Riechen

Die Art und Weise des Geruchs bestehet darinne, daß die Bewegung der rüchenden Sache angenommen, gemäßiget und in das Gehirne zur Seele gebracht werde, damit diese derselben Eigenschafft empfinden und erkennen möge.
»Geruch», aus: Zedlers großes vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, 1732 1754

Für die meisten Menschen ist Riechen heute nur noch ein Hobby. Zum Überleben jedenfalls ist es nur selten notwendig, weil wir uns lieber auf Augen und, in geringerem Maße, Ohren verlassen. Zahlreiche Tiere jedoch lachen über diesen Trend zum Sehen und beharren darauf, ihre Umgebung mit dem guten alten Riechsinn zu erkunden. Vermutlich keine schlechte Idee, denn oft gibt es dort, wo sie wohnen, nicht einmal elektrisches Licht.

Hier der grobe Ablauf des Riechvorgangs: «Geruch» besteht aus den Molekülen von Duftstoffen. Gelangen sie zur Riechschleimhaut in die obere Nase, so werden sie von den dort befindlichen Rezeptoren, speziell für diesen Zweck konstruierten Molekülen, registriert. Die Rezeptoren erzeugen bei Ankunft des Duftstoffes ein elektrisches Signal, das über Nervenleitungen ins Gehirn geschickt wird. Dort geschieht, wie bei den anderen Sinnesorganen auch, die umständliche Auswertung der Geruchsinformationen. Aus den reinen Daten wird in einem komplizierten und noch lange nicht komplett verstandenen Prozess das für den Menschen Wichtige abgeleitet, zum Beispiel, ob man gerade eine Blume vor der Nase hat oder ein Stinktier.

Vieles hat man in den letzten Jahren über die am Riechen beteiligten Prozesse gelernt. Man weiß, dass etliche Säugetiere um die 1000 verschiedene Rezeptorenarten besitzen (beim Menschen sind es nur etwa 350), mit denen sie rund 10 000 Geruchstöne unterscheiden können. Wie man die Riechrezeptoren zusammenbaut, steht in etwa 1000 Genen, das sind immerhin 1 – 4 Prozent des gesamten Genoms – je nachdem, wie viele Gene man dem Menschen insgesamt zugesteht, was umstritten ist. Jedenfalls liegt dem Organismus offenbar einiges am Geruchssinn. Ähnliches gilt auch für das Nobelpreis-Komitee, das im Jahr 2004 den Nobelpreis für Medizin an Richard Axel und Linda B. Buck vergab, für mehr als ein Jahrzehnt gründlicher Erforschung des Riechsystems von den Rezeptoren bis zum Gehirn.

Bisher ungeklärt ist der Mechanismus, der ganz am Anfang des Riechvorgangs steht – die Wechselwirkung zwischen Duftmolekül, dem «Träger» des Geruchs, und dem Rezeptor. Was genau passiert, wenn ein Molekül auf einen Rezeptor trifft? Woran merkt der Rezeptor, dass ein bestimmter Stoff in die Nase gelangt ist? (Nein, die Antwort «am Geruch» wäre zu einfach.) Oder von der anderen Seite aus betrachtet: Welche Eigenschaft einer Substanz macht ihren Geruch aus? Warum riechen einige Stoffe angenehm, andere nicht?

Nach Meinung der meisten Experten arbeiten Rezeptoren und Duftstoffe nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip. Die Rezeptormoleküle stellen das Schloss dar und besitzen eine bestimmte Form. Kommt nun ein Molekül zum Rezeptor, das genau die umgekehrte Form hat, also wie ein Schlüssel in den Rezeptor hineinpasst, freut sich die Nase und meldet das Ereignis den Vorgesetzten im Gehirn. In diesem «stereochemischen» Modell, ursprünglich vorgeschlagen vom Amerikaner John Amoore im Jahr 1952, ist der Geruch eines Stoffes durch Form und Größe seiner Moleküle festgelegt. Auch wenn das Schlüssel-Schloss-Prinzip weithin als Grundlage des Riechmechanismus akzeptiert ist, bereitet es einige Schwierigkeiten: Die menschliche Nase verfügt, wie schon erwähnt, nur über circa 350 verschiedene Typen von Rezeptoren. Wenn wirklich allein die Form wichtig ist, sollten wir streng genommen auch nur 350 Gerüche voneinander unterscheiden können; es sind jedoch deutlich mehr. Na und, sagt zum Beispiel Leslie B. Vosshall, Professorin an der Rockefeller-Universität in New York, dann sitzen die Schlüssel eben etwas lose im Schloss. Was zunächst wie Schlampigkeit klingt, erweist sich als cleverer Schachzug: So nämlich passen mehrere Geruchsmoleküle an denselben Rezeptor (schlecht zwar, aber sie passen) und verschiedene Rezeptoren an dasselbe Molekül. Durch Kombination der Informationen von verschiedenen Rezeptoren könnte das Gehirn Tausende unterschiedlicher Gerüche wahrnehmen.

Ein ernsthaftes Problem für die stereochemische Theorie sind jedoch Moleküle, die ähnlich geformt sind, aber ganz anders riechen – oder umgekehrt ganz anders aussehen und trotzdem ähnlich riechen. Die Moleküle von Decaboran zum Beispiel, einer Substanz, die unter anderem als Raketentreibstoff dient, sehen denen des Camphan sehr ähnlich – nur sind alle Bor-Atome durch Kohlenstoff-Atome ersetzt. Während Camphan jedoch wie Kampfer riecht, das in zahlreichen Kosmetika und Medikamenten vorkommt, riecht Decaboran deutlich nach Schwefel (den es zu allem Überfluss nicht einmal enthält). Zahlreiche Stoffe riechen nach bitteren Mandeln, obwohl sie teilweise ganz anders aufgebaut sind als Benzaldehyd, die Substanz, aus der Bittermandelöl hauptsächlich besteht. Wegen solcher Unstimmigkeiten sucht man nach Erweiterungen oder Alternativen für das stereochemische Modell.

Eine dieser Alternativen ist seit 1996 mit dem Namen Luca Turin verbunden, wenn auch die grundlegende Idee fast 60 Jahre älter ist und von G. Malcolm Dyson stammt. Der nämlich prognostizierte, dass nicht die Form des Moleküls entscheidend ist, sondern die Schwingungen innerhalb eines Moleküls. Setzt man Atome zu einem Molekül zusammen, entsteht keineswegs ein starres, unbewegliches Gebilde. Vielmehr muss man sich die Bindungen im Molekül wie Federn vorstellen, an denen Gewichte (die Atome) hängen, die fortwährend hin und her schwingen. Nicht nur einzelne Atome schwingen, sondern in komplizierteren Molekülen auch ganze Atomgruppen. Sie tun dies mit bestimmten Frequenzen, die unter anderem vom Gewicht der beteiligten Atome und der Stärke der Bindung abhängen. Jedes Molekül zeigt ein charakteristisches Spektrum aus Vibrationen, das man zum Beispiel verwenden kann, um die Struktur von Molekülen zu analysieren. Turin behauptet nun, dass die Nase genau dasselbe tut: Sie arbeitet wie ein Spektroskop und identifiziert Geruchsstoffe anhand der Schwingungsfrequenzen der enthaltenen Moleküle. Das ist zwar technisch komplizierter als Schlüssel und Schloss und klingt daher vielleicht unwahrscheinlich. Aber das Grundprinzip, die Wahrnehmung von Schwingungen, ist dem Körper nicht fremd: Auch das Auge und das Ohr nehmen Frequenzen wahr, entweder in Form elektromagnetischer oder akustischer Wellen.

Allerdings ist im Falle der Nase bislang nicht klar, wie auf molekularer Ebene Vibrationen von Molekülen wahrgenommen werden sollen. Wie «messen» die Rezeptoren das Schwingungsspektrum der Geruchsstoffe? Eine mögliche Antwort auf diese Frage wurde 2006 von Jennifer C. Brookes und Kollegen aus London veröffentlicht. Der von ihnen vorgeschlagene Mechanismus wurde bereits 1996 von Turin erwähnt und ähnelt dem einer Magnetstreifenkarte. Trifft ein Molekül mit einer bestimmten Schwingungsfrequenz auf den dazugehörigen Rezeptor, so wird, vereinfacht ausgedrückt, ein Stromkreis geschlossen: Elektronen fließen von einem Spender über das Geruchsmolekül zum Rezeptor, wo sie das Signal auslösen, das zum Gehirn gesendet wird – so jedenfalls die Theorie. Ob der Mechanismus auch in der Praxis funktioniert und ob er wirklich in der Nase eingebaut ist, müssen zukünftige Experimente klären.

Die Vibrationstheorie wurde in der Fachwelt mit erheblicher Skepsis aufgenommen, trat jedoch einen Siegeszug durch die Medien an. Turin schrieb Kolumnen für die «Neue Zürcher Zeitung» über seine Geruchsideen, die BBC porträtierte ihn ausführlich, und der amerikanische Wissenschaftsjournalist Chandler Burr schrieb ein ganzes Buch über Turin und seine Theorie. Im Jahr 2006 schließlich erschien Turins eigenes Buch «Das Geheimnis des Geruchs». Dabei ist die neuentdeckte Theorie keineswegs weniger widerspruchsfrei als das Schlüssel-Schloss-Prinzip. Ein Problem sind Enantiomere, Moleküle, die sich nur dadurch unterscheiden, dass sie an einer Achse gespiegelt sind, in etwa wie linke und rechte Hand. Durch eine solche Spiegelung ändern sich die Schwingungsfrequenzen nicht, die Substanzen sollten also gleich riechen. Das tun sie allerdings nicht immer, das eine Enantiomer des Moleküls Carvon zum Beispiel riecht nach Kümmel, das andere nach Minze.

Ein wichtiger Test für jede Riechtheorie sind Experimente mit Isotopen: Man untersucht Moleküle, in denen eines oder mehrere Atome durch ein Isotop – also dasselbe Atom, nur mit einer anderen Anzahl Neutronen im Kern – ersetzt werden. Wasserstoff, das einfachste Atom, verfügt im Normalfall lediglich über ein Proton und ein Elektron. Fügt man ein Neutron hinzu, nennt man das Resultat Deuterium. Es handelt sich allerdings immer noch um Wasserstoff, weil das Neutron auf die chemischen Eigenschaften wenig Einfluss hat. Tauscht man in einem großen Molekül Wasserstoff-Atome durch Deuterium-Atome aus, ändert sich die Form der Moleküle kaum, wohl aber (weil die Deuterium-Atome schwerer sind als normaler Wasserstoff) ihre Schwingungsfrequenzen. Wenn Form das einzig Wichtige für den Geruch ist, sollten solche «deuterierten» Moleküle gleich riechen, wenn es hingegen auf die Schwingungen ankommt, sollte sich ihr Geruch verändern. Darum kann man solche deuterierten Moleküle theoretisch dazu verwenden, zwischen beiden Modellen zu unterscheiden.

Ein paar Kakerlaken glauben, uns weismachen zu müssen, dass ihr Riechsinn eher nach dem Schwingungsmodell funktioniert: Deuteriert man Moleküle, die auf Kakerlaken aphrodisierende Wirkung haben, verändert sich die Reaktion der Tiere je nach Position des zusätzlichen Neutrons, wie im Jahr 1996 die Chemiker Barry A. Havens und Clifton E. Meloan von der University of Kansas berichteten. Zudem fanden sie einen Zusammenhang zwischen dem Schwingungsverhalten der aphrodisierenden Moleküle und der Kakerlakenaktivität, was Turin freuen dürfte. Auch einige Fische können womöglich Isotope am Geruch unterscheiden, während Fruchtfliegen so tun, als wüssten sie nichts von Neutronen. Aber kann man ihnen trauen? Riechexperimente mit Tieren sind mit zahlreichen Problemen behaftet, unter anderem, weil man die Probanden nicht so ausführlich über den Geruch von Substanzen befragen kann, wie man es gern tun würde. Für Menschen jedenfalls, so glauben heute die meisten, riechen deuterierte und undeuterierte Substanzen gleich. So ergeben Versuche, die Vosshall und ihr Kollege Andreas Keller im Jahr 2004 angestellt haben, dass Acetophone immer nach bitteren Mandeln riechen (ein häufiger Duft in Riechlabors), egal, wie viel Neutronen der enthaltene Wasserstoff besitzt, ganz wie man es erwarten würde, wenn die Form des Moleküls den Geruch bestimmt.

Unterm Strich gilt Turins Vibrationstheorie heute weiterhin als Außenseiter. Die meisten Fachleute halten die Form der Moleküle für den Ursprung der Gerüche, wobei eingeräumt wird, dass womöglich noch andere Aspekte zusätzlich eine Rolle spielen könnten. Turin selbst gibt zu, seine Idee sei «ziemlich oberflächlich». Die entscheidende Frage für alle Modelle ist, wie gut sie Gerüche von bestimmten Molekülen vorhersagen können – bevor irgendjemand seine Nase daran hält. Wünschenswert wäre also ein großer Geruchswettstreit, bei dem Vertreter verschiedener Lager Gerüche vorhersagen und anschließend mit der Wirklichkeit verglichen wird. Wer die meisten Treffer hat, gewinnt.

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