Roter Regen

Die andere Frage beantworten etliche so und sagen, daß es kein recht Blut, sondern nur dickes und unreines Wasser sey, solches von der Sonnen also gekocht, daß es eine solche rohte Farbe bekommen. (…) Aber ob diese Ursachen überall angehen, dürffte ich fast zweiffeln.
Gottfried Voigt: «Physicalischer Zeit-Vertreiber», 1670

Man kann sich wohl daran gewöhnen, dass normales Wasser vom Himmel fällt. In manchen Gegenden der Erde hat man sich sogar damit abgefunden, dass ab und zu Frösche und Fische vom Himmel fallen, die vorher anderswo von starken Winden nach oben befördert wurden, ein vollkommen normales Phänomen. In Kerala, einem Teil Indiens, regnete es jedoch Außerirdische. So jedenfalls lautet die Erklärung des indischen Physikers Godfrey Louis für den rot gefärbten Regen, der im Sommer 2001 dort niederging. Andere Experten begegnen dieser Hypothese mit Skepsis.

Das Rätselraten um den roten Regen nahm seinen Anfang, als von Ende Juli bis Ende September im südlichen Kerala bei sporadischen Niederschlägen eine Flüssigkeit zu Boden fiel, die in etwa so aussah wie Blut. Dabei waren die roten Regenschauer auf recht kleine Gebiete von einigen Quadratkilometern Größe beschränkt, knapp daneben fiel zur selben Zeit ganz normaler Regen. Berichtet wurde außerdem von explosionsartigen Geräuschen, die dem ersten roten Regen vorausgingen. Bis heute ist ungeklärt, welchem Umstand die Inder dieses außergewöhnliche Wetter zu verdanken haben.

Schnell ausgeschlossen wurde eine naheliegende Erklärung: Es handelt sich keinesfalls um Staub, der aus einer Wüste nach Kerala geblasen wurde. Wüstenstaub kann zwar Niederschläge auf interessante Art färben – in Sibirien zum Beispiel fiel Anfang des Jahres 2007 Schnee, der durch einen Sandsturm gelb gefärbt war –, aber der Regen von Kerala enthält, wie Untersuchungen zeigen, keinen Staub, stattdessen sehen die roten Bestandteile aus wie organische Zellen. Wäre ein Sandsturm die Ursache, würde man zudem eher großräumige rote Niederschläge erwarten, nicht die beobachteten stark lokalisierten Ereignisse. Ebenfalls wenig wahrscheinlich ist es, dass der Regen von einem vorbeiziehenden Meteor rot gefärbt wurde, der in der oberen Erdatmosphäre eine Staubspur hinterließ.

Andere vermuteten sogleich: Wenn der Regen so aussieht wie Blut, dann handelt es sich womöglich auch um Blut. Und zwar, so die kreative Geschichte dazu, könnte ein Schwarm von Fledermäusen in großer Höhe von einem harten Gegenstand, etwa einem Meteor, getroffen worden sein. In der Folge färbte vielleicht das Blut der Fledermäuse den Regen rot. Fraglich ist jedoch, wo der Rest der toten Fledermäuse geblieben ist, denn Fledermäuse bestehen nicht ausschließlich aus Blut. Wo die wirklich sehr beachtliche Menge an Fledermäusen herkommen sollte, die über Monate für rote Regenschauer sorgen könnte, das bliebe auch noch zu klären.

Im November 2001 veröffentlichten indische Wissenschaftler einen Bericht, nach dem der rote Regen die Sporen einer Algenart enthält, also praktisch Keimzellen, aus denen sich neue Algen entwickeln können. Es gelang offenbar sogar, aus den im Regen gefundenen roten Zellen Algen zu ziehen. Dieselben Algen wachsen auf natürliche Weise in der Gegend, aus der die Berichte über roten Regen stammen. Wo allerdings viele Tonnen Sporen herkommen sollen, wie sie in die Regenwolken gelangen konnten, wie es zu der seltsamen unregelmäßigen Verteilung des gefärbten Regens kam und ob es einen Zusammenhang mit den Explosionsgeräuschen gibt, das steht nicht in dem Bericht aus Indien. Trotzdem galt der Fall damit für eine Weile als im Wesentlichen abgeschlossen.

Bis im Jahr 2003 Godfrey Louis zusammen mit seinem Studenten A. Santhosh Kumar erklärte, die roten Zellen im Regen seien nicht von dieser Welt. Womöglich stießen seine Erörterungen nicht sofort überall auf Wohlwollen, denn es dauerte drei Jahre, bis sie im Fachblatt «Astrophysics & Space Science» offiziell ans Licht der Öffentlichkeit gerieten. Louis findet in den roten Teilchen keine DNA, eigentlich ein wichtiger Bestandteil jeder irdischen Zelle, und schließt daher, die Teilchen hätten «möglicherweise keinen terrestrischen Ursprung». Mit anderen Worten: Sie kommen aus dem All. Louis führt aus, ein Meteor sei in der oberen Erdatmosphäre mit lautem Knall explodiert und habe dabei große Mengen an biologischen, außerirdischen Zellen freigesetzt, die als roter Regen auf die Erde fielen. Sollte das stimmen, wäre es der erste Beweis für die sogenannte Panspermien-Hypothese, nach der lebende Zellen im Weltall weit verbreitet sind. Und es wäre der erste Beweis überhaupt für die Existenz von →Leben außerhalb der Erde. Wohl darum war Louis auf einmal berühmt.

Aber wie es mit Theorien so ist, stimmt das alles vielleicht auch gar nicht. Es ist zum Beispiel höchst unklar, inwieweit man der Behauptung, die Zellen enthielten keine DNA, trauen kann. Nachfolgeuntersuchungen in britischen Instituten erbrachten dann doch Hinweise auf DNA, allerdings «noch nicht vollständig bestätigt». Carl Sagan konstatierte einst, dass «außergewöhnliche Behauptungen auch außergewöhnliche Beweise verlangen» – zum Beispiel einen ausgewachsenen Außerirdischen, nicht nur rotgefärbte Zellen. Bis es so weit ist, können wir uns ja weiterhin mit Algen befassen.

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