Schnurren

Das außergewöhnlichste Beispiel für nahezu absolutes, wenn nicht sogar tatsächlich vollständiges Schweigen bei den landbewohnenden Tieren ist die Giraffe. Man hat von ihr, soviel ich weiß, bisher lediglich ein ganz schwaches Blöken zu hören bekommen, wenn sie mit Futter geneckt wurde.
Flann O’Brien: Trost und Rat

Katzen sind eigentlich ganz schlichte, in vielen dekorativen Farben und Mustern erhältliche Geschöpfe. Aber obwohl wir sie seit Jahrtausenden kopfkratzend (mal unseren, mal den der Katze) betrachten, sind manche Details wie etwa ihre Schnurrgewohnheiten noch unverstanden. Es ist relativ leicht, tote Tiere aufzuschneiden und wissenschaftlich korrekt zu beschreiben, womit sie angefüllt sind. Aber tote Katzen schnurren nicht, und man kann das Schnurren auch nicht herausnehmen und unter das Mikroskop legen – zwei technische Hindernisse, die für erhebliche Schnurrforschungsdesiderata sorgen.

Denn trotz einiger Bemühungen ist weder ganz klar, wie und womit Katzen schnurren, noch, warum sie es tun. Ebenfalls offen ist bisher die Frage, ob alle oder nur ziemlich viele Angehörige der Familie Felidae schnurren und ob sie das auf dieselbe Weise tun und dasselbe damit meinen, denn außer für die Hauskatze wurden noch kaum Daten zum Schnurrverhalten und zur Schnurrtechnik erhoben. Es scheint jedenfalls irgendwie im Hals der Katze befestigt zu sein, das Schnurren – oder auch nicht: «Wir sollten ebensowenig annehmen, dass das Schnurren aus dem Hals der Katze stammt, wie wir annehmen, dass die Darsteller unserer Lieblingsserie im Fernseher wohnen», schrieb der Tiermediziner Walter R. McCuistion in den 1960er Jahren.

McCuistion glaubte nicht mehr an den Kehlkopf als Ort des Schnurrens, seitdem er in seiner Praxis eine Katze mit vom Hund durchgebissener Gurgel behandelt hatte. Die Katze atmete noch einige Wochen durch einen Schlauch und konnte nicht mehr miauen, schnurrte aber ungehindert weiter. McCuistion führte später unschöne Experimente durch, bei denen er Löcher in halbwüchsige Katzen schnitt und darin mit dem Finger nach der Herkunft des Schnurrens tastete. Er vermutete, dass das Schnurren, «der Fremitus», eigentlich aus der Zwerchfellgegend kommt, von Blut-Turbulenzen in der unteren Hohlvene herrührt und erst auf diversen Umwegen durch die Luftröhre in die oberen Atemwege gelangt.

In den 1970er Jahren verkabelten die Physiologen John E. Remmers und Henry Gautier Katzen mit Messgeräten, um unter anderem herauszufinden, ob das Schnurren vor Ort oder durch Impulse aus dem Gehirn ausgelöst wird. Zu diesem Zweck wurden einige wichtige Nerven durchgeknipst, der nachfolgende Schnurrtest verlief aber positiv. Die beiden Forscher maßen schnurrsynchrone Aktivität in den Kehlkopf- und Zwerchfellmuskeln und vermuteten ein Öffnen und Schließen der Stimmritze als Schnurrgrund. Wodurch dieser Vorgang gesteuert wird und was das Ganze überhaupt soll, blieb jedoch weiter unklar: «Schnurren scheint einen Erregungszustand auszudrücken, der vor dem Hintergrund einer Interaktion der Katze mit freundlich gesinnten Lebewesen auftritt.»

Heute nimmt man meistens an, dass irgendwo im Hals geschnurrt wird, wobei McCuistions Experiment mit der kehlkopflosen Katze selten zitiert wird und bisher offenbar nicht wiederholt wurde. In den 1980er Jahren konnte nachgewiesen werden, dass sich das Schnurren durch Stimulation bestimmter Gehirnregionen auslösen lässt, also wohl zentral gesteuert ist. Welchen präzisen Schnurrtaktgeber das Gehirn dazu benutzt, ist noch nicht geklärt. Geschnurrt wird, darüber sind sich alle einig, unabhängig von der Größe der Katze mit einer Grundfrequenz zwischen 23 und 31 Hertz, die Katze atmet dabei schneller und tiefer, und ihr Herzschlag beschleunigt sich. Das Schnurren kommt hauptsächlich aus Maul und Nase der Katze, gleichzeitig kann sie problemlos miauen.

Aber selbst wenn man genau wüsste, womit die Katze schnurrt, wäre immer noch die Frage offen, warum sie es tut. Versichern Katzenkinder damit der Mutter, dass alles in Ordnung ist? Dafür spräche, dass das Schnurren auch beim Trinken funktioniert. Dagegen scheint zu sprechen, dass auch erwachsene Katzen schnurren, und zwar nicht nur «bei der Interaktion mit freundlich gesinnten Lebewesen», sondern auch dann, wenn sie große Schmerzen haben oder im Sterben liegen. Beruhigt sich die Katze durch das Schnurren? Oder löst das Schnurren die Ausschüttung von Endorphinen aus, körpereigenen schmerzlindernden Substanzen?

Auf einer Konferenz mit dem schönen Namen «12th International Conference on Low Frequency Noise and Vibration and its Control» wurde 2006 eine wenige Jahre alte Theorie der Akustikforscher Elizabeth von Muggenthaler und Bill Wright präsentiert: Unter anderem mit Hilfe streichholzkopfgroßer, auf Hauskatzen aufgeklebter Sensoren hatte man das Hauskatzenschnurren noch einmal genau vermessen und festgestellt, dass die dabei vorherrschenden Frequenzen dieselben sind, deren stimulierende Wirkung auf das Knochenwachstum in den 1990er Jahren entdeckt wurde. Nebenbei wirken Vibrationen dieser Art gegen Schmerzen, entspannen die Muskulatur und fördern Muskelwachstum und Gelenkigkeit. Die beiden Forscher vermuten, das Schnurren könnte eine Art Selbstheilungsmechanismus der Katze darstellen. Die Selbstheilungsfähigkeiten von Katzen sind viel ausgeprägter als die von Hunden, sodass Tierärzte gern behaupten, solange alle Einzelteile verletzter Katzen im selben Raum versammelt seien, wachse auch alles wieder zusammen. Das hat damit zu tun, dass Katzen später als Hunde domestiziert wurden und daher noch nicht ganz so verweichlicht sind, aber es ist nicht auszuschließen, dass auch das Schnurren eine Rolle spielt. Falls sich die Hypothese von Muggenthaler und Wright als richtig erweist, müssten Astronauten nur schnurren lernen, um sich in der Schwerelosigkeit vor abnehmender Knochendichte und Muskelschwund zu schützen. Leider ist ein Nachweis nicht leicht zu erbringen, weil man dazu gesunde, nichtschnurrende Katzen als Kontrollgruppe bräuchte. Katzen, die nie schnurren, sind aber in der Regel auch nicht gesund. Vielleicht müsste man eine schnurrende Katze an einen Hund binden und dann dessen Knochendichte messen, um mehr herauszufinden.

So bald wird das aber vermutlich nicht passieren, denn die Wissenschaft gibt vor, Besseres zu tun zu haben. Dabei weiß man so vieles nicht über Katzen. Warum erbrechen sie sich immer auf den Teppich und nie auf Parkett oder Fliesen? Warum beißen sie lieber die Kabel teurer Kopfhörer durch als ein billiges Stück Schnur? Und warum wollen sie immer auf der Zeitung liegen, die man gerade liest? Wer das alles herausfindet, kann schon bald den Markt mit einer vorteilhaften Neuzüchtung aufrollen, die sich schnurrend auf die bereits gelesene Zeitung erbricht.

Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt
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