Fünf

291 Stunden, 7 Minuten

Es wurde Nacht in Perdido Beach.

Die Straßenlampen gingen automatisch an. Ihr Licht war zu schwach, um die Dunkelheit zu vertreiben, doch stark genug, um tiefe Schatten auf die verängstigten Gesichter zu werfen.

Auf der Plaza tummelten sich an die hundert Kinder. Alle schienen einen Schokoriegel und eine Limo zu haben – wahrscheinlich aus dem kleinen Laden, der vor allem Bier und Chips verkaufte.

Auf dem Bürgersteig lag immer noch die Leiche des kleinen Mädchens. Jemand hatte sie mit einem Tuch zugedeckt. Dafür war Sam dankbar.

Sam und Quinn saßen nebeneinander auf dem Rasen in der Mitte der Plaza. Quinn hatte die Arme um die Knie geschlungen und wippte hin und her.

Die Parkbänke waren alle besetzt. Ein paar Gruppen hatten die wenigen Bänke zusammengeschoben und mit Laken und Decken notdürftige Zelte gebaut. Viele waren in ihre leeren Häuser zurückgekehrt, wieder andere brauchten Menschen um sich herum. Sie suchten Trost in der Menge. Und dann gab es die, die alles im Auge behalten mussten.

Zwei Jungs, die Sam nicht kannte und auf elf Jahre schätzte, gesellten sich zu ihm. Der schmächtigere der beiden sprach ihn an. »Weißt du, was passieren wird?«

Sam schüttelte den Kopf. »Nein, ich hab keine Ahnung.«

»Was tun wir jetzt?«

»Ich schätze, wir werden erst mal eine Weile rumhängen.«

»Meinst du hier?«

»Ja. Ihr könnt aber auch nach Hause gehen, in euren eigenen Betten schlafen. Macht das, was sich für euch richtig anfühlt.«

»Wir haben keine Angst.«

»Echt nicht?« Sam zog zweifelnd die Augenbrauen hoch. »Ich hab mir vor Angst in die Hosen gemacht.«

Der Junge grinste. »Hast du nicht.«

»Nein, du hast Recht. Aber Angst zu haben, ist völlig in Ordnung. Jeder hier hat Angst.«

Das ging schon die ganze Zeit so. Kinder kamen zu Sam und stellten ihm Fragen, auf die er keine Antworten wusste.

Er wünschte, sie würden damit aufhören.

Orc und seine Crew zerrten Gartenstühle aus der Eisenwarenhandlung. Sie stellten sie mitten auf die bis vor Kurzem noch meistbefahrene Kreuzung von Perdido Beach, direkt unter die Ampel, die nach wie vor von Grün auf Gelb auf Rot schaltete.

Howard beschimpfte gerade einen Jungen, der mit einem brennenden Streichholz ein Lagerfeuer entfachen wollte. Orcs Leute brachten Axtstiele und Baseballschläger aus Holz aus dem Laden, stapelten sie über der schwachen Glut und versuchten damit, ein Feuer in Gang zu setzen. Ohne Erfolg.

Die Baseballschläger aus Metall und die kleinen Vorschlaghämmer, die sie ebenfalls mitgenommen hatten, behielten sie.

Sam erwähnte das tote Mädchen und die Art und Weise, wie es dalag, mit keinem Wort, denn sonst hätte er sich darum kümmern müssen. Ein Grab ausheben und es beerdigen. Aus der Bibel vorlesen und ein paar Worte sagen. Er wusste nicht einmal, wie das Kind hieß. Niemand schien es zu kennen.

»Ich kann ihn nirgends finden.« Astrid war wieder aufgetaucht, nachdem sie mindestens eine Stunde lang nach ihrem Bruder gesucht hatte. »Pete ist nicht hier. Und gesehen hat ihn auch niemand.«

Sam reichte ihr eine Limonade. »Hier. Ich hab dafür bezahlt – oder es zumindest versucht.«

»Normalerweise trinke ich so was nicht.«

»Fällt dir hier irgendetwas auf, was so ist wie ›normalerweise‹?«, knurrte Quinn.

Quinn sah sie nicht an. Sein Blick wanderte rastlos von einer Person zur nächsten. Er streifte alles wie ein nervös flatternder Vogel und vermied jeglichen direkten Augenkontakt. Ohne Sonnenbrille und ohne Schlapphut sah er eigenartig nackt aus.

Astrid ignorierte ihn. Sie bedankte sich bei Sam und trank die Dose zur Hälfte aus, setzte sich aber nicht hin. »Die Leute sagen, bei der Armee muss etwas schiefgelaufen sein. Oder dass es Terroristen waren. Oder Außerirdische. Oder Gott. Jede Menge Vermutungen. Keine Antworten.«

»Glaubst du überhaupt an Gott?«, wollte Quinn wissen. Er suchte Streit.

»Oh doch!«, antwortete Astrid. »Ich glaube bloß nicht an einen Gott, der grundlos Menschen verschwinden lässt. Gott steht für die Liebe. Und das hier sieht nicht nach Liebe aus.«

»Eher wie das mieseste Picknick der Welt«, bemerkte Sam.

»Das nennt man Galgenhumor«, meinte Astrid. Als die beiden sie verständnislos ansahen, fügte sie hinzu: »Entschuldigt, ich habe die lästige Angewohnheit, alles, was andere sagen, zu analysieren. Ihr habt die Wahl: Ihr könnt euch daran gewöhnen oder mich unausstehlich finden.«

»Eher Letzteres«, murmelte Quinn.

Ein kleiner Junge mit traurigen Augen näherte sich ihnen. Er war höchstens fünf Jahre alt und hielt einen grauen Teddy im Arm. »Wisst ihr, wo meine Mom ist?«

»Nein, tut mir leid, Kleiner«, sagte Sam.

»Könnt ihr sie anrufen?« Seine Stimme bebte.

Sam schüttelte bedauernd den Kopf. »Das Telefon funktioniert nicht.«

»Nichts funktioniert mehr!«, schimpfte Quinn. »Rein gar nichts! Und wir sind ganz allein.«

Der kleine Junge unterdrückte ein Schluchzen, wandte sich ab und ging in Richtung Kita, den Teddy drückte er dabei fest an sich.

»Sie kommen zu dir, Sam«, sagte Astrid. »Sie erwarten, dass du etwas unternimmst.«

»Und was soll das sein? Außer Kekse essen, fällt mir nichts ein!«, brauste Sam auf.

»Rette sie, Sam!«, sagte Quinn verbittert. »Rette uns alle!«

Astrid ließ nicht locker. »Sie haben Angst, genau wie wir.« »Niemand sagt ihnen, was zu tun ist. Sie spüren, dass du ein Anführer bist. Sie blicken zu dir auf.«

»Ich bin kein Anführer. Ich hab auch Angst. Ich bin so ratlos wie sie.«

»Du wusstest, was zu tun war, als das Gebäude brannte«, entgegnete Astrid.

Sam sprang aus reiner Nervosität auf die Beine. Die Bewegung reichte aus, um Dutzende Kinder auf ihn aufmerksam zu machen. Sie sahen ihn erwartungsvoll an. Sam spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Selbst Quinn hatte diesen Blick in den Augen.

Sam fluchte leise. Dann sagte er gerade laut genug, um im Umkreis von ein paar Metern gehört zu werden: »Passt auf, wir müssen jetzt erst mal abwarten. Irgendwer wird herausfinden, was hier los ist, und uns holen kommen, okay?«

Zu seiner Verblüffung hörte er, wie seine Worte wiederholt und weitergesagt wurden, als hätte er gerade einen genialen Einfall gehabt.

»Ich muss meinen Bruder finden«, sagte Astrid.

»Wo könnte er denn sein?«, fragte Sam.

Astrid hob fragend die Schultern. In ihrer dünnen Bluse schien sie zu frieren. Sam wünschte, er hätte eine Jacke dabei, die er ihr umhängen konnte. »Dort, wo meine Eltern waren. Wie schon gesagt, vielleicht hat mein Dad ihn mit zur Arbeit genommen oder meine Mom war mit ihm in Clifftop, wo sie oft Tennis spielt.«

So hieß die Hotelanlage oberhalb der Bucht, in der Sam am liebsten Surfen ging. Er hatte das Hotel noch nie betreten und das Gelände kannte er auch nicht.

»Clifftop ist wahrscheinlicher«, sagte Astrid. »Würdet ihr mich dorthin begleiten?«

»Jetzt?«, fragte Quinn ungläubig. »Mitten in der Nacht?«

Sam zuckte die Achseln. »Besser als hier rumzusitzen. Vielleicht funktioniert ja dort ein Fernseher.«

Quinn seufzte. »Im Clifftop soll’s gutes Essen geben.« Er streckte eine Hand aus und ließ sich von Sam auf die Beine ziehen.

Sie bahnten sich einen Weg an den dicht beieinandersitzenden Kids vorbei. Einige riefen Sam etwas zu; andere wollten wissen, was passiert war, was sie tun sollten. Immer wieder fiel sein Name. Er schnappte einige Gesprächsfetzen auf: »Ich war damals auch in dem Bus.« Und: »Mann, ist einfach in das Gebäude gerannt.« Und: »Siehst du, er sagt, es wird alles okay.«

Der Krampf in seinem Bauch wurde schlimmer. Die kühle Nachtluft würde ihm guttun. Außerdem wollte er von diesen verängstigten Kindern weg, die ihn mit großen Augen ansahen, Erwartungen in ihn setzten.

Sie näherten sich Orcs Lager unter der Ampel. Das Feuer spuckte und zischte und schmolz ein Loch in den Asphalt. Aus einer mit Eis gefüllten Kühltasche ragte ein Sechserpack Bier. Einer aus Orcs Crew, ein Riesenkerl mit Babygesicht und dem Spitznamen Cookie, war grün im Gesicht. Er starrte benommen vor sich hin.

»Hey, wo wollt ihr hin?«, rief Howard ihnen zu.

»Spazieren gehen«, sagte Sam.

»Zwei doofe Surfer und ein Genie?«

»Ganz richtig. Wir wollen Astrid das Surfen beibringen. Was dagegen?«

Howard lachte und musterte Sam von oben bis unten. »Du denkst, du bist der große Macker, was? Schulbus-Sam. Mich beeindruckst du nicht.«

»Echt nicht, Howard? Dabei besteht mein ganzer Lebensinhalt allein darin, dich zu beeindrucken.«

Howard setzte eine schlaue Miene auf. »Ihr müsst uns was mitbringen.«

»Was soll das heißen?«

»Ich möchte nicht, dass Orcs Gefühle verletzt werden«, antwortete Howard. »Ich weiß zwar nicht, was ihr vorhabt, aber ich finde, dass ihr ihm was mitbringen solltet.«

Orc lümmelte breitbeinig in einem der geplünderten Stühle und schien nur am Rande zuzuhören. Doch als er jetzt den Mund auftat und »genau« grunzte, interessierten sich auf einmal noch ein paar aus seiner Crew für Sam. Ein großer, magerer Junge, der Panda genannt wurde, weil er so dunkle Ringe unter den Augen hatte, klopfte mit seinem Metallschläger drohend auf den Asphalt.

»Du bist also ’n großer Held, was?«, sagte Panda.

»Der Spruch ist langsam ausgelutscht«, erwiderte Sam.

»Aber nein, doch nicht Sammy!«, höhnte Howard. »Er würde nie denken, was Besseres zu sein als wir.« Er parodierte Sam während des Brandes. »Holt einen Schlauch, bringt die Kinder raus, macht dies, macht jenes, ich hab hier das Sagen, ich bin Sam, der Supersurfer.«

»Wir gehen jetzt«, sagte Sam.

»Na, na, na!«, rief Howard und deutete mit einer übertriebenen Geste zur Ampel. »Erst, wenn es grün ist.«

Einen angespannten Moment lang war Sam unschlüssig, ob er sich jetzt gleich auf diesen Kampf einlassen sollte, doch dann schaltete die Ampel um und Howard winkte sie lachend durch.

GONE Verloren
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