Zweiunddreissig

97 Stunden, 43 Minuten

Lana zündete eine von Einsiedler Jims Laternen an und blickte sich um. Die Hütte sah genauso aus, wie sie sie verlassen hatte. Bloß waren jetzt noch zwei tote Kojoten da, drei verängstigte Kids, ein unheimlicher, vor sich hin starrender Vierjähriger und ein Junge, der auf dem Boden lag und nicht mehr lange leben würde.

Sie trat Nip in die Seite. Keine Reaktion. Er war tot, erschlagen mit einem Goldbarren. Sie hatte so lange auf ihn eingedroschen, bis ihre Arme müde geworden waren.

Den anderen Kojoten kannte sie nicht beim Namen. Aber er war auf die gleiche Art gestorben – zu fixiert auf seine Beute, um die Gefahr zu bemerken.

Lana wandte sich an den Jungen, der wie ein Surfer aussah. »Wer bist du?«

»Ich heiße Quinn.«

»Und wer bist du?«, wurde sie von dem blonden Mädchen gefragt.

Lana fand sie auf den ersten Blick unsympathisch; sie kam ihr wie eines dieser perfekten, obergescheiten Mädchen vor, die jemanden wie Lana normalerweise ignorierten. Andererseits hielt sie den seltsamen kleinen Jungen in den Armen und schien ihn zu beschützen. Vielleicht war sie ja doch ganz in Ordnung.

Der Junge mit dem runden Gesicht und den schwarzen, kurz geschorenen Haaren beugte sich über den Verwundeten. »Leute, das sieht böse aus.«

Die Blonde kroch rasch zu ihm. Sie riss das Hemd des Jungen auf. Blut strömte über seine Brust, es floss aus seinem Hals und seiner Schulter und wurde immer mehr.

»Oh mein Gott, nein!«, schrie die Blonde.

Lana schob sie zur Seite und legte eine Hand auf die Wunde.

»Er wird nicht sterben«, sagte sie. »Ich bring das in Ordnung.«

»Wie denn? Er muss genäht werden. Wir brauchen einen Arzt. Sieh doch, wie er blutet!«

»Ja, ich hab’s bemerkt«, erwiderte Lana ungerührt. »Ich weiß, das klingt völlig irre, aber in ein paar Minuten geht es ihm wieder gut.« Sie entfernte ihre Hand, um zu zeigen, dass sich die Wunde bereits geschlossen hatte.

»Das gibt’s doch nicht!«, stieß der Kurzhaarige hervor.

Vor der Hütte heulten und bellten die Kojoten und warfen sich gegen die Tür. Aber der Riegel hielt stand. Lana schob die Rückenlehne des Stuhls unter die Klinke und dachte über ihren nächsten Schritt nach.

Die Tür würde nicht ewig halten. Vorläufig war das Rudel aber orientierungslos. Solange Pack Leader auf der Jagd war, würden sie nicht wissen, wie sie sich verhalten sollten.

»Er heißt Sam«, sagte die Blonde. »Das ist Edilio, das hier ist der kleine Pete, mein Bruder, und ich heiße Astrid. Du hast uns allen gerade das Leben gerettet.«

Lana nickte. Das war schon besser. Das Mädchen erwies ihr Respekt. »Ich heiße Lana. Aber hört zu, die Kojoten sind noch lange nicht fertig mit uns. Sobald Pack Leader wieder da ist, werden sie uns angreifen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Tür hält.«

»Ich kümmere mich darum«, erklärte Edilio.

Der verletzte Junge kam schlagartig zu sich.

Er starrte auf die toten Kojoten. Dann griff er sich an den Hals und blickte benommen auf das Blut an seinen Fingern.

»Du wirst nicht sterben«, sagte Lana. »Den Rest bringe ich auch gleich in Ordnung. Meine Hand muss aber noch draufbleiben.«

Er warf Astrid einen fragenden Blick zu.

»Sie hat uns gerettet. Und gerade deine Wunde geschlossen. Du wärst verblutet.«

Sam ließ zu, dass sie die Hand wieder auf seinen Hals legte.

»Wer bist du?«, stieß er krächzend hervor.

»Lana. Lana Arwen Lazar.«

»Danke.«

»Keine Ursache. Freu dich aber nicht zu früh: Pack Leader ist noch nicht fertig mit uns.«

Er nickte, lauschte dem Knurren und Kläffen vor der Hütte und schrak zusammen, als sich einer der Kojoten gegen die Tür warf.

»Irre ich mich, oder benutzt Edilio gerade einen Goldbarren als Hammer?« Edilio hatte die Holzpritsche auseinandergenommen und sicherte die Tür mit einer der Planken.

Lana grinste. »Ja. Davon haben wir jede Menge. Wir sind reich.«

Sie verlagerte ihre Hand von seinem Hals zur Schulter. »Es geht leichter, wenn du dein Hemd ausziehst.«

Er zuckte zusammen. »Ich glaube, das schaffe ich nicht.«

Lana schob ihre Hand unter den Stoff und hatte das Gefühl, in rohes Fleisch zu greifen. »In ein paar Minuten geht es dir besser.«

»Wie machst du das?«

»Keine Ahnung, aber in letzter Zeit passieren die seltsamsten Dinge.«

Der Junge nickte. »Ja, das ist uns auch schon aufgefallen. Danke jedenfalls. Wer ist dieser Pack Leader?«

»Er ist das Leittier der Kojoten. Ich habe ihn reingelegt, damit er mich hierherkommen ließ. Ich wollte ihm entwischen. Oder wenigstens was anderes essen als Kojotenfraß. Kojoten sind klug, doch im Grunde sind sie auch nur clevere Hunde. Habt ihr Hunger? Ich schon.«

Sam nickte, bevor er sich mühselig erhob. Er bewegte sich wie ein alter Mann.

»Wir haben einen ziemlich guten Vorrat an Nahrungsmitteln und genug Wasser, um eine Zeit lang auszukommen. Die Frage ist nur, ob es Pack Leader gelingen wird, in die Hütte einzubrechen.«

»Du sprichst von diesem Kojoten, als wäre er ein Mensch«, sagte Astrid.

Lana lachte. »Jedenfalls keiner, mit dem man sich anfreunden möchte.«

»Ist er … ist er nur ein Kojote?«, fragte Astrid.

Lana sah sie scharf an. »Was weißt du davon?«

»Ich weiß, dass sich manche Tiere verändert haben. Wir haben eine Möwe mit Krallen gesehen. Und eine Schlange mit kleinen Stummelflügeln.«

»Die habe ich auch gesehen«, sagte Lana. »Aus der Nähe. Eine von ihnen hat einen der Kojoten getötet. Pack Leader sagt…«

»Sagt?«, wiederholte Edilio ungläubig.

»Ich erzähle euch alles, doch zuerst wird gegessen. Ich bin am Verhungern. Sie wollten mich mit einem rohen Hasen füttern, aber ich ziehe Dosenpudding vor.«

Sie wuchtete eine Dose auf den Tisch und bearbeitete sie hektisch mit dem Dosenöffner. Ohne sich einen Teller oder Löffel zu nehmen, fuhr sie heißhungrig mit der Hand hinein und schöpfte sich Pudding in den Mund. Dann stand sie mit verzücktem Gesichtsausdruck da, überwältigt von dem wunderbar süßen Geschmack.

»Entschuldigt«, sagte sie mit Tränen in den Augen. »Ich habe meine Manieren vergessen. Ich hol euch eure eigene Dose.«

Sam humpelte herbei und schöpfte den Pudding jetzt ebenfalls mit der Hand heraus. »Ich lege schon lange keinen Wert mehr auf Manieren«, sagte er, obwohl ihm anzusehen war, dass Lanas Benehmen ihn schockiert hatte. In diesem Moment beschloss sie, ihn zu mögen.

»Okay, hört mal her! Und verliert jetzt nicht die Nerven. Pack Leader kann sprechen wie ein Mensch. Wahrscheinlich eine Mutation, wie Astrid schon vermutet hat.«

Sie hatte sich einen Blechnapf geholt und ihn mit einem Nachschlag Vanillepudding gefüllt. Astrid öffnete unterdessen eine Dose Fruchtsalat.

»Was weißt du über die FAYZ?«, fragte Astrid.

Lana hörte auf zu essen und starrte sie an. »Die was

Astrid zuckte mit den Schultern und sah verlegen drein. »Alle nennen sie so. Die Fallout Alley Youth Zone. FAYZ.«

»Was soll das sein?«

»Hast du die Barriere gesehen?«

Sie nickte. »Oh ja, die habe ich gesehen. Ich habe sie sogar berührt, was übrigens keine gute Idee ist.«

»Soweit wir wissen, beschreibt sie einen großen Kreis«, erklärte Sam. »Vielleicht ist sie auch eine Kugel. Der Mittelpunkt dürfte das Kernkraftwerk sein. Von dort scheint ihr Radius ungefähr sechzehn Kilometer zu betragen, also zweiunddreißig Kilometer im Durchmesser.«

»Ein Kreisumfang von 100,53 Kilometern und eine Fläche von 804,232 Quadratkilometern«, fügte Astrid hinzu.

»Komma 232«, wiederholte Quinn aus seinem Winkel. »Sehr wichtig.«

»Ist ja gut, ich hör schon auf.«

Lana war immer noch hungrig und hatte sich über den Obstsalat hergemacht. »Sam, meinst du, das Kernkraftwerk ist der Grund dafür?«

Sam zuckte die Achseln. »Das wissen wir nicht. Tatsache ist, dass von einem Moment auf den anderen alle über fünfzehn verschwunden sind, dann ist diese Barriere aufgetaucht und die Menschen und Tiere…«

Lana brauchte einen Moment, um diese neue Information zu verdauen. »Was? Alle Erwachsenen sind weg?«

»Verpufft«, meinte Quinn. »Plötzlich von der Bildfläche verschwunden. Dageblieben sind nur die Kinder.«

»Die Tür ist zugenagelt«, verkündete Edilio. »Aber sie wird nicht ewig halten.«

»Vielleicht sind sie gar nicht weg«, meinte Lana. »Vielleicht sind wir weg.«

»Das wäre natürlich auch eine Möglichkeit«, erwiderte Astrid. »Obwohl es keinen Unterschied macht. Es ist im Grunde das Gleiche.«

Die Blonde hatte eindeutig Grips. Lana fragte sich, was mit ihrem Bruder los war. Für ein kleines Kind war er erstaunlich still.

»Mein Großvater und ich waren im Laster unterwegs, als er verschwand«, erzählte Lana und erinnerte sich an den schrecklichen Tag. »Der Laster überschlug sich. Danach lag ich im Sterben. Offene Brüche. Wundbrand. Und auf einmal konnte ich heilen. Meinen Hund. Mich selbst.«

Vor der Hütte ertönte plötzlich aufgeregtes Kläffen.

»Pack Leader ist zurück«, stellte Lana fest. Sie ging zur Spüle, holte sich das große Küchenmesser und wandte sich mit finsterem Gesicht an Sam: »Wenn er reinkommt, steche ich ihn ab.«

Quinn und Edilio zogen ihre Messer.

Draußen, nur wenige Zentimeter von ihr entfernt, erklang die gepresste, hohe Stimme des Kojoten: »Mensch. Komm raus.«

»Nein!«, schrie Lana.

»Mensch. Komm raus. Mensch Lehrer für Pack Leader. Abmachung.«

»Lektion Nummer eins, du dreckiger, hässlicher, gemeiner, räudiger Köter: Traue niemals einem Menschen.«

Darauf folgte längeres Schweigen.

»Die Dunkelheit«, knurrte Pack Leader.

Lana spürte, wie sich ihr Herz vor Angst verkrampfte. »Dann geh doch zu deinem Meister in der Mine, erzähl ihm alles. Na mach schon!« Sie wollte hinzufügen, dass sie sich vor der Dunkelheit nicht fürchtete, aber das hätte unecht geklungen.

»Welche Mine?«, fragte Sam.

»Ist nicht so wichtig.«

»Und warum droht dir der Kojote damit? Was meint er mit der ›Dunkelheit‹?«

Lana schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Sie haben mich dorthin gebracht. Ein altes Bergwerk.«

»Hör mal«, sagte Sam. »Du hast uns zwar das Leben gerettet, aber wir sind immer noch in Gefahr. Wir müssen wissen, was hier los ist.«

Lana verstärkte den Druck ihrer Finger um den Griff des Messers, um das Zittern in ihren Händen zu unterdrücken. »Da unten in der Mine ist irgendwas. Mehr weiß ich auch nicht. Die Kojoten fürchten sich davor, sie tun, was es ihnen sagt.«

»Hast du es gesehen?«

»Ich kann mich nicht erinnern. Um ehrlich zu sein, ich will mich nicht daran erinnern.«

Etwas donnerte so heftig gegen die Tür, dass sich die Scharniere bogen.

»Edilio, wir brauchen mehr Nägel«, sagte Sam.

Panda, dessen Bein nicht gebrochen, aber schlimm verstaucht war, ließ sich mit einem bekümmerten und gekränkten Gesichtsausdruck auf einen Stuhl fallen. Diana stand ein wenig abseits. Ihr missfiel, was sie gleich miterleben würde, und sie machte keinen Hehl daraus.

»Andrew, steig auf den Tisch!«, befahl Caine und zeigte auf einen der großen runden Tische.

»Wieso?«, fragte Andrew.

Mehrere Kids steckten ihre Köpfe durch die Tür. Auf ein »Husch!« von Drake verschwanden sie sofort wieder.

»Andrew, entweder du steigst selbst rauf oder ich hebe dich hinauf«, warnte ihn Caine.

»Na los, du Idiot!«, bellte Drake.

Andrew stieg auf einen Stuhl und von dort auf den Tisch. »Ich verstehe nicht, was…«

»Binde ihn fest. Computer-Jack? Bau alles auf.«

Drake zog ein Seil aus der Tasche, die er aus dem Wagen geholt hatte. Er band ein Ende um ein Tischbein und das andere um Andrews Knöchel.

»Mann, was soll das? Was habt ihr vor?«

»Das wird ein Experiment, Andrew.«

Jack fing an, die Lampen und die Stative für die Kameras aufzustellen.

»Das dürft ihr nicht! Caine, das ist unrecht!«

»Andrew, du hast Glück. Ich gebe dir die Chance, den großen Augenblick zu überleben«, erwiderte Caine. »Also hör auf zu flennen.«

Drake band Andrews zweiten Knöchel fest, dann sprang er auf den Tisch, um Andrews Hände hinter seinem Rücken zu fesseln.

»Lass das! Ich brauch meine Hände für die Kraft.«

Drake warf Caine einen Blick zu. Er nickte. Drake band Andrews Hände wieder los und sah hinauf zum Kronleuchter. Er warf das Seil über den Kronleuchter, ein verziertes, schweres Ding aus Eisen, und wickelte es um Andrews Oberkörper. Danach schob er es unter seinen Achseln hindurch und zog ihn daran hoch, bis seine Fußspitzen die Tischplatte gerade noch berührten.

»Sorg dafür, dass er die Hände nicht auf die Kameras richten kann«, sagte Caine. »Sein Schockwellending wirft sie womöglich um.«

Also zog Drake Andrews Handgelenke hoch, sodass es jetzt so aussah, als wollte er sich ergeben.

Jack warf einen Blick auf den LED-Bildsucher einer Kamera. Andrew wäre immer noch in der Lage, sich aus dem Bild zu schwingen. Jack wollte eigentlich nichts sagen, Andrew tat ihm leid, aber wenn die Aufnahme danebenging

»Ähm. Er kann sich immer noch nach links oder rechts bewegen.«

Daraufhin ließ Drake vier Seile von Andrews Nacken zu vier umstehenden Tischen laufen und band sie fest.

»Wie lange noch, Jack?«, fragte Caine.

Jack warf einen Blick auf seinen Palmtop. »Noch zehn Minuten.«

Jack beschäftigte sich mit den Kameras. Es waren insgesamt vier, drei Videokameras und eine automatische Fotokamera, alle standen auf Stativen. Zwei auf Stangen montierte Scheinwerfer leuchteten auf Andrew herunter.

Andrew wurde angestrahlt wie ein Filmstar.

»Ich will nicht sterben«, sagte Andrew.

»Ich auch nicht«, erwiderte Caine. »Deshalb hoffe ich, dass du es schaffst und nicht verpuffst.«

»Dann wäre ich wohl der Erste, was?« Andrew schniefte. Tränen quollen aus seinen Augen.

»Der Erste und Einzige.«

»Das ist nicht fair.«

Jack stellte die Linse ein, damit sie Andrews ganzen Körper einfing.

»Fünf Minuten«, sagte er. »Ich fang mal an und lasse die Videokamera laufen.«

Caine wies ihn zurecht: »Tu, was du tun musst, aber kündige es nicht an.«

»Kannst du mir nicht helfen, Caine?«, flehte Andrew. »Du bist ein Vierer. Wir könnten unsere Kraft gleichzeitig einsetzen, du und ich, was meinst du?«

Niemand antwortete ihm.

»Ich hab Angst.« Andrew weinte jetzt hemmungslos. »Ich weiß nicht, was passieren wird.«

»Vielleicht wachst du außerhalb der FAYZ auf«, sagte Panda.

»Vielleicht wachst du in der Hölle auf«, fügte Diana hinzu. »Wo du hingehörst.«

Andrew schluchzte laut auf. »Ich sollte vielleicht beten.«

»Wie wär’s mit ›Gott, vergib mir, dass ich ein Schwein bin, das andere verhungern lässt‹?«, schlug Diana vor.

»Eine Minute«, kündigte Jack leise an.

Er war nervös, weil er nicht sicher war, wann er die Fotokamera starten sollte. Niemand wusste, ob Andrews Geburtsurkunde auf die Minute genau war. Bennos hatte um Wochen danebengelegen. Andrew konnte früher verschwinden.

Jack schaltete die Fotokamera ein.

»Zehn Sekunden.«

Im Raum explodierte ein ohrenbetäubender Knall. Überschallwellen schossen aus Andrews Handflächen und sprengten Risse in den Verputz an der Decke.

Jack hielt sich die Ohren zu und starrte mit einer Mischung aus Faszination und Horror auf Andrew.

»Es ist so weit!«, schrie er über den unbeschreiblichen Lärm hinweg.

Es hagelte Gipsbrocken von der Zimerdecke. Die Glühbirnen des Kronleuchters barsten und rieselten als Scherbenschauer herab.

»Plus zehn!«, rief Jack.

Andrew war noch da. Auf seinem tränenüberströmten Gesicht zeichnete sich Hoffnung ab.

»Plus zwanzig.«

»Halt durch, Andrew!« Caine war erwartungsvoll aufgesprungen. Er war nun ebenfalls voller Hoffnung, dass sich der Abgang vielleicht doch verhindern ließe.

Die Risse in der Decke wurden immer tiefer, und Jack befürchtete schon, sie könnte herunterkrachen.

Der Überschallkrach hörte abrupt auf.

Andrew stand völlig erschöpft auf dem Tisch, er war aber immer noch da. Immer noch sichtbar.

»Oh mein Gott!«, sagte er. »Gott sei…«

Und dann war er weg.

Die Seile fielen herab.

Alle schwiegen.

Jack ging zu einer der Videokameras und drückte auf Rewind. Er ließ sie zehn Sekunden zurücklaufen. Dann sah er sich auf dem winzigen LED-Bildschirm ein Einzelbild nach dem anderen an.

»Tja«, meinte Diana. »So viel zur Theorie, dass man nicht verschwindet, wenn man die Kraft hat.«

»Er hat kurz vorher mit dem Überschall aufgehört«, erwiderte Caine. »Erst dann ist er verschwunden.«

»Caine, die Geburtsurkunden werden nie hundertprozentig genau sein. Eine Krankenschwester schreibt den Zeitpunkt auf, die Geburt kann aber auch fünf Minuten früher oder später gewesen sein. Wahrscheinlich liegen manche sogar eine halbe Stunde daneben.«

»Jack, ist irgendwas zu sehen?« Caine klang entmutigt.

Jack ließ Bild für Bild ablaufen. Er sah Andrew, wie er seine Ultraschallwellen abfeuerte und schließlich erschöpft von der Anstrengung wieder aufhörte. Er sah das nervöse Lächeln, den Moment, als Andrew den Mund öffnete, jede Silbe und dann

»Wir brauchen einen größeren Bildschirm.«

Sie ließen die Stative und Scheinwerfer zurück und nahmen nur die Kameras mit. Im EDV-Raum fanden sie einen Sechsundzwanzig-Zoll-Monitor mit kristallklarem Bild. Jack machte keinen Download, er stöpselte nur rasch die Kabel ein und spielte die Bilder ab. Caine, Drake und Diana standen hinter ihm, ihre gespannten Gesichter lagen im blauen Licht des Monitors. Panda hinkte zu einem Stuhl und setzte sich.

»Passt jetzt genau auf«, sagte Jack. Er spielte wieder Bild für Bild ab.

»Was ist das?«, fragte Diana.

»Er lächelt. Seht ihr das? Und er guckt etwas an. Doch eins ist sehr seltsam. Achtet mal auf seine Körperhaltung. Dieses Einzelbild dauert vielleicht eine Dreißigstelsekunde. In dieser kurzen Zeit könnte Andrew seinen Kopf eigentlich gar nicht von dieser Position…«, Jack klickte ein Bild weiter, »zu dieser bewegen. Und hier lösen sich die Seile, seine Hände sind frei. Erst drei Bilder weiter ist er ganz weg.«

»Was bedeutet das?«, fragte Caine fast schon flehend.

»Ich muss mir erst die anderen Kameras ansehen«, sagte Jack, um Zeit zu schinden.

Von den anderen beiden Videokameras hatte nur eine den entscheidenden Moment eingefangen. Auch auf dieser war erst ein verschwommenes Bild von Andrew zu erkennen und dann, wie er plötzlich seine Körperhaltung geändert hatte. Wieder waren die Seile gelöst und seine Arme ausgestreckt.

»Es sieht so aus, als wollte er jemanden umarmen«, bemerkte Diana.

Die Fotokamera würde wahrscheinlich nicht viel bringen, aber Jack schloss sie dennoch an den Computer an und drückte den Schnellvorlauf bis zur entsprechenden Zeitangabe. Als das Foto hochgeladen war, hielten alle hörbar die Luft an.

Andrew war deutlich sichtbar. Er lächelte glücklich, wirkte wie ausgewechselt und streckte beide Arme nach vorne. Das Ding, dem er sie entgegenstreckte, sah aus wie ein Lichtkörper. Es leuchtete in einem beinahe fluoreszierenden Grün, obwohl die Scheinwerferlichter weiß gewesen waren.

»Zoom diesen grünen Klecks näher ran«, sagte Caine.

»Wir haben ein Tiefenschärfeproblem«, erklärte Jack. »Ich versuche mal, den Klecks deutlicher zu machen.«

Es erforderte mehrere Vergrößerungsgrade, bis sie etwas erkannten. Das grüne Ding sah aus wie ein von spitzen Zähnen eingerahmtes Loch.

»Was ist das?«, fragte Caine.

»Keine Ahnung«, erwiderte Jack. »Jedenfalls nichts, wonach ich die Arme ausstrecken würde. Außerdem muss es irgendwie die Zeit verändert haben, sodass sie für Andrew langsamer ablief als für uns«, dachte Jack laut nach. »Für ihn waren es vielleicht zehn Sekunden oder sogar zehn Minuten, während es für uns viel kürzer als ein Blinzeln war. Es ist das reinste Glück, dass wir das auf der Kamera haben.«

Caine überraschte ihn, indem er seinen Rücken tätschelte. »Verkauf dich nicht unter Wert, Jack.«

»Er ist nicht einfach verpufft«, sagte Diana. »Er hat etwas gesehen. Er hat die Hände danach ausgestreckt. Dieses grüne Ding, das in Wirklichkeit wie ein Monster aussieht, muss für Andrew anders ausgeschaut haben.«

»Aber wie?«

»Wie etwas, was er sehr vermisst hat«, mutmaßte Diana. »Wonach er vor Sehnsucht die Arme ausgestreckt hat. Wenn ich raten soll, würde ich sagen, dass es seine Mami war.«

Drake, der bis jetzt geschwiegen hatte, meinte: »Man verdampft also nicht einfach.«

»Nein. Da ist Täuschung mit im Spiel«, sagte Caine. »Ein Trick. Eine Lüge.«

»Er wurde verführt«, fügte Diana hinzu. »Das ist wie bei diesen fleischfressenden Pflanzen, die ihre Opfer mit ihrem Duft und ihren bunten Farben anlocken und dann…« Sie schloss ihre Faust um ein imaginäres Insekt.

Caine schien von dem Standbild wie hypnotisiert. »Ist es möglich, Nein zu sagen?«, fragte er. »Können wir uns weigern? Können wir Nein sagen … und überleben?«

»Okay, das mit der Mami kapier ich«, wandte Drake scharf ein. »Aber eine Frage hab ich noch: Was ist das Ding mit den Zähnen?«

GONE Verloren
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