Elementarteilchen

Glaube ich alles nicht. Quarks sind Unfug.
Steven Weinberg, Physik-Nobelpreisträger

Seit langer Zeit ist bekannt, dass die Welt aus vielen kleinen Teilchen besteht. Mehrfach schon in der Geschichte der Teilchenentdeckung glaubte man, endlich die kleinstmöglichen Bausteine der Materie gefunden zu haben, nur um ein paar Jahre später zu erfahren, dass man nicht genau genug hingesehen hatte.

Vor etwa 2500 Jahren nahm die moderne Materieforschung ihren Anfang, als der griechische Philosoph Demokrit den Begriff «Atom» – «Unteilbares» – einführte. Demokrit zufolge sind Atome winzige, unzerstörbare Teilchen, die komplett mit Masse ausgefüllt sind und aus denen alle Materie besteht. Weitgehend ungeprüft überstand dieses Postulat mehr als zwei Jahrtausende, bis man im 19. Jahrhundert negative Atombestandteile – Elektronen genannt – außerhalb von Atomen antraf: Kaum legt man elektrische Spannung an ein Stück Metall und erhitzt es, schon wird es in Scharen von Elektronen verlassen. Aus war es mit der Unteilbarkeit des Unteilbaren.

Verglichen mit der schneckenartigen Entwicklung der Vorstellungen von Elementarteilchen in den vergangenen Jahrtausenden, ging im 20. Jahrhundert alles plötzlich sehr schnell, und ganze Regalwände voller Nobelpreise wurden für Erkenntnisse über den Aufbau der Materie vergeben. Zunächst erkannte der englische Physiker Ernest Rutherford, dass Atome im Wesentlichen leer sind. Das danach entwickelte «Planetenmodell» der Atome beruht auf der Vorstellung, dass sich im Atomkern positiv geladene Protonen befinden, um die Elektronen kreisen wie Planeten um die Sonne. Etwa zur selben Zeit revolutionierte die Quantenphysik unser Weltverständnis. Man nahm allgemein davon Abstand, Elementarteilchen genauso zu behandeln wie Himmelskörper, weil die Welt auf atomaren Maßstäben nach anderen Regeln funktioniert. Von Hendrik Kramers, einem der Entdecker dieser Regeln, stammt die Feststellung, man sei geneigt, sich einige Monate über die neue Quantenmechanik zu freuen, bevor man in Tränen ausbricht. Teilchenphysik, bis dahin eine Art Billardspiel mit extrem kleinen Kugeln, verwandelte sich in eine fremdartige Landschaft, die mit gesundem Menschenverstand kaum noch zu erfassen ist.

Wie jedes fremde Land ist auch die Welt der kleinsten Teilchen mit exotischen Tieren besiedelt. Bald tauchten die ersten Antiteilchen in Labors auf: Sie sehen genauso aus wie ihr zugehöriges «normales» Exemplar, nur die Ladung ist umgekehrt. Das Antiteilchen zum Elektron beispielsweise heißt Positron, ist positiv geladen und wurde erstmals im Jahr 1932 nachgewiesen. Im selben Jahr entdeckte der Engländer James Chadwick das Neutron, das etwa genauso schwer ist wie das Proton, aber keine Ladung besitzt. Einige Jahre später fand man die Myonen, eine Art übergewichtige Elektronen, weitere zehn Jahre später die Pionen, und spätestens in den 1950er Jahren wurde die Lage unübersichtlich, als neuartige Wesen wie Kaon, Hyperon und diverse Neutrinos im Zoo der Elementarteilchen einzogen. Schließlich kam es 1968 zur nächsten Revolution: Man fand heraus, dass Protonen ebensowenig «elementar» sind wie Atome – die Welt wurde ein weiteres Mal in noch kleinere Teile zerlegt.

Unsere Erkenntnisse über Elementarteilchen stammen größtenteils aus Experimenten, in denen man mit einer Sorte Teilchen auf eine andere Sorte schießt. Rutherford zum Beispiel feuerte Helium-Atome auf Gold-Atome, und seine Projektile flogen in den meisten Fällen ungehindert durch das Gold hindurch. Auf demselben Prinzip beruhte das Experiment, das zur Entdeckung der Quarks führte: Mit Hilfe des Teilchenbeschleunigers der Universität Stanford brachte man Elektronen auf große Geschwindigkeiten und ließ sie dann mit Protonen zusammenstoßen. Aus der Art und Weise, wie die Projektile abgelenkt wurden, konnte man schließen, wie das Proton im Innern aussieht. Es besteht aus drei «Quarks», ein Name, der einem skurrilen Gedicht von James Joyce entnommen wurde, in dem es heißt: «Three quarks for Muster Mark!»

So konnte es nicht weitergehen. Um die zunehmende Vielfalt an Teilchen und Antiteilchen in den Griff zu bekommen, entstand Anfang der 1970er Jahre das sogenannte Standardmodell der Teilchenphysik: Es brachte nicht nur Ordnung in den Teilchenzoo, sondern stellte endlich auch klare Regeln für das Zusammenleben der kleinen Biester auf. Im Standardmodell besteht die Welt aus zwölf verschiedenen «Fermionen» (das sind Elektron, Myon, Tauon, drei Neutrino- und sechs Quarkarten), ihren zwölf Antiteilchen und verschiedenen «Eich-Bosonen», die dafür verantwortlich sind, Grüße und Botschaften zwischen Teilchen zu übermitteln, meistens «Ich finde dich anziehend» und ab und zu auch ein «Ich finde dich abstoßend». Das Photon ist so ein Postboten-Boson, es übermittelt elektromagnetische Kräfte, etwa die Anziehung zwischen gegensätzlich geladenen Teilchen. Ein anderes ist das Gluon, das die Quarks im Atomkern zusammenklebt.

Das Standardmodell rechtfertigte bisher in vielerlei Hinsicht seinen anmaßenden Namen. Es sagte zum Beispiel die Existenz verschiedener neuer Teilchen und ihre Eigenschaften voraus, bevor sie entdeckt wurden, was ein großer Fortschritt war, denn endlich hinkte man der Natur nicht mehr hinterher, sondern wusste schon vorher, was ihr nächster Schachzug war. Aber ganz so leicht gibt sich der Gegner nicht geschlagen. Einige fundamentale Probleme bleiben auch im Standardmodell ungelöst. So wurde trotz großer Anstrengungen das Higgs-Boson nicht gefunden, das letzte noch fehlende Teilchen des Standardmodells. Das Higgs-Boson ist dafür zuständig, den anderen Teilchen mitzuteilen, welche Massen sie haben (irgendjemand muss es ja tun). Die Theorie kann weiterhin viele Eigenschaften der Welt, zum Beispiel eben die Massen der Teilchen, aber auch die Anzahl der Dimensionen des Universums nicht vorhersagen. Und obwohl es drei fundamentale Kräfte beinhaltet – die vierte wichtige Wechselwirkung, die Gravitation, deren grundlegende Natur in der Allgemeinen Relativitätstheorie beschrieben ist, steht bisher draußen vor der Tür und darf nicht mitspielen. Das Eich-Boson der Gravitation, ein Teilchen, das Massen von der Anwesenheit anderer Massen wissen lässt, damit sie sich dementsprechend benehmen, und das man schon mal vorsorglich Graviton getauft hat, blieb bislang ebenfalls unentdeckt. An all diesen Problemen wird derzeit hart gearbeitet.

Zwei der führenden Kandidaten für eine allmächtige Theorie jenseits des Standardmodells, die endlich alle unsere Probleme löst, heißen Supersymmetrie und Stringtheorie. Für ein tiefgehendes Verständnis dieser überaus komplexen Gedankengebäude muss man sich leider mit unhandlichen Abhandlungen und abschreckendem Formelwerk befassen. Supersymmetrie ist ein hoffnungsvoller Ansatz, bei dem jedem Teilchen des Standardmodells ein «Superpartner» zugeordnet wird, der sich vom Original nur durch den genau entgegengesetzten Drehimpuls unterscheidet. Wenn ein Teilchen also rechtsherum rotiert, dann dreht sich sein Superpartner linksherum. Durch die Verdoppelung der Teilchenarten lässt sich eine Reihe von Problemen lösen, und man erhält außerdem vielversprechende neue Teilchenkandidaten für die noch zu erklärende →Dunkle Materie. Keinen der Superpartner hat man bisher gefunden, und es ist mysteriös, warum sie überhaupt so wenig in Erscheinung treten in den bisher untersuchten Teilen der physikalischen Welt.

Die Stringtheorie wiederum verändert das Standardmodell, indem Elementarteilchen nicht mehr als Punkte betrachtet werden, sondern als «Fäden» – sie verfügen daher plötzlich über eine Dimension statt gar keiner. Die verschiedenen Stringtheorien haben die praktische Eigenschaft, die Anzahl der Dimensionen im Universum vorhersagen zu können – das Standardmodell kann das, wie erwähnt, nicht. Je nach Spielart erhält man 10 oder 11 oder gar 26 Dimensionen, Zahlen, die so verwirrend unterschiedlich sind, dass man nicht genau einzuschätzen vermag, ob das jetzt besser ist, als es überhaupt nicht zu wissen. In jedem Fall sind die meisten dieser Dimensionen viel zu klein, um im normalen Leben eine Rolle zu spielen, sie sind «kompaktifiziert» in der Welt der Quanten. Bislang widersetzen sich die Stringtheorien hartnäckig jeder klaren experimentellen Bestätigung, weshalb sich manche Forscher heute zu fragen beginnen, ob man mit den ganzen Fäden nicht seine Zeit vergeudet.

Jenseits all dieser Bemühungen um die Welttheorie ist es weiterhin auch möglich, dass wir die Elementarteilchen – die echten, kleinsten Bestandteile der Materie – immer noch nicht gefunden haben. Nur wenig jünger als das Standardmodell sind verschiedene Theorien, nach denen Elektronen und Quarks wiederum aus noch kleineren Teilchen bestehen, die meist Preonen genannt werden, manchmal aber auch Pre-Quarks, Rishons, Tweedles oder Maons. Warum, so fragen Physiker wie Haim Harari, der das Modell vom Rishon erfand, sollten ausgerechnet wir die Generation sein, die an die fundamentale Grenze, die kleinsten Teilchen, gestoßen ist? (Sofort könnte man auch fragen, warum ausgerechnet Hararis neue Elementarteilchen die endgültig kleinsten sein sollen.) Und warum, so argumentiert Harari weiter, sollte die Welt aus so vielen elementaren Teilchen zusammengesetzt sein, wie es das Standardmodell und seine Erweiterungen vorsehen? Seine Rishons immerhin kommen nur in zwei verschiedenen Typen vor und lassen, so Harari am Ende der Publikation, in der er das Modell präsentiert, «viele, viele Fragen offen».

Vielleicht sind offene Fragen einfach die Grundbausteine der Materie.

Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt
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