Unangenehme Geräusche

Dass ich aus Angst vor dem Geräusch die Klospülung nicht mehr benutzte, stürzte unsere Ehe in eine Krise.
Jochen Schmidt: «Meine Geräuschempfindlichkeit», in: «Meine wichtigsten Körperfunktionen»

Es gibt viele scheußliche Geräusche auf der Welt – manche Radiosender übertragen den ganzen Tag nichts anderes. Wenn die Meinungen über das Radioprogramm auch auseinandergehen, ist man sich über Gabelkratzen auf Porzellantellern oder Kreidequietschen auf Tafeln weitgehend einig: Bestimmte Geräusche verursachen fast allen Menschen Gänsehaut. Das Quieken aneinandergeriebener Styroporbecher oder Luftballons und das Surren des Zahnarztbohrers gehören ebenfalls dazu. Aber warum ist das so? Menschen können Geräusche bis etwa 20 Kilohertz wahrnehmen, und es sind die hochfrequenten Geräuschanteile, die bis vor kurzem gern verdächtigt wurden, Abscheu zu erregen: Es handle sich um eine Schutzreaktion, weil diese hohen Frequenzen auf Dauer das Gehör schädigen könnten. Wie Lynn Halpern, Randy Blake und Jim Hillenbrand 1986 in einer der raren Studien zu diesem Thema herausfanden, werden solche Geräusche jedoch nicht erträglicher, wenn man den hochfrequenten Anteil herausfiltert. Tatsächlich scheinen eher die niedrigen bis mittleren Frequenzen zwischen 3 und 6 Kilohertz Gänsehaut auszulösen. Das für alle Versuchspersonen unangenehmste Geräusch im Experiment war das Kratzen eines dreizinkigen «True Value Pacemaker»-Gartenwerkzeugs auf einer Schiefertafel. Mit zwanzigjähriger Verspätung erhielten die drei Forscher 2006 für ihre aufopferungsvolle Arbeit den Anti-Nobelpreis «Ig Nobel Prize» für den Fachbereich Akustik.

Dem Schutz des Gehörs dient die Reaktion also wohl eher nicht. Halpern, Blake und Hillenbrand stellen in ihrer Studie die Frage, ob diese Geräusche ihre menschlichen Hörer an Primaten-Warnrufe oder Raubtiergeräusche erinnern und die Reaktion daher angeboren sein könnte. Diese Vermutung wird nicht gestützt von einer 2004 am MIT durchgeführten Studie an Lisztaffen (Saguinus oedipus), denen ziemlich egal war, ob man ihnen weißes Rauschen oder Schiefertafelkratzgeräusche vorspielte. Blake vertritt bis heute die Primatentheorie, Hillenbrand dagegen hat noch nie viel von ihr gehalten. Seiner Meinung nach ist es weniger das Geräusch als der Anblick, der den Widerwillen auslöst. Dafür sprechen einige Experimente, die der Psychologiestudent Philip Hodgson 1987 an der University of York durchführte. Hodgson hatte ebenfalls festgestellt, dass Frequenzen um die 2,8 Kilohertz herum als besonders unangenehm empfunden werden. Er versuchte, dem Problem zu Leibe zu rücken, indem er Testpersonen, die von Geburt an taub waren, dazu befragte, wie unangenehm sie den Anblick des Fingernägelkratzens an einer Tafel fanden. 83 Prozent der Befragten fühlten sich dabei unwohl, und auf die Frage, in welcher Körperregion sich dieses Unwohlsein äußere, gaben 72 Prozent davon an, es sitze in den Zähnen. Eine Erklärung für dieses Phänomen fand jedoch auch Hodgson nicht.

Wer seine eigene Empfindlichkeit testen will, kann sich auf der «Bad Vibes»-Website des britischen Akustikprofessors Trevor Cox (www.sound101.org) 30 schlimme Geräusche vorspielen lassen und sie bewerten. Cox selbst gibt an, ihn ließen alle diese Geräusche kalt. Er glaubt ebenfalls nicht an die Primatentheorie, wollte aber anhand seiner international erhobenen Daten wenigstens herausfinden, ob sich die Ansichten über unangenehme Geräusche regional unterscheiden. Cox’ ersten veröffentlichten Ergebnissen kann man zwar keine Details zur Verteilung nach Ländern entnehmen, aber nach Analyse von 1,1 Millionen abgegebenen Stimmen liegt Erbrechen auf Platz 1 der unangenehmsten Geräusche, gefolgt von Mikrophonfeedback, vielstimmigem Babygeschrei und einem schrillen Quietschton. Frauen reagieren in den meisten Fällen empfindlicher als Männer. Die Ergebnisse der Studie, so Cox, passen nicht zu einer reinen Ekelreaktion und können auch nicht als Beleg der Warnruf-Hypothese dienen. Leider sind von Cox keine weiteren Erkenntnisse zu erwarten, denn er möchte sich als Nächstes der Suche nach dem angenehmsten Geräusch der Welt zuwenden. Verdenken kann man es ihm nicht.

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