Sechsundvierzig

0 Minuten

Er konnte ihn nicht verfehlen.

Er konnte Caine mit einem einzigen Gedanken töten.

Doch jetzt verblasste alles um ihn herum. Astrid lag zusammengekrümmt da, sie wirkte farblos, beinahe durchsichtig. Auch Caine sah auf einmal aus wie ein Geist.

Es war totenstill. Die Schreie der Kinder waren verstummt. Die Schlacht zwischen Orc und Drake, aber auch die Attacken der Kojoten schienen wie in Zeitlupe abzulaufen. Sams Körper war taub, als wäre bis auf sein Hirn alles abgestorben.

»Es ist an der Zeit«, sagte eine Stimme.

Er kannte sie. Ihr Klang traf ihn wie ein Messerstich.

Seine Mutter stand vor ihm. Sie war so schön wie immer. Ihr Haar flatterte in einer Brise, die er nicht spürte. Das Blau ihrer Augen war die einzige Farbe weit und breit.

»Alles Gute zum Geburtstag«, sagte sie.

»Nein«, murmelte er, obwohl sich seine Lippen nicht bewegten.

Sie reichte ihm die Hand. »Komm!«

»Ich kann nicht«, erwiderte er.

»Sam, ich bin deine Mutter. Ich liebe dich. Komm mit mir!«

»Mom…«

»Gib mir einfach nur deine Hand. Ich tu dir nichts. Ich nehme dich mit.«

Sam schüttelte langsam den Kopf, so langsam, als würde er bis zum Kinn in Treibsand stecken. War die Zeit stehen geblieben? Astrid atmete nicht. Nichts bewegte sich. Die ganze Welt schien wie erstarrt.

»Alles wird so wie früher«, sagte seine Mutter. »Das verspreche ich dir.«

»Es war nie…«, begann er. »Du hast mich belogen. Du hast mir nie erzählt…«

»Ich habe nicht gelogen!«, fiel sie ihm barsch ins Wort. Sie hatte die Stirn gerunzelt und war sichtlich enttäuscht.

»Du hast mir nie gesagt, dass ich einen Bruder habe, du hast ihm nie…«

»Komm mit mir!« Sie machte eine ungeduldige Handbewegung, die ihn an früher erinnerte, als er noch klein war und sich geweigert hatte, mit ihr Hand in Hand über die Straße zu gehen. »Komm mit, Sam. Ich bringe dich in Sicherheit und weg von hier.«

Er hob die Hand, streckte sie ihr entgegen und zog sie wieder zurück.

»Ich kann nicht«, flüsterte er. »Da ist noch jemand. Ich muss hierbleiben.«

In den Augen seiner zornigen Mutter blitzte ein grünes Licht auf. Doch dann blinzelte sie und es war wieder weg.

Jetzt tauchte Caine aus dem blassen Hintergrund auf.

Sams Mutter begrüßte ihn mit einem Lächeln. Er blickte sie erstaunt an und sagte: »Schwester Temple.«

»Mom«, korrigierte sie ihn. »Es ist an der Zeit, dass meine beiden Jungen mit mir kommen. Fort von hier, fort von diesem Ort.«

Caine schien verzaubert und außerstande, den Blick von dem sanften Gesicht und den durchdringenden blauen Augen abzuwenden.

»Warum?«, fragte Caine wie ein kleines Kind.

Ihre Mutter sagte nichts. Und wieder, nur für den Bruchteil einer Sekunde, funkelte dieses giftige Grün in ihren Augen.

»Warum er und nicht ich?«, wollte Caine wissen.

Ihre Mutter ging nicht darauf ein. »Ihr solltet jetzt mit mir mitkommen. Wir werden eine Familie sein.«

»Du zuerst, Sam«, sagte Caine. »Geh mit deiner Mutter.«

»Nein!«, entfuhr es Sam.

Caines Gesicht verfinsterte sich. »Geh, Sam! Geh mit ihr! Na mach schon!«

Er hatte zu schreien begonnen und schien Sam packen zu wollen, um ihn zu der Mutter zu stoßen, die sie niemals geteilt hatten, doch seine Bewegungen waren seltsam eckig, wie das Zappeln eines Strichmännchens in einem Traum.

Caine gab es auf. »Jack hat dir alles erzählt«, sagte er.

»Niemand hat mir irgendwas erzählt«, entgegnete Sam. »Ich hab hier noch was zu tun.«

Ihre Mutter streckte ihnen wütend die Arme entgegen. »Kommt endlich her zu mir!«

»Nein«, sagte Caine mit bitterer Miene. »Zu spät, Mom.«

Das Gesicht ihrer Mutter flackerte wie ein Bildschirm. Die Haut schien von ihr abzufallen und brach wie ein Puzzle auseinander. An die Stelle des lächelnden, bittenden Mundes trat ein aufgerissenes Maul mit spitzen Monsterzähnen. Aus den Augen loderte grünes Feuer.

»Ich krieg euch noch!«, brüllte das Monster.

Caine starrte es entsetzt an. »Wer bist du?«

»Wer ich bin?«, höhnte es bissig. »Ich bin deine Zukunft. Du wirst noch freiwillig zu mir kommen, an den dunklen Ort…«

»Nein!«, protestierte Caine.

Daraufhin stieß das Piranhamaul des Monsters ein grausames Lachen aus.

Dann verblasste es langsam und gleichzeitig kehrten die Farben zurück. Die Bewegungen um sie herum liefen wieder in einer normalen Geschwindigkeit ab, die Luft roch nach Schießpulver und Sam konnte Astrid atmen hören.

Sam und Caine standen einander gegenüber.

Die Welt war noch da. Ihre Welt. Die FAYZ. Diana starrte sie an. Astrid öffnete die Augen.

Caine handelte schnell. Er hob die Arme und richtete die Handflächen auf Sam.

Aber Sam war schneller. Mit einem Satz war er bei Caine, trat zwischen seine Arme und somit aus dem Gefahrenbereich. Er packte seinen Bruder am Kopf.

Sams Handfläche lag auf Caines Schläfe, die Finger krallten sich in seine Haare.

»Zwing mich nicht dazu!«, drohte Sam.

Caine wich nicht einmal zurück. Er blickte ihn herausfordernd an. »Tu’s, Sam«, flüsterte er.

Sam schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Mitleid?«, höhnte Caine.

»Du musst weggehen, Caine«, antwortete Sam leise. »Ich möchte dich nicht töten, doch hier darfst du nicht bleiben.«

Brianna tauchte blitzartig auf, schlitterte zu einem Halt und hielt Caine eine Pistole vors Gesicht. »Wenn Sam dich nicht erledigt, tu ich es.«

Caine strafte sie mit einem verächtlichen Blick. Aber die Chance, Sam anzugreifen, war verstrichen. Brianna würde sich nicht überrumpeln lassen, dazu war sie viel zu schnell.

»Du machst einen Fehler, wenn du mich am Leben lässt«, sagte Caine zu Sam. »Ich komme zurück, das weißt du.«

»Ich warne dich, Caine! Beim nächsten Mal…«

»… tötet einer von uns den anderen.«

»Hau ab, Caine! Und komm ja nicht wieder!«

»Träum weiter«, erwiderte Caine, der zu seiner gewohnten Selbstherrlichkeit zurückzufinden schien. »Diana?«

»Sie kann hierbleiben«, sagte Astrid.

Caine wandte sich überrascht an Diana. »Tatsächlich? Willst du das?«

»Astrid, das Genie«, spottete Diana. »So intelligent. Und so ahnungslos.«

Diana trat zu Sam, legte ihre Hand auf seine Wange und küsste ihn flüchtig auf den Mundwinkel. »Tut mir leid, Sam. Das böse Mädchen bekommt am Ende immer den bösen Jungen. So ist der Lauf der Welt. Vor allem dieser Welt.«

Sie ging zu Caine, ignorierte seine ausgestreckte Hand und sah ihn nicht einmal an. Aber sie schritt an seiner Seite die Treppe hinunter.

Der Kampf zwischen Drake und Orc hatte beide erschöpft. Drake hob gerade seine Peitsche, um sie noch einmal auf Orcs stählerne Schultern sausen zu lassen, doch seine Bewegungen waren langsam und von einer bleiernen Müdigkeit.

»Hör auf, Drake«, sagte Diana. »Merkst du nicht, wann ein Kampf vorbei ist?«

»Nie!«, keuchte Drake.

Caine hob die Hand und zog den fluchenden und sich sträubenden Drake hinter sich her. Die Kojoten, die noch am Leben waren, folgten ihnen aus der Stadt.

Edilio legte seine Waffe an und zielte auf die abziehende Gruppe. Er blickte zu Brianna und sie nickte kaum merklich.

»Nein, Mann!«, sagte Sam. »Der Krieg ist vorbei.«

Edilio nahm widerstrebend die Waffe herunter.

»Du auch, Breeze. Lass sie gehen.«

Brianna gehorchte sichtlich erleichtert.

Quinn stieg die Stufen hoch und stellte sich neben Edilio. Er war voller Blut. Er schleuderte seine Waffe zu Boden, dann warf er Sam einen niedergeschlagenen, unendlich traurigen Blick zu.

Patrick sprang aufgeregt herbei. Lana kam gleich hinter ihm.

Astrid war in die Kirche zurückgegangen, um ihren Bruder zu holen. Jetzt tauchte sie wieder auf. Sie hielt ihn unter den Achseln und zerrte ihn mit letzter Kraft heraus.

»Helft mir!«, bat sie und Lana lief zu ihr.

Sam wollte zu Astrid. Er wollte nichts sehnlicher. Doch er konnte sich vor Erschöpfung nicht von der Stelle rühren. Mit seinem heilen Arm stützte er sich auf Edilios Schulter.

»Dann haben wir wohl gewonnen«, sagte Sam.

GONE Verloren
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