Tropfen

Wie sieht eine Träne wirklich aus? Nicht sehr romantisch. Erst wie eine Orange, in die eine Stricknadel gespießt ist, und später wie ein Hamburger.
Ian Stewart, Mathematiker

Ein tropfender Wasserhahn könnte wesentlich weniger lästig sein, wenn man wüsste, wie die Tropfen entstehen. So aber liegt man nächtelang wach und wird mit jedem Tropfgeräusch aufs Neue daran erinnert, wie bedrückend wenig man von der Welt versteht. Die gute Nachricht: In stark idealisierten Fällen können Mathematiker die Tropfenbildung heute einigermaßen erklären. Zwei schlechte Nachrichten: Zum einen sind die Vorgänge an den meisten echten Wasserhähnen weiterhin unverstanden. Wie kann man die Größe der Tropfen vorhersagen? Wie lange dauert es, bis ein neuer Tropfen abreißt? Und was geschieht dabei eigentlich genau? Zum anderen führen die Tropfenfragen direkt zu einigen der kompliziertesten – und gleichzeitig wichtigsten – Problemen, mit denen man sich in der Forschung beschäftigen kann.

Wenn eine Flüssigkeit langsam aus einem senkrechten Hohlzylinder (ein Schlauch oder Rohr) austritt, entstehen Tropfen. Zunächst sammelt sich am Ende des Rohrs ein wenig Flüssigkeit, dann entsteht eine Einschnürung zwischen dem neuen Tropfen und dem Rohrende. Diese Einschnürung zieht sich in der Folge stark in die Länge, bis an ihrem unteren, spitzen Ende der Tropfen hängt. Schließlich reißt dieses instabile Gebilde auseinander. Abgesehen von dem großen Tropfen bilden sich aus den Resten des Fadens zwischen Tropfen und Rohr eine Reihe von kleineren Tropfen. Eine wichtige Erkenntnis der modernen Forschung: Es ist schwer, nur Tropfen einer bestimmten Größe zu produzieren. Stattdessen hat man es mit einem breiten Spektrum aus Tropfengrößen zu tun.

Die treibende Kraft hinter der Tropfenbildung ist Oberflächenspannung. Flüssigkeiten wehren sich dagegen, ihre Oberfläche zu vergrößern. Darum sehen Tropfen kugelförmig aus, wenn man Luftwiderstand und ähnliche Effekte vernachlässigt. Der Übergang von einem zusammenhängenden Fluid zu isolierten Tropfen ist jedoch außerordentlich kompliziert.

Die Tropfenbildung zu verstehen, das wünschen sich zum Beispiel die Hersteller von Tintenstrahldruckern und Wandfarbe; die einen wollen möglichst gleichmäßige Tropfen, die anderen am besten gar keine. Die dem Tropfenproblem zugrunde liegende Theorie der sich bewegenden Flüssigkeiten, Hydrodynamik genannt, spielt außerdem eine Rolle beim Bau von Flugzeugen, Schiffen, beim Verständnis der Vorgänge in der Erdatmosphäre und der Milchstraße sowie in der Diskussion der Frage, wie lange ein zähflüssiger Käse für die Bewältigung der Marathondistanz benötigt. Im Allgemeinen verlangt die Beschreibung der Bewegung einer Flüssigkeit die Lösung der Navier-Stokes-Gleichungen, benannt nach zwei Mathematikern des 19. Jahrhunderts, die Geschwindigkeitsänderungen in Bezug zu Druckänderungen in der Flüssigkeit setzten. Bis heute ist allerdings keine Lösung für diese Gleichungen bekannt, schlimmer noch – niemand weiß, ob überhaupt eine Lösung existiert. Wenn man eine findet, ist man reich, denn die Lösung der Navier-Stokes-Gleichungen gehört, wie auch der Beweis der →Riemann-Hypothese und das →P/NP-Problem, zu den Jahrtausendproblemen der Mathematik, für die je eine Million Dollar Preisgeld ausgesetzt ist.

Nur in bestimmten Spezialfällen kann man die Navier-Stokes-Gleichungen lösen. Sie vereinfachen sich zum Beispiel, sobald es sich um →Wasser handelt. Wasser ist eine sogenannte Newtonsche Flüssigkeit: Egal wie grob man mit ihm umgeht, es wird sich immer wie eine Flüssigkeit benehmen, seine Viskosität (Zähigkeit) hängt nur von Temperatur und Druck ab, nicht von den Kräften, die an ihm ziehen. Anders die Nichtnewtonschen Flüssigkeiten, zu denen so wesentliche Dinge wie Zuckerwasser, Honig, Blut, Senf, Klebstoffe, Farbe, flüssige Metalle, aber auch Sand gehören: Ihre Zähigkeit verändert sich, je nachdem, was man mit ihnen anstellt. Wenn man zum Beispiel Maisstärke in Wasser anrührt, so kann man auf der resultierenden Pampe herumlaufen, solange man sich schnell und kraftvoll bewegt. Bleibt man jedoch stehen, sinkt man ein. Bei großer Krafteinwirkung verhält sich das Gemisch wie Götterspeise, bei geringer wie eine normale Flüssigkeit. Das ist allerdings bei Nichtnewtonschen Flüssigkeiten nicht immer so, einige, Blut zum Beispiel, verhalten sich genau umgekehrt oder auch ganz anders.

Ein tropfender Wasserhahn bietet noch eine weitere Möglichkeit, die Gleichungen und mit ihnen die Modellierung der Tropfenentstehung zu vereinfachen: Er ist im Idealfall zylindersymmetrisch, das heißt, er sieht von allen Seiten betrachtet gleich aus, und die Schwerkraft zieht die Tropfen sauber nach unten. Das ändert sich allerdings, wenn der Hahn schief steht oder zur Hälfte mit Kalk verstopft ist oder wenn zum Beispiel Blut aus ihm tropft – ein alltägliches Phänomen in Horrorfilmen. Ganz zu schweigen natürlich von den Komplikationen, die entstehen, wenn man den Hahn voll aufdreht und das ganze Blut nicht mehr schön langsam und tropfenweise, sondern schnell und turbulent austritt.

Die offensichtliche Lösung aller Tropfenprobleme ist schon lange bekannt: Man muss an einen Ort ziehen, an dem es weder Flüssigkeiten gibt noch Horrorfilme, zum Beispiel auf den Mond. Nie mehr wird man dort wegen tropfender Hähne wach liegen.

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