Kurzsichtigkeit

Näharbeit, Stubenleben, nächtliches Lesen von schlüpfrigen Büchern haben solche Entartungen der Augen zur Folge; der Gebrauch des Auges für die Ferne ist erschwert und beeinflusst das ganze Leben des Menschen.
Ror Wolf: «Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt»

Erwachsenwerden ist in vieler Hinsicht eine schöne Sache: Man darf Grimassen schneiden, ohne dass einem das Gesicht so stehen bleibt, man darf mit vollem Magen schwimmen gehen, und wenn man unbedingt will, darf man sogar bei Temperaturen unter null am nächsten Laternenpfahl lecken. Man friert dann zwar immer noch fest, aber bitte, das ist das gute Recht jedes volljährigen Bürgers. Nicht abschließend geklärt ist jedoch die wichtige Frage, ob man ununterbrochen Computerspiele spielen und im Taschenlampenlicht unter der Bettdecke lesen darf, oder ob unsere Eltern und Großeltern doch recht hatten und man sich dabei die Augen verdirbt. Die einen sagen so, die anderen sagen so, und wie erwachsene Menschen wollen wir jetzt die Argumente beider Seiten betrachten. Es könnte sich lohnen, dabei vorsichtshalber das Buch nicht allzu nahe vors Gesicht zu halten.

Was genau in welcher Reihenfolge mit dem Auge passiert, wenn ein Mensch kurzsichtig wird, ist kompliziert und noch nicht ganz verstanden. Für unsere Zwecke soll es genügen, dass der Augapfel aus der Form gerät, nämlich zu lang wird. Jetzt kann das Bild der Außenwelt nicht mehr ordnungsgemäß auf die Netzhaut projiziert werden, und man braucht eine Brille. Dass überhaupt ab und zu ein normalsichtiger Mensch entsteht, ist ein kleines Wunder, denn der Körper muss dazu im Laufe des Wachstums die Augapfellänge in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren auf Millimeterbruchteile genau justieren. Kurzsichtigkeit kann sich in jedem Lebensalter bemerkbar machen. Je früher sie auftritt, desto höhere Dioptrienwerte werden im Allgemeinen im Lauf des Lebens erreicht; der Fortschritt der Kurzsichtigkeit kann aber auch jederzeit vorübergehend oder dauerhaft zum Stillstand kommen. Auf die unterschiedlichen Varianten der Kurzsichtigkeit gehen wir hier nicht näher ein, um uns ungestört der Frage widmen zu können: Warum und wodurch werden Menschen kurzsichtig?

Dazu wäre es hilfreich, zunächst zu klären, wie viele und welche Art Menschen von Kurzsichtigkeit betroffen sind. Weil Kurzsichtigkeitsforscher nicht mal eben bei allen Menschen an der Tür klingeln und Sehtests durchführen können, werden stellvertretend häufig Schüler, Studenten, Soldaten oder andere Bevölkerungsgruppen untersucht, die sich nicht wehren können. Aus solchen Untersuchungen erfährt man viel über Schüler, Studenten und Soldaten, aber leider wenig über die Gesamtbevölkerung. So heißt es über eine an israelischen Piloten durchgeführte Studie, ihre Ergebnisse seien «nur auf Piloten in Israel übertragbar». Da in der betreffenden Studie mehr als 1200 Piloten untersucht wurden, bleibt vermutlich in ganz Israel kein Pilot übrig, auf den man die Ergebnisse noch anwenden könnte. Außerdem kommen bei den meisten Studien und in den meisten Ländern auch noch unterschiedliche Messmethoden zum Einsatz. Aber selbst wenn man alle Zahlen mit der gebotenen Skepsis betrachtet, zeigen sich zwei Dinge sehr deutlich: Es gibt viele Kurzsichtige auf der Welt (nämlich bis zu 2,3 Milliarden), und die Wahrscheinlichkeit, einer von ihnen zu sein oder zu werden, hängt stark davon ab, in welchem Land man lebt. Relativ wenige Kurzsichtige scheint es in Südamerika (unter 10 Prozent), Afrika und Australien (je ca. 10 – 20 Prozent) und Indien (ca. 10 Prozent) zu geben, Westeuropa und die USA liegen mit etwa 10 – 30 Prozent im Mittelfeld, und in Japan, Taiwan, Südkorea und Singapur wird man als Schulkind vermutlich verspottet, wenn man keine Brille trägt, denn dort sind 50 – 80 Prozent aller Menschen kurzsichtig. Aber nicht nur das Land spielt eine wichtige Rolle: Amerikaner, die näher an der Küste leben, sind kurzsichtiger als Amerikaner im Landesinneren, Studenten kurzsichtiger als Hilfsarbeiter, Weiße kurzsichtiger als Schwarze, Stadtbewohner kurzsichtiger als Landbewohner.

War das schon immer so? Dass wir bei Ausgrabungen steinzeitlicher Siedlungen keine Brillen finden, beweist leider überhaupt nichts. Denkbar wäre natürlich, dass Kurzsichtige früher mangels Brille schneller vom Säbelzahntiger gefressen wurden, als man «Sehtest» sagen konnte. Mittlerweile ist aber unumstritten, dass in den meisten Gegenden der Welt heute mehr Kurzsichtige leben als noch vor wenigen Jahrzehnten – nur die Australier behaupten, bei ihnen habe man die Kurzsichtigkeit im Griff. Aber was soll man auch von einem Land erwarten, in dem selbst die Tiere ganz anders funktionieren als anderswo? Besonders dramatisch ist der Anstieg in einigen asiatischen Ländern – in Singapur etwa waren 80 Prozent der männlichen Armee-Rekruten im Jahr 2004 kurzsichtig, im Vergleich zu 25 Prozent 1974. Viele Forscher vermuten, dass auch die westlichen Länder von dieser Entwicklung nicht verschont bleiben werden.

Da Kurzsichtigkeit Kosten verursacht und – durch das gleichzeitig erhöhte Risiko bestimmter Augenerkrankungen – zur Erblindung führen kann, ist das Interesse an ihrer Erforschung groß. Entsprechend zahlreich sind die Erklärungsmodelle, die sich in drei Gruppen einteilen lassen: Kurzsichtigkeit ist entweder genetisch bedingt oder durch Umweltbedingungen und Verhaltensweisen ausgelöst oder aber beides. Die Ergebnisse der unzähligen Untersuchungen zur Kurzsichtigkeit sind, vorsichtig ausgedrückt, sehr unterschiedlich. Wenn man davon ausgeht, dass alle Studien sorgfältig und ohne Schlamperei durchgeführt wurden, könnte das heißen, dass es womöglich ein bisher unbekanntes verbindendes Element in der Entstehung der Kurzsichtigkeit gibt, oder aber es führen einfach unüberschaubar viele Wege zur Kurzsichtigkeit.

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war das Spielfeld etwas übersichtlicher: Kurzsichtigkeit galt als genetisch bedingt, kurzsichtige Eltern bekamen kurzsichtige Kinder, und die hohen Kurzsichtigkeitsraten bei bestimmten Bevölkerungsgruppen wurden als statistisches Kuriosum abgetan. Tatsächlich scheint es Menschen zu geben, die einfach nicht kurzsichtig werden, auch wenn sie alle guten Ratschläge der Kurzsichtigkeitsforscher in den Wind schlagen. Gegen die Gen-Theorie spricht jedoch, dass in Indien aufwachsende Inder viel seltener kurzsichtig sind als in Singapur lebende Inder. Auch bei nepalesischen Sherpa- und Tibeterkindern, die sich genetisch nicht groß voneinander unterscheiden, klaffen die Kurzsichtigkeitsraten weit auseinander. Große Unterschiede in der Häufigkeit der Kurzsichtigkeit bei verschiedenen ethnischen Gruppen sind unübersehbar, aber es mangelt an Studien, die die genetischen Faktoren klar von Umweltfaktoren trennen. Vielleicht übernehmen kurzsichtige Kinder ja nur die schlechten Angewohnheiten ihrer Eltern?

Der britische Genetiker Christopher Hammond veröffentlichte 2004 die Ergebnisse einer Zwillingsstudie, die auf einen Zusammenhang zwischen Kurzsichtigkeit und einem Defekt des für die Augenentwicklung wichtigen Gens PAX6 hindeutet. Auch andere Zwillingsstudien weisen tendenziell auf einen starken genetischen und geringen Umwelteinfluss hin, die hohen Kurzsichtigkeitsraten etwa bei Studenten aber auf das Gegenteil. Unter anderem weil der rapide Anstieg der Kurzsichtigkeitsraten in vielen asiatischen Ländern gegen eine genetische Ursache spricht, wird die Gen-Theorie heute meist in abgewandelter Form vertreten: Die Anlage zur Kurzsichtigkeit könnte erblich sein, während Umweltfaktoren über das Auftreten und den Verlauf der Erkrankung bestimmen.

Aber welche Umweltfaktoren kommen dafür infrage? Einer Theorie zufolge orientiert sich das Auge in seinem Längenwachstum an den Anforderungen für scharfe Fernsicht und überlässt die Regelung für den Nahbereich der Augenmuskulatur. Ein Mangel an Gelegenheiten, überhaupt in die Ferne zu blicken, würde diese Feinjustierung des Augenwachstums unterlaufen. Noch ist man sich nicht einmal darüber einig, ob (wie man früher annahm) zu häufiges Scharfstellen oder (wie heute eher vermutet wird) zu seltenes Scharfstellen die Fehlentwicklung auslöst. Vieles spricht jedenfalls dafür, dass viel Arbeit im Nahbereich zu Kurzsichtigkeit führt: Je höher die Schulbildung, desto höher ist auch die Kurzsichtigkeitsrate, und bei Schülern schreitet die Kurzsichtigkeit in Zeiten intensiven Lernens schneller, in den Schulferien aber langsamer voran. Auch hier ist der Einfluss des Lesens oder der Schreibtischarbeit nicht leicht zu isolieren, denn gleichzeitig findet solche Arbeit in Innenräumen statt, wo es zu viel Licht, zu wenig Licht oder Licht der falschen Sorte geben könnte. Zudem sind Kinder, die viel lesen, häufig introvertiert und sitzen daher vielleicht insgesamt mehr zu Hause herum als andere Kinder – vielleicht aber auch nicht: Eine Studie des US-Forschers Donald Mutti zeigt, dass das Freizeitverhalten kurzsichtiger Kinder sich kaum von dem normalsichtiger Kinder unterscheidet. Allerdings ist man sich einig darüber, dass Kinder, die mehr Sport treiben, weniger kurzsichtig sind, was an größeren oder stärker wechselnden Sehentfernungen, an besserer Durchblutung oder Helligkeitswechseln auf der Netzhaut liegen könnte. An den Details wird noch geforscht.

Nicht nur das Arbeits- und Freizeitverhalten steht im Verdacht, die Kurzsichtigkeit zu fördern, sondern auch Ernährungsweise, Stress und viele andere Faktoren. So verweist eine andere Erklärung für die erwähnten Unterschiede zwischen Sherpa- und Tibeterkindern auf das härtere Schulsystem und die weiter fortgeschrittene technische Entwicklung in Tibet, die wiederum Änderungen in der Ernährung und größeren Stress nach sich zieht. Akuter Stress kann zu Kurzsichtigkeit führen, wie eine nach einem Erdbeben durchgeführte Studie zeigt, und auch die Ernährung wird vielfach als Auslöser verdächtigt. Beschuldigt wurden zu viele Pestizide, zu viel Fluorid, Mangel an Kupfer, Chrom, Mangan, Selen und Kalzium, Vitamin-D-Mangel durch zu wenig Sonnenlicht und Mangel an so ziemlich allen anderen Vitaminen. Andererseits tritt Kurzsichtigkeit vor allem in entwickelten Ländern auf, in denen Mangelerscheinungen eigentlich kein großes Problem darstellen. Kommt es womöglich auf das Verhältnis der Nährstoffe an, nicht auf die absolute Menge? Oder sind, wie so oft, Zuckerkonsum und Ballaststoffmangel an allem schuld? Kurzsichtige haben offenbar etwas häufiger Karies als Normalsichtige, aber auch dafür kann es jede Menge andere Gründe geben. Genau genommen gibt es kaum einen Einfluss, der nicht bereits unter Verdacht geraten ist, Kurzsichtigkeit auszulösen: Veränderungen im Tag-Nacht-Rhythmus, zu helle Beleuchtung, zu schlechte Beleuchtung, Nachtlichter in Kleinkindschlafzimmern, Computerarbeit – wobei man annehmen darf, dass der allgemeine Wechsel vom Röhrenmonitor zum LCD-Display sich auf die Entwicklung der Kurzsichtigkeit auswirken wird.

Lässt sich der Fortschritt der Kurzsichtigkeit abbremsen oder aufhalten? Viele ältere Studien deuten darauf hin, dass harte Kontaktlinsen helfen, eine neuere Studie konnte jedoch keinen Nutzen nachweisen. Dass weiche Kontaktlinsen nichts nutzen, gilt dagegen als sicher. Eventuell besteht ein Zusammenhang zwischen Sehstörungen und zu seltenem Blinzeln, und Kontaktlinsenträger blinzeln einfach mehr. Da man bei konzentriertem Arbeiten weniger blinzelt, ließe sich auch hier wieder ein Zusammenhang mit der Lebensweise konstruieren. Vielleicht fördern Kontaktlinsen aber auch die Durchblutung des Auges, und vielleicht hilft das. Neu entwickelte Kontaktlinsen, die sich in einer dieser Hinsichten von älteren unterscheiden, komplizieren die Forschungslage weiter. Aus der Tatsache, dass Tiere, die Linsen für Kurzsichtige tragen müssen, kurzsichtig werden, kann man mit einiger Sicherheit ableiten, dass der Augapfel sich durch die schlechte Qualität des Bildes auf der Netzhaut zum Wachstum anregen lässt. Entsprechend ist es wohl möglich – wenn auch bisher nicht gelungen –, Brillen zu entwickeln, die das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit verlangsamen oder aufhalten, indem sie für ein passenderes Bild auf der Netzhaut sorgen. Auch pharmakologisch lässt sich das Augapfelwachstum beeinflussen. Allerdings ist es bisher ebenfalls noch nicht gelungen, ein effektives Medikament ohne starke Nebenwirkungen zu entwickeln, aber das kann sich ja ändern.

Die Forschung schreitet unaufhaltsam fort und wird wahrscheinlich eines Tages ein vorbeugendes Mittel gegen die Kurzsichtigkeit hervorbringen. Hoffen wir, dass es sich dabei nicht um eine anstrengende Umstellung unserer Lebensgewohnheiten, sondern vielleicht um ein Computerspiel oder wenigstens ein Dragee mit Himbeergeschmack handelt.

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