Nord-Süd-S-Bahn-Tunnel

Bauen ist Kampf gegen das Wasser.
Bernd Hillemeier, Professor für Baustoffkunde

Eine zuverlässige Quelle für Dinge, über die man nichts Genaues weiß, sind Weltkriege. Hinterher will es meist niemand gewesen sein, erschwerend kommt hinzu, dass wichtige Unterlagen verbrannt, auf der Flucht verlegt oder vom Sieger als Souvenir mit nach Hause genommen worden sind. Greifen wir ein Beispiel heraus: In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs wurde in Berlin die Decke des S-Bahn-Tunnels unter dem Landwehrkanal gesprengt, sodass ein großer Teil des Tunnelsystems voll Wasser lief. Wozu das jetzt wieder gut sein sollte, ob die Deutschen oder die Russen schuld waren, wie viele Menschen dabei ums Leben kamen und selbst der Zeitpunkt der Sprengung sind bis heute umstritten. Allerdings wüsste man über dieses auch für Kriegsverhältnisse dramatische Ereignis noch viel weniger, wenn nicht das Berliner Kreuzberg-Museum in den frühen 1990er Jahren für gründliche Dokumentation gesorgt hätte. 1989 hatte die Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung beschlossen, eine Gedenktafel für die Opfer aufzustellen, und das Museum mit den nötigen Recherchen beauftragt. Weil aber nicht zu ergründen war, was auf dieser Gedenktafel eigentlich stehen müsste, gibt es sie bis heute nicht. Gäbe es in Berlin eine Stadtführung zu unsichtbaren und nicht existierenden Sehenswürdigkeiten, dann könnte man die fehlende Tafel auf halbem Weg zwischen den U-Bahnhöfen Möckernbrücke und Gleisdreieck betrachten. Dort verlaufen S-Bahn und Landwehrkanal heute wieder ordentlich auf zwei Etagen.

Dass der Tunnel von innen heraus (also nicht etwa durch Artilleriebeschuss von außen) und mit enormer Sprengkraft zerstört wurde, ist einer der wenigen unstrittigen Punkte. Die teilweise über einen Meter dicke Stahlbetondecke wurde auf mehreren Metern aufgerissen. Einem Berliner Sprengunternehmen zufolge waren dafür Sprengstoffmengen im Tonnenbereich, mehrstündige Vorbereitungsarbeiten und genaue Ortskenntnisse erforderlich. Das einströmende Wasser aus dem Landwehrkanal floss zum Bahnhof Friedrichstraße, von dort in die heutige U6, am U-Bahnhof Stadtmitte in den Tunnel der heutigen U2 und füllte am Alexanderplatz gleich noch die Linien U8 und U5. Damit stand der größte Teil der unterirdischen Berliner Verkehrswege unter Wasser.

In vielen Berichten über die Flutung ist von einem Befehl zur Sprengung die Rede, der allerdings bisher nicht nachgewiesen werden konnte. Die Kulturhistorikerin Karen Meyer wendet in ihrem Bericht für das Kreuzberg-Museum ein, die Deutschen könnten kein großes Interesse an einer Sprengung gehabt haben, da die U- und S-Bahn-Schächte SS und Wehrmacht als letzte Bastion dienten. Für die Russen war es zum vermuteten Zeitpunkt der Sprengung bereits einfacher, oberirdisch vorzudringen, sodass man sie durch die Flutung des Tunnels kaum in ihrem Vormarsch behindern konnte. Andererseits hätte die Rote Armee zwar ein Interesse an der Flutung haben können, weil so die letzten deutschen Widerstandsnester «ausgespült» werden konnten, man verfügte aber auf russischer Seite wahrscheinlich nicht über die nötigen detaillierten Pläne des Berliner Untergrunds.

Einige Berichte ohne nachvollziehbare Quellenangaben sprechen vom 26. April als Datum der Sprengung. Das Ostberliner Standardwerk «Die Befreiung Berlins 1945» nennt den 27. April, in der dort als Quelle genannten Akte des Reichsbahnarchivs findet sich jedoch nur der 2. Mai. Der 28. April taucht ebenfalls unbelegt in einigen Quellen auf, und ein einzelner, nicht weiter verifizierbarer Bericht spricht von einer Staubexplosion im S-Bahn-Schacht bei der Möckernbrücke am 29. oder 30. April, bei der die Betondecke beschädigt worden und Wasser in den Tunnel eingedrungen sei. Eine Staubexplosion genügt jedoch nicht, um die beschriebenen Schäden zu verursachen.

Einen indirekten Hinweis auf den Zeitpunkt der Sprengung liefert die Räumung des heute noch existierenden Hochbunkers am Anhalter Bahnhof. 4000 bis 5000 Frauen, Kinder und alte Menschen aus den umliegenden Wohngebieten, die dort Zuflucht gesucht hatten, wurden am 1. Mai 1945 von der SS durch den S-Bahn-Tunnel evakuiert, wobei «evakuiert» hier im weniger gebräuchlichen Sinne von «von einem relativ sicheren Ort vertrieben» verwendet wird. Die Zivilisten zogen über den S-Bahnhof Potsdamer Platz zum Bahnhof Friedrichstraße und von dort zum heutigen U-Bahnhof Zinnowitzer Straße. Zu diesem Zeitpunkt stand stellenweise Wasser im Schacht, das aber vermutlich aus Rohrbrüchen durch Artilleriebeschuss stammte und nicht über Knie- bis Hüfthöhe stieg. Das Datum der Bunkerräumung ist gut belegt. Wäre die Tunneldecke zu dieser Zeit gesprengt worden, hätte man sich zum einen im Tunnel nicht mehr fortbewegen können, zum anderen hätten sich unter den vielen tausend Evakuierten zumindest Ohrenzeugen der Explosion finden lassen müssen. Gerade im Inneren des Tunnels muss diese Explosion sehr viel lauter als der gleichzeitige Artilleriebeschuss gewesen sein; zudem hätte man in den umliegenden Bahnhöfen die Druckwelle gespürt.

Die meisten Berichte sprechen vom 2. Mai als Datum der Sprengung, ohne dabei Quellen zu nennen. In einem internen Bericht für die Reichsbahndirektion Berlin etwa heißt es: «Am 2. Mai morgens 7 Uhr 55 erschütterte eine gewaltige Detonation die Gegend der Kreuzung des Landwehrkanals mit dem Tunnel der Nordsüd-S-Bahn …» Der Verfasser, Rudolf Kerger, der als Bauabteilungsleiter bei der Reichsbahn für die Wiederherstellungsarbeiten am Tunnel zuständig war, gibt leider ebenfalls keine Quelle an, sodass unklar ist, ob ähnliche Datierungen an anderer Stelle auf Kerger, dessen Quellen oder ganz andere Dokumente zurückgehen. Im vom Berliner Landesarchiv bearbeiteten Band «Berlin. Kampf um Freiheit und Selbstverwaltung 1945 – 1946» werden als Belege für die Datierung auf die «Morgenstunden des 2. Mai» der romanartige und nicht sehr faktentreue Bericht «In zehn Tagen kommt der Tod» des Amerikaners Michael A. Musmanno sowie zwei Quellen aus dem Bestand des Landesarchivs genannt. Letztere erwiesen sich bei den Nachforschungen des Kreuzberg-Museums als unauffindbar, wie das Museum überhaupt Widrigkeiten bei der Archivrecherche beklagt, «die das normale Maß überstiegen». Die genannten Akten des Landesarchivs sind zwar mittlerweile wiederaufgetaucht, enthalten aber kein Material, das zur Klärung der offenen Fragen beitragen könnte.

Nachdem das Kreuzberg-Museum 1991 einen Aufruf in der Berliner Presse geschaltet hatte, meldeten sich zahlreiche Leser, von denen sich zehn erinnern konnten, mindestens bis zur Nacht vom 1. auf den 2. Mai im Tunnel gewesen zu sein. Ein Aufsatz aus dem Jahr 1950 datiert die Flutung sogar auf die Nacht vom 3. auf den 4. Mai; der Verfasser Gerhard Krienitz gab im Gespräch mit dem Kreuzberg-Museum an, der Tunnel sei am Morgen des 2. Mai noch voller Menschen gewesen, sodass eine Flutung zu diesem Zeitpunkt seiner Meinung nach viel mehr Todesopfer gefordert haben müsste.

Aber wie viele Todesopfer gab es überhaupt? Im August 1945 beantragte das Bestattungsamt Kreuzberg beim Bürgermeister die Zuteilung von Lkw-Kapazitäten, um «schätzungsweise 1 – 2000 Leichen aus dem S-Bahn-Schacht» zu bergen. Weil man zunächst davon ausging, der Tunnel sei während der Evakuierung geflutet worden, und auch weil die Begeisterung der Zeitungen für Berichte voller Leichenberge merkwürdigerweise im Sommer 1945 kaum geringer gewesen zu sein scheint als heute, ist in manchen Quellen von vielen tausend Toten die Rede. Bei den Aufräumarbeiten im Tunnel barg man jedoch nur um die hundert Opfer, die womöglich bereits vor dem Wassereinbruch tot gewesen waren. Zuvor wurden an den S-Bahnhöfen bereits vereinzelt Tote aus dem Wasser gezogen, sodass das Kreuzberg-Museum ein- bis zweihundert Opfer als realistische Annahme angibt.

Die offenen Fragen lauten also: Wann fand die Sprengung statt? Warum erinnert sich niemand an die Detonation oder die Druckwelle? Gab es einen Befehl zur Sprengung? Wenn ja, von wem wurde er erteilt und welchem Zweck sollte er dienen? Das zugängliche Quellenmaterial darf als ausgeschöpft gelten, die Augenzeugen werden von Tag zu Tag weniger, aber vielleicht verbirgt sich noch unausgewertetes Material in den Akten der Reichsbahn oder den sowjetischen Archiven. Bis zur Klärung der genannten Fragen schadet es jedenfalls nichts, auf der Fahrt zwischen Yorckstraße und Anhalter Bahnhof kurz die Tatsache zu würdigen, dass das Wasser des Landwehrkanals heute wieder dort fließt, wo es hingehört, und auch sonst vieles in Berlin besser eingerichtet ist als im Mai 1945.

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