Tausendfüßler

Wer tausend Beine hat, rennt schneller ins Verderben.
Ostasiatische Volksweisheit

Tausendfüßler als Haustiere zu halten, ist sicherlich ein ungewöhnliches Hobby. Aber solange sowohl der Gastgeber als auch der vielfüßige Gast damit einverstanden sind, kann niemand etwas dagegen einwenden. Leider halten sich die Tausendfüßler, seit mehr als 400 Millionen Jahren auf der Erde und entsprechend starrsinnig, nicht an diese Benimmregel. Seit vielen Jahre schon berichten leidgeprüfte Menschen in verschiedenen Erdteilen von ganzen Armeen von Tausendfüßlern, die jedes Jahr ihre Häuser heimsuchen. Warum die Tausendfüßler (lat. Diplopoda) das tun und wieso sie nicht vorher wenigstens fragen, das ist der Welt unbekannt.

Die Gemeinde Röns in Vorarlberg bietet eigentlich nicht viel Auffälliges, es gibt, wie in anderen Dörfern auch, einen Weiher, einen Kirchplatz, ein Gewerbegebiet und eine Ortseinfahrt. In mindestens drei Häusern jedoch, Tendenz steigend, kann man jedes Jahr im Spätsommer Seltsames beobachten: Hunderte Tausendfüßler dringen durch Türritzen und Spalten in die Häuser ein und klettern an den Wänden herum, auf der Suche nach dem Tafelsilber. Zum Glück haben Tausendfüßler gar nicht tausend Füße, sondern höchstens einige hundert, sodass nicht zu viel Dreck in die Wohnungen getragen wird. Sieht man sie unfreundlich an, gehen die ungebetenen Gäste nicht etwa freiwillig, sondern verspritzen auch noch übelriechendes Sekret, das hässliche Flecke hinterlässt. Jeden Tag kehren die Hausbesitzer hunderte vielfüßige Tiere von den Wänden. Nicht einmal den Vögeln kann man sie vorwerfen, denn viele Vögel essen höchst ungern Tausendfüßler. Was verständlich ist, immerhin haben sie eine harte Schale und kitzeln im Schnabel.

Man hofft zunächst, dass es sich um eine Vorarlberger Eigenheit handelt, bis man Einblick in die Literatursammlung des Experten Klaus Zimmermann aus Dornbirn erhält. Zur Zeit betreut der Biologe rund zwanzig Fälle von regelmäßigen Tausendfüßlerinvasionen in Österreich, Deutschland und anderswo, bei denen mindestens fünf verschiedene Arten über die Häuser herfallen. Aber dies ist nur die Spitze eines Eisbergs, eines braunschwarzen, krabbelnden Eisbergs, denn von ähnlichen Ereignissen wird aus Schweden, England, Tschechien, Malaysia und verschiedensten anderen Ländern berichtet. In einigen Fällen legen massenwandernde Tausendfüßler sogar den Eisenbahnverkehr lahm.

Penible Beobachtungen der Tausendfüßlerinvasion lieferte Hugh Scott in den 1950er Jahren. Vierzehn Jahre lang lebte er relativ ungestört in seinem Haus in England, bis er im Frühjahr 1953 die ersten acht «Millipedes» im Wintergarten fand. In den folgenden Jahren kamen sie zur selben Jahreszeit wieder, es wurden mehr, und die Dauer ihrer Anwesenheit im Haus verlängerte sich. Meist stiegen sie in der Nacht durch die Türritzen und krabbelten am Morgen über Wände und Treppen, bis Mr. Scott sie erlegte und archivierte. Im Jahr 1958 geriet die Angelegenheit außer Kontrolle: Zwischen Februar und Juni fand er 567 Tausendfüßler, davon 325 Weibchen, 239 Männchen und drei, deren Geschlecht nicht mehr feststellbar war, weil sie beim Töten zu sehr beschädigt wurden. In vielen Nächten im April liefen jeden Morgen zehn bis dreißig neue Bewohner durch sein Haus. Spätere Aufzeichnungen liegen nicht vor; vermutlich überließ Hugh Scott das Haus den ungebetenen Gästen und zog verbittert in ein Land ohne Tausendfüßler.

Die Ursache dieser Vorgänge konnten weder Scott noch der Rest der Fachwelt ermitteln. Weil in den betroffenen Häusern überwiegend geschlechtsreife Tiere aufgesammelt werden, schließen einige Beobachter, es handele sich um eine Wanderung zur massenhaften Paarung. Andere behaupten, es gehe um die Suche nach günstigen Orten zur Eiablage, was aber nicht erklärt, warum die Männchen dann gleich mitwandern. Eine Vielzahl von Theorien befasst sich mit klimatischen Ursachen: Die Luftfeuchtigkeit könnte eine Rolle spielen, weil Tausendfüßler, die normalerweise in den oberen Erdschichten wohnen und sich von abgestorbenem Pflanzenmaterial ernähren, in trockener Umgebung eingehen. Aber warum sollten sie dann in extrem trockene moderne Häuser flüchten? Hugh Scott jedenfalls bemerkte keinen Zusammenhang mit der Feuchtigkeit, wohl aber mit der Temperatur. Seine Tausendfüßler kamen vorwiegend in kalten Nächten, allerdings nicht, wenn es zu kalt war, dann machte kein Myriapode einen Schritt hinter die Tür. Andere Experten berichten von vermehrtem Auftreten besonders an heißen Tagen. Und überhaupt hat fast jede Erklärung Schwierigkeiten mit der scheinbaren Willkür, mit der sich die Tausendfüßler ihre Wandertage und -ziele aussuchen.

Ein englischer Biologe namens John Cloudsley-Thompson, der in den 1950er Jahren eine Monographie über Spinnen, Tausendfüßler und Kellerasseln publizierte, sah eine Parallele zum massenhaften Auftreten von Insekten, Heuschreckenschwärmen zum Beispiel: Zunächst kommt es zu enormer Vermehrung durch günstige Umstände, dann aber wird die Welt schlechter für die Tiere, und sie ziehen notgedrungen durchs Land, ungefähr wie in der Völkerwanderung. Um das im Falle der Tausendfüßler genauer zu untersuchen, müsste man, so wie Hugh Scott, an ein und demselben Ort über eine lange Zeit systematisch beobachten, unter welchen Bedingungen die Tiere anfangen, sich seltsam zu verhalten. Man braucht willige Zeitgenossen, die bereit sind, ihre Häuser jedes Jahr ein paar Wochen mit ein paar hundert Tausendfüßlern zu teilen. Das kann ja wohl nicht so schwer sein.

In Röns in Vorarlberg jedenfalls denkt man offenbar anders. Ein erster Versuch, die Plage mit Hilfe von Raubmilben einzudämmen, die die Eier der Tausendfüßler fressen, verlief nach anfänglichen Erfolgen im Sande. Seit Herbst 2006 setzt Klaus Zimmermann ein neues Mittel ein: Diatomeenerde, ein ungiftiges Pulver aus fossilen Pflanzenresten, dessen feine Kristalle sich in die Gelenke der Chitinpanzer hineinbohren und die Wachsschicht des Chitins durchscheuern. Derart behandelt, zerbröselten viele hundert Tausendfüßler ohne jeden weiteren Widerstand und nahmen das Wissen über den Grund für ihre Wanderung mit in den Tod.

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