ist.

Als «Erfinder» der Plattentektonik wird heute meist Alfred Wegener genannt, der Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreiche Argumente für seine Theorie vorbrachte, wobei kluge Menschen wie Francis Bacon oder Benjamin Franklin schon Jahrhunderte vor Wegener über die Möglichkeit einer Kontinentaldrift spekulierten. Es dauert dann noch eine Weile, bis sich in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts die Plattentektonik allmählich durchsetzte – eine zähe Erfolgsgeschichte. Leider bewegen sich Erdteile langsamer, als das Gras wächst (ein paar Zentimeter pro Jahr); niemand kann sich hinsetzen und ihnen dabei zusehen. Stattdessen argumentiert man indirekt: Wenn man Gestein, dessen Eigenschaften auf eine Entstehung am Äquator hindeuten, heute in Sibirien vorfindet, dann muss Sibirien früher an einer anderen Stelle gelegen haben. Auch wenn es heute so tut, als wäre es vollkommen unschuldig.

Aber wie funktioniert sie genau, die Plattentektonik? Obwohl die Idee auf den ersten Blick einfach aussieht, ist sie in Wirklichkeit erschreckend komplex. Die Erdoberfläche besteht aus einigermaßen soliden, etwa 20 – 80 Kilometer dicken «Platten», die auf einer zähflüssigen Schicht gleiten. Die meisten Platten enthalten einen Kontinent und zusätzlich Teile des Meeresbodens. An den Grenzen zwischen den Platten geht es dramatisch zu: Im einfachsten Fall schrammen zwei Platten lediglich aneinander vorbei. Es kann zu komplexen Verwerfungen, Erdbeben und Vulkanismus kommen, wie in Kalifornien, wo sich die nordamerikanische und die pazifische Platte berühren. In anderen Fällen bewegen sich zwei Platten voneinander weg; der entstehende Zwischenraum wird aus den tieferen Schichten der Erde mit flüssigem Gestein, Magma, ausgefüllt. Es bildet sich neue Erdkruste, das Meer wird größer, ein Vorgang, der heute etwa zwischen afrikanischer und südamerikanischer Platte mitten im Atlantik stattfindet. Wenn aber Ozeane wachsen und die Platten auseinanderdriften, wo laufen sie hin?

Eine frühe Erklärung des Phänomens: Die Erdoberfläche dehnt sich einfach immer weiter aus wie ein Ballon, der mit Luft gefüllt wird. Für diese Hypothese fehlt ein glaubhafter Beweis, zum Beispiel fand niemand je die Stelle, an der der Ballon aufgeblasen wird. Stattdessen setzte sich schnell die Erkenntnis durch, dass parallel zur Erzeugung neuer Erdkruste anderswo Platten vernichtet werden: Sie zerstören sich gegenseitig in gigantischen Auffahrunfällen. Genauer gesagt schiebt sich eine Platte unter die andere, ein Vorgang, den man Subduktion nennt und der mit sehenswerten Folgen für die beteiligten Platten verbunden ist. Den Himalaja zum Beispiel gibt es nur, weil sich die indische Platte rücksichtslos unter die eurasische schiebt und sie so von unten anhebt.

Wenn man, an diesem Punkt angekommen, die typische Wissenschaftlerfrage «Warum?» stellt, ist man beim Unwissen angekommen. Warum etwa bewegen sich die Platten überhaupt? Der «Motor» der Plattentektonik, da ist man sich einig, liegt tief im Innern der Erde, wo durch radioaktive Prozesse Energie freigesetzt wird – ein vorsintflutliches Kernkraftwerk. Die erzeugte Hitze wird durch sogenannte Konvektion nach außen transportiert, ein Mechanismus, den man aus jedem Kochtopf kennt: Heißes Wasser steigt nach oben, kaltes sinkt an anderer Stelle nach unten ab. Im Erdmantel passiert genau das Gleiche. Damit alles schön langsam abläuft und der Planet nicht überkocht, verwendet die Erde anstatt Wasser allerdings Gestein. Vieles an der Erdmantelkonvektion ist unverstanden, zum Beispiel wissen wir nicht genau, wo eigentlich Material nach oben aufsteigt und wo es absinkt. Sicher erscheint jedoch, dass die großräumigen Konvektionsbewegungen in irgendeiner Form beim Antrieb der Kontinentaldrift eine Rolle spielen.

Zum einen können Platten wohl direkt auf den Konvektionsströmen «reiten». Wenn die Wurzeln der Kontinente fest genug mit der unter ihnen befindlichen zähflüssigen Masse verbunden sind, bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als deren Fließbewegung widerwillig zu folgen. Möglicherweise treibt Nordamerika zur Zeit auf diese Art und Weise Richtung Asien. Zwei andere Prozesse sind wahrscheinlich in Subduktionszonen am Werk: Zum einen können Konvektionsströme Platten nach unten «saugen», die dagegen ähnlich hilflos sind wie ein Schwimmer, der von einem Haifisch in die Tiefe gezogen wird. Zum anderen kann die Platte aber auch schlicht untergehen, das heißt an einem Ende durch ihr Gewicht in den Schichten unter ihr versinken. Der Rest der Platte wird mitgezerrt, auch spektakuläre Protestaktionen wie Erdbeben und Tsunamis ändern daran nichts. Beide Prozesse, «Saugen» und «Versinken», bewirken letztlich dasselbe – der Rand einer Platte verschwindet allmählich von der Erdoberfläche –, aber die treibende Kraft ist in einem Fall Konvektion, im anderen Schwerkraft. Was nach der Verschleppung ins Erdinnere mit den Plattenteilen geschieht, ist wiederum nicht klar. Zerfällt die Platte gleich oder bleibt sie eine Weile erhalten und schiebt sich im Ganzen Hunderte von Kilometern in die Erde hinein? Bestimmt ist es dunkel und ungemütlich dort.

Vermutlich spielen alle genannten Prozesse eine Rolle bei der globalen Plattenwanderung. Die Kräfte an Subduktionszonen sind offenbar am stärksten und können zu atemberaubenden Geschwindigkeiten von 15 Zentimetern pro Jahr führen. Andere Mechanismen dürften aber auch beteiligt sein, schon deshalb, weil nicht alle Platten an Subduktionszonen angrenzen. Ebenfalls noch nicht aus dem Spiel ist die Möglichkeit, dass die Anziehung zur Bewegung der Platten beiträgt.

Jede Menge offene Fragen gibt es auch um den Verlauf der Plattenwanderung. Einigermaßen sicher rekonstruieren lässt sich nur die «jüngere» Geschichte der Platten, also die letzten 500 Millionen Jahre: Vor rund 250 Millionen Jahren bildeten alle heute bekannten Kontinente eine einzige riesige Landmasse, den Superkontinent Pangäa. Man konnte, wenn man gut zu Fuß war, von Alaska bis nach Australien laufen, ohne zwischendurch erst das Ruderboot erfinden zu müssen. Noch etwas weiter zurück in der Zeit, ungefähr vor einer Milliarde Jahre, hatten sich die Erdteile schon einmal zu einem Superkontinent zusammengefunden, den man Rodinia nennt. Anders als von Pangäa gibt es von Rodinia nur sehr ungenaue Landkarten: Es ist beispielsweise umstritten, wo sich Sibirien zu dieser Zeit aufhielt. Zum Glück waren Weltreisen damals nicht besonders populär, man wäre in Teufels Küche geraten. Aber eine Milliarde Jahre ist weniger als ein Viertel der Erdgeschichte, und wie die Kontinente in den ersten dreieinhalb Milliarden Jahren aussahen, ist nur mit großer Mühe zu ergründen. Vermutet wird, dass in unregelmäßigen Abständen Superkontinente entstehen und wieder zerfallen. Die ältesten Hinweise auf einen Superkontinent, den wir Vaalbara nennen, stammen von Gesteinen, die vielleicht seit mehr als drei Milliarden Jahren über die Erde wandern.

Für die ersten drei Milliarden Jahre der Erdgeschichte ist jedoch nicht einmal klar, ob es überhaupt Plattentektonik gab und ob sie, wenn es sie gab, genauso funktionierte wie heute. Welche enormen Kräfte führten dazu, dass sich Erdteile irgendwann in grauer Vorzeit in Bewegung setzten? Die frühe Erde unterschied sich in vielerlei Hinsicht von dem, was wir heute vorfinden, zum Beispiel war sie im Inneren deutlich besser beheizt. Darum könnte sich der Antrieb der Plattentektonik, der, wie oben beschrieben, viel mit den Zuständen im Erdinnern zu tun hat, im Laufe der Zeit stark verändert haben – wie, das ist umstritten. Das Wissenschaftsmagazin «Nature» berichtete im Juli 2006 von einer Konferenz zur frühen Plattengeschichte, auf der die Teilnehmer, allesamt Experten auf diesem Gebiet, darüber abstimmten, wann die Plattentektonik auf der Erde einsetzte. Die Mehrheit immerhin vermutet einen frühen Start der Wanderung, irgendwann vor drei bis vier Milliarden Jahren – genauer kann man das bisher kaum sagen. Andere glauben an einen wesentlich späteren Beginn, und wieder andere schließen nicht aus, dass die Kontinente zwischendurch immer mal wieder längere Zeit stehenblieben, vermutlich weil sie kurz Luft holen müssen.

Plattentektonik gehört keineswegs selbstverständlich zum Repertoire von Planeten. Von anderen Planeten im Sonnensystem kennt man so ein unstetes Verhalten zumindest aus jüngerer Zeit nicht. Der Mars immerhin könnte früher einmal herumwandernde «Kontinente» besessen haben: Daten der Raumsonde «Mars Global Surveyor», die ihn seit 1999 umkreist, lassen auf Plattentektonik schließen, wie man sie von der Erde kennt. Das muss allerdings Milliarden Jahre her sein. Venus verfügt zwar über eine Oberfläche, die in vielerlei Hinsicht der der Erde ähnelt, zum Beispiel findet man Gebirge, Vulkane, tiefe Schluchten wie den Grand Canyon, alles Dinge, die auf der Erde durch Plattentektonik entstehen. Venus jedoch schafft es womöglich ohne – ob und wie, ist umstritten. Der große Jupitermond Ganymed allerdings, einer der vier Monde, die bereits Galileo Galilei entdeckte, zeigt schöne plattentektonische Verwerfungen und könnte daher wertvolle Hinweise auf Ursache und Wirkung der Kontinentaldrift liefern. Immer nur den eigenen Planeten zu betrachten, macht schließlich irgendwann betriebsblind.

Ebenso ungewiss wie ihre Vergangenheit ist die Zukunft der Platten auf der Erde, die man aus der heute gemessenen Bewegung vorherzusagen versucht. Zurzeit zum Beispiel kollidiert Afrika mit Europa, ein Vorgang, der schon die Alpen und die Pyrenäen erzeugt hat und bereits in 50 Millionen Jahren dazu führen könnte, dass das Mittelmeer mit Sand aus der Sahara zugeschüttet wird. Und in manchen Szenarien würde in nur 250 Millionen Jahren Amerika zur Kontinentversammlung aus Europa, Asien und Afrika hinzustoßen. Wir wissen nicht so genau, ob es in Westafrika oder Ostasien andocken wird. Ob New York also in der näheren geologischen Zukunft neben Namibia liegt oder eher San Francisco in Japan, ist ungewiss. Aber auf diese Weise entstünde schon praktisch übermorgen ein neuer Superkontinent, der, je nachdem, wie er am Ende aussieht, Amasia oder (wenig kreativ) Pangäa Ultima heißen könnte. Zum Glück ist noch genug Zeit, um sich einen originelleren Namen auszudenken.

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