Einundzwanzig

129 Stunden, 34 Minuten

»Zeig mir deine Liste«, verlangte Howard. Er hatte es sich vor Ralphs Laden in einem Gartenstuhl bequem gemacht, seine Beine lagen ausgestreckt auf einem zweiten Stuhl und in den Händen hielt er einen DVD-Player, auf dem Spiderman3 lief.

»Ich habe keine Liste«, sagte Astrid.

Howard zuckte die Achseln. »Du brauchst aber eine. Ohne Liste kommt hier keiner rein.«

»Okay«, sagte Sam. »Hast du was zum Schreiben?«

»Zufälligerweise habe ich sogar was dabei.« Er zog einen kleinen Notizblock aus der Tasche seiner schlecht sitzenden Lederjacke und reichte ihn Astrid.

Sie schrieb alles auf und gab ihn Howard zurück.

»Vom Obst und Gemüse kannst du haben, so viel du willst. Das verdirbt schnell. Eiscreme ist fast weg, aber vielleicht gibt es noch Eis am Stiel.« Er warf Pete einen Blick zu. »Magst du Eis am Stiel, Pe-bilo?«

»Weiter im Text«, sagte Sam.

»Für Konserven oder Nudeln brauchst du aber von Caine, Drake oder einem seiner Hilfssheriffs eine Sondergenehmigung.«

»Was soll das heißen?«, wollte Astrid wissen.

»Dass du vom Salat, den Eiern, vom Feinkostkram und der Milch so viel nehmen kannst, wie du möchtest, weil das Verfallsdatum abläuft. Und dass wir bei Dosensuppen und so Zeug sparen, weil sie länger halten.«

»Okay«, erwiderte Astrid. »Das leuchtet ein.«

»Dasselbe gilt für Papierprodukte. Eine Rolle Klopapier pro Person. Also sparsam sein.« Er sah noch einmal auf die Liste. »Tampons? Welche Größe?«

»Halt’s Maul!«, fuhr Sam ihn an.

Howard lachte. »Na dann, rein mit euch! Aber ich schau mir nachher alles an. Was ich nicht durchgehen lasse, müsst ihr wieder zurückstellen.«

Der Laden war verwüstet. Bevor Caine eine Wache aufgestellt hatte, hatten sich die Kinder zwar vor allem bei den Snacks bedient, bei der Gelegenheit aber auch ganze Regale umgeworfen und die Türen der Tiefkühlschränke eingeschlagen. Auf dem Boden, der mit den Scherben übersät war, lag vergammelnde Ware.

Es roch wie auf einer Müllhalde. Fliegen schwirrten herum und es war dunkel, da die Deckenbeleuchtung nur noch teilweise funktionierte.

Lediglich die über ihren Köpfen hängenden Poster mit Sonderangeboten und Preissenkungen erinnerten noch an den alten Laden.

Sam nahm einen Einkaufswagen und Astrid hob den kleinen Pete in den Sitz.

»Vielleicht sollte ich einen Truthahn braten.« Astrid betrachtete das eigens für Thanksgiving arrangierte Angebot: Fertigteig für Kürbiskuchen, Hackfleisch, Preiselbeersoße, Marinaden, Füllungen.

»Hast du schon mal einen gemacht?«

»Die Anleitung steht garantiert im Internet.« Sie seufzte. »Irrtum. Vielleicht finde ich hier ja irgendwo ein Kochbuch.«

»Aber ohne Preiselbeersoße.«

Astrid nickte. »Keine Konserven.«

Sie packten Salatköpfe, Karotten und Kartoffeln in den Wagen. Sam ging hinter den Fleischtresen, holte ein paar Steaks aus dem Kühlfach und verpackte sie. Auf dem Fleisch, das seit dem Verschwinden des Metzgers auf dem Tresen liegen geblieben war, hockten fette schwarze Fliegen. Das Fleisch im Kühlfach schien jedoch in Ordnung zu sein.

»Sonst noch was, die Dame?«, fragte er.

»Ich nehme den Braten, da ihn anscheinend keiner will.«

Sam bückte sich und spähte in das Kühlfach. »Okay, ich geb’s auf. Welches Stück ist der Braten?«

»Das große.« Astrid tippte mit dem Finger auf die Scheibe. »Das kann ich einfrieren.«

»Selbstverständlich. Der Braten.« Sam hob das Fleisch heraus und klatschte es auf ein Wachspapier. »Dir ist klar, dass das halbe Kilo zwölf Dollar kostet?«

»Schreib’s an.«

Sie gingen weiter zu den Milchprodukten. Und dort stand auf einmal Panda. Er hielt seinen Baseballschläger einsatzbereit in den Händen und war sichtlich nervös.

»Du schon wieder?«, fuhr Sam ihn an.

Panda erwiderte nichts.

Astrid schrie auf.

Als Sam sich umwandte, erkannte er gerade noch Drake Merwin, bevor er an der Schläfe getroffen wurde und in ein Käseregal taumelte. Die Packungen flogen heraus und verteilten sich auf dem Boden.

Er sah einen Schläger heranzischen, versuchte ihn abzuwehren, doch in seinem Kopf drehte sich alles und sein Blick war verschwommen.

Der Schlag traf ihn in der Seite, seine Knie knickten ein und er ging zu Boden.

Wie von fern nahm er mehrere rasche Bewegungen wahr, vielleicht vier oder fünf Leute. Zwei von ihnen packten Astrid und drehten ihr die Arme auf den Rücken.

Jetzt hörte er die Stimme eines Mädchens, erkannte sie aber erst, als Panda sie beim Namen nannte: »Diana.«

»Packt seine Hände ein!«, befahl sie.

Sam wollte sich wehren, doch seine Muskeln gehorchten ihm nicht. Etwas wurde über seine rechte Hand gezogen, dann über seine linke. Kräftige Arme hielten ihn fest.

Als er endlich wieder klar sehen konnte, starrte er begriffsstutzig auf seine gefesselten Hände. Über beide war ein schlaffer Folienballon gezogen und mit Klebeband an seinen Handgelenken festgemacht worden.

Diana Ladris ging neben ihm in die Hocke und brachte ihr Gesicht auf seine Augenhöhe. »Die sind aus Mylar. Die Oberfläche reflektiert. An deiner Stelle würde ich meinen Glücksbringer lieber nicht einsetzen, Sam. Du würdest deine eigenen Hände rösten.«

»Was wollt ihr?«, lallte Sam.

»Dein Bruder will sich mit dir unterhalten.«

Sam war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Sein Bruder? Der einzige Mensch auf der Welt, den er Bruder nannte, war Quinn.

»Lasst Astrid gehen«, sagte er mit schwacher Stimme.

Drake gab ihm einen Tritt in den Rücken und drückte seinen Schläger auf Sams Kehlkopf. Genauso wie er es bei Orc getan hatte.

»Wenn du ein artiger kleiner Junge bist, krümmen wir deiner Freundin und ihrem behinderten Bruder kein Haar. Wenn nicht, nehme ich sie mir vor.«

Pete fuchtelte mit den Armen und schrie wie am Spieß.

»Er soll still sein!«, fuhr Drake Astrid an. »Sonst stopf ich ihm das Maul.« Danach wandte er sich an Howard und die anderen: »Schmeißt den großen Helden in einen Einkaufswagen.«

Sam wurde hochgehoben und in einen Wagen geworfen.

Howard schob ihn vorwärts. »Sammy, Sammy. Schulbus-Sam ist auf einmal Einkaufswagen-Sam, hmm?«

Drake beugte sich zu ihm herunter und das Letzte, was Sam sah, war ein Klebstreifen, der sich über seine Augen legte.

Sie fuhren ihn die Schnellstraße hinunter und quer durch die Stadt. Er spürte die Unebenheiten der Straße. Und er hörte das Gelächter und den Spott von Howard und Panda.

Sam versuchte, die Route zu erkennen und zu erraten, wo sie ihn hinbrachten. Nach einiger Zeit spürte er, dass es bergauf ging.

»Mann, ist der schwer«, stöhnte Howard. »Freddie, hilf mir mal!«

Eine Zeit lang kamen sie schneller voran, dann wurden sie wieder langsamer. Sam hörte sie schnaufen.

»Die da drüben, die hängen bloß rum. Sie sollen mit anpacken«, verlangte Freddie.

»Ja. Hey, du da! Komm her und hilf uns schieben!«

»Nein, Mann. Vergiss es.«

Quinn. Sams Herz machte einen Satz. Quinn würde ihm helfen.

Der Wagen hielt an.

»Was ist?«, sagte Howard. »Hast du Angst, dein Kumpel kommt dir auf die Schliche?«

»Halt’s Maul!«

»Sammy, wer, meinst du, hat uns geflüstert, dass du mit Astrid in den Laden wolltest? Hmmm?«

»Halt endlich das Maul, Howard!« Quinn klang verzweifelt.

»Und wer, meinst du, hat uns von deiner Kraft erzählt?«

»Ich wusste nicht, was sie vorhatten«, jammerte Quinn. »Ich hatte keine Ahnung, Bruder.«

Sam stellte fest, dass er nicht einmal überrascht war. Trotzdem verletzte ihn Quinns Verrat mehr als die Schläge, die er von Drake bekommen hatte. Er wollte ihn anschreien. Aber wenn er jetzt zu toben anfing, würde ihm das als Schwäche ausgelegt werden.

»Ich hatte keine Ahnung, Bruder, ich schwöre es!«

»Klar. Du dachtest, wir wollten bloß ein Treffen des Sam-Temple-Fanclubs abhalten.« Howard lachte über seinen eigenen Witz. »Komm endlich her und schieb mit.«

Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung.

Sam war übel. Quinn hatte ihn verraten. Astrid war Drake und Diana hilflos ausgeliefert. Und er konnte nichts dagegen tun.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie endlich anhielten. Der Wagen wurde ohne Vorwarnung zur Seite gekippt und Sam landete auf dem Boden. Er wälzte sich auf den Bauch und fing sofort an, seine verpackten Hände möglichst unauffällig auf dem Asphalt hin und her zu reiben, um das Mylar abzuschaben.

Der Tritt in seine Rippen nahm ihm die Luft weg.

»Hey!«, schrie Quinn. »Was soll das?«

Sam wurde an den Armen gepackt und hochgezogen.

Orcs Stimme ertönte: »Wenn du irgendeinen Blödsinn machst, schlag ich dich windelweich.«

Sie zerrten ihn eine Treppe hinauf. Danach wurde eine Tür lautstark geöffnet und sie betraten einen Raum, in dem das Echo ihrer Schritte von den Wänden hallte.

Sie hielten an. Eine weitere Tür ging auf. Sam wurde hindurchgezerrt, dann trat ihm Orc in die Kniekehlen und er fiel mit dem Gesicht voran zu Boden.

Orc setzte sich rücklings auf ihn drauf, packte ihn an den Haaren und riss seinen Kopf nach hinten.

»Nehmt ihm das Klebeband ab!«, befahl jemand.

Howard löste eine Ecke des Bands, klemmte es zwischen Daumen und Zeigefinger und riss es mitsamt einigen Haaren von Sams Augenbrauen herunter.

Sam wusste sofort, wo er war. Er lag in der Turnhalle seiner Schule. Vor ihm stand Caine. Er hielt die Arme über der Brust verschränkt und blickte mit einem höhnischen Gesichtsausdruck auf ihn herunter.

»Hey, Sam.«

Sam schaute sich rasch um. Panda, Howard, Freddie und Chaz bildeten einen Halbkreis um ihn herum und waren mit Baseballschlägern bewaffnet, während Quinn im Hintergrund betreten zu Boden sah.

»Gleich mit der ganzen Truppe, Caine? Ich muss gefährlich sein.«

Caine nickte nachdenklich. »Ich gehe gerne auf Nummer sicher. Außerdem hat Drake deine Freundin. An deiner Stelle würde ich also nichts versuchen. Drake ist ein gewalttätiger Junge, eindeutig gestört.«

Howard lachte.

»Lass ihn aufstehen!«, befahl Caine.

Orc stieg von Sams Rücken, rammte ihm aber vorher noch sein Knie in die Rippen. Sam richtete sich mit wackeligen Beinen auf, war jedoch froh, nicht mehr auf dem Boden liegen zu müssen.

Er nahm Caine in Augenschein. Seit ihrer ersten Begegnung auf der Plaza hatten sie einander immer nur flüchtig gesehen und nie mehr als ein paar Worte miteinander gewechselt.

Caine betrachtete ihn ebenfalls eindringlich.

»Was willst du von mir?«, fragte Sam.

Caine kaute kurz am Daumennagel, dann legte er seine Hände an die Seiten, fast so, als wollte er strammstehen. »Ich wünschte, wir könnten Freunde sein, Sam.«

»Gute Methode, sich Freunde zu machen. Muss ich mir merken.«

Caine lachte. »Siehst du? Du hast Sinn für Humor. Von deiner Mutter stammt das bestimmt nicht. Ich fand sie nie besonders witzig. Hast du das vielleicht von deinem Vater?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Nein? Warum nicht?«

»Du hast den Laptop meiner Mutter. Dazu noch ihre persönlichen Unterlagen. Und Quinn gibt dir auch bereitwillig Auskunft über mich. Was sollen die Fragen?«

Caine nickte. »Ja. Dein Vater verschwand kurz nach deiner Geburt. Dürfte nicht besonders beeindruckt von dir gewesen sein, hmm?« Als Caine über seinen eigenen Witz lachte, schlossen sich ein paar seiner Schleimer halbherzig an, obwohl sie keine Ahnung hatten, wovon die Rede war. »Na ja, sei nicht traurig. Zufällig ist mein biologischer Vater auch abgehauen. So wie meine Mutter.«

Darauf erwiderte Sam nichts. Seine gefesselten Hände waren taub geworden und er hatte Angst, wollte sich dies aber nicht anmerken lassen.

»Dein Vater macht sich aus dem Staub und du hast nie nachgehakt, warum? Interessant.« Caine lächelte. »Ich wollte immer schon wissen, wer meine echten Eltern sind.«

»Lass mich raten: Du bist in Wirklichkeit ein Zauberer und musstest bei fiesen Muggels aufwachsen?«

Caines Lächeln gefror zu einer Grimasse. Er hob seine Hand und kehrte sie nach außen. Eine unsichtbare Faust traf Sam mitten ins Gesicht, ließ ihn rückwärtstaumeln und hätte ihn beinahe zu Fall gebracht. Seine Nase begann zu bluten.

»Ja, so ähnlich«, sagte Caine.

Als er nun beide Hände ausstreckte, verlor Sam den Boden unter den Füßen und wurde in die Luft gehoben.

Dann krümmte Caine die Finger und ließ Sam aus einem Meter Höhe zu Boden fallen.

Sam stand langsam auf. Sein linkes Bein zitterte und er spürte einen brennenden Schmerz im Knöchel.

»Wir haben ein System, mit dem wir die Kraft messen«, fuhr Caine ungerührt fort. »Diana ist dahintergekommen, dass sie die Leute lesen kann, wenn sie ihre Hand hält. Sie spürt, wie stark sie sind. Sie beschreibt die Kraft wie ein Handysignal. Ein Balken, zwei Balken, drei Balken. Weißt du, was ich bin?«

»Verrückt?« Sam spuckte Blut aus, das in seinen Mund gelaufen war.

»Vier Balken, Sam. Ich bin von allen, die sie überprüft hat, der einzige Vierer. Ich könnte dich zur Decke fliegen lassen oder gegen die Wand schleudern.« Zur Verdeutlichung gestikulierte er mit den Händen, was wie ein Tanz aussah.

»Hör mal, Caine, meine Hände sind gefesselt, fünf deiner Bodyguards passen auf, und jetzt soll ich mich fürchten, weil du ein paar Zaubertricks auf Lager hast?« Sam sagte ganz bewusst fünf und nicht sechs, denn Quinn zählte nicht.

Caine bemerkte das und warf Quinn einen misstrauischen Blick zu. Quinn verhielt sich wie ein kleiner Junge, der nicht wusste, was er mit sich anfangen sollte.

»Und einer dieser fünf ist ein Mörder«, fuhr Sam fort. »Ein Mörder und ein Haufen Feiglinge. Tolle Gang, Caine.«

Caines Augen weiteten sich. Als er wütend die Zähne bleckte, flog Sam quer durch den Raum, als wäre er aus einem Katapult abgeschossen worden.

Die Turnhalle wirbelte um ihn herum. Er wurde in den Basketballkorb geschleudert, krachte mit dem Kopf gegen die Glasscheibe und fiel schließlich rücklings auf den Boden.

Gleich darauf wurde er von unsichtbaren Händen gepackt, die ihn mit der Kraft eines Tornados zurückzerrten und vor Caines Füße warfen.

Diesmal brauchte er länger, um wieder auf die Beine zu kommen. Zu seiner blutenden Nase gesellte sich das Blut aus einer Platzwunde an seiner Stirn.

»Einige von uns haben schon vor ein paar Monaten sonderbare Kräfte entwickelt«, sprach Caine seelenruhig weiter, als unterhielten sie sich freundlich. »Wir waren wie ein Geheimbund. Frederico, Andrew, Dekka, Brianna und noch ein paar Kids. Wir taten uns zusammen und entwickelten sie weiter. Haben einander ermutigt. Das ist der Unterschied zwischen uns und euch Städtern. Im Internat ist es schwer, ein Geheimnis zu wahren. Es war aber bald klar, dass meine Kräfte von einem ganz anderen Kaliber sind. Das, was ich gerade mit dir gemacht habe, kann sonst niemand.«

»Ja, das war cool«, forderte Sam ihn wankend heraus. »Schaffst du das noch einmal?«

»Er provoziert dich.« Diana war in den Raum gekommen und mochte offenkundig nicht, was sie sah.

»Er will nur beweisen, wie zäh er ist«, entgegnete Caine.

»Und das ist ihm gelungen. Zeit für Plan B.«

Caine knurrte. »Pass auf, wie du mit mir sprichst!«

Diana stolzierte durch die Halle und stellte sich mit verschränkten Armen neben Caine. Sie musterte Sam kopfschüttelnd. »Sam, du siehst ziemlich mitgenommen aus.«

»Er wird gleich noch viel schlimmer aussehen«, drohte Caine.

Diana seufzte. »Sam, hör zu, Caine will ein paar Antworten von dir.«

»Warum fragt er nicht Quinn?«

»Weil er die Antworten nicht kennt, du aber schon. Hier ist der Deal: Wenn du nicht auf seine Fragen eingehst, fängt Drake an, Astrid zu verprügeln. Nur zu deiner Info: Drake ist krank im Kopf. Das sage ich nicht, um dir Angst zu machen, sondern weil es so ist. Ich bin böse, Caine ist größenwahnsinnig, aber Drake ist ein Psychopath. Er bringt sie womöglich um. Und er fängt in fünf Minuten damit an. Es sei denn, ich gehe zu ihm, um ihn davon abzuhalten. Ticktack, die Zeit läuft.«

Sam schluckte Blut und Galle. »Was für Fragen?«

Diana verdrehte die Augen und blickte Caine an. »Siehst du, wie einfach das war?«

Erstaunlicherweise ließ Caine es zu, dass sie ihm auf der Nase herumtanzte. Er ist in sie verliebt, ging es Sam durch den Kopf.

»Erzähl mir von deinem Vater«, verlangte Caine.

Sam zuckte mit den Schultern. Die Bewegung war so schmerzhaft, dass er zusammenfuhr. »Ich hab ihn nie kennengelernt. Ich weiß nur, dass meine Mutter nicht über ihn sprechen wollte.«

»Deine Mutter. Schwester Temple.«

»Ja.«

»In deiner Geburtsurkunde steht sein Name. Er heißt Teagan Smith.«

»Okay.«

»Teagan. Ein sehr ungewöhnlicher Name. Sehr selten.«

»Na und?«

»Während Smith ausgesprochen gängig ist. Ein Name, den jemand wählen würde, der seinen richtigen Namen verheimlichen will.«

»Ich beantworte deine Fragen. Also lass Astrid gehen.«

»Teagan«, wiederholte Caine. »So steht es in der Geburtsurkunde. Mutter: Constance Temple. Vater: Teagan Smith. Geburtsdatum: 22.November. Uhrzeit: zehn Minuten nach Mitternacht. Regionalkrankenhaus Sierra Vista.«

»Du könntest mein Horoskop erstellen.«

»Das alles interessiert dich überhaupt nicht?«

Sam seufzte. »Mich interessiert, was hier abgeht. Warum die FAYZ da ist. Wie wir sie wieder wegkriegen oder aus ihr rauskommen. Auf der Liste mit den Dingen, die mich beschäftigen, steht mein biologischer Vater, der mir nie etwas bedeutet hat, ziemlich weit unten.«

»In fünf Tagen wirst du abdampfen, Sam. Interessiert dich das?«

»Lass Astrid gehen!«

»Mach weiter, Caine«, sagte Diana.

Caine grinste verächtlich. »Mich interessiert vor allem das Verschwinden. Willst du wissen, warum? Weil ich nicht sterben möchte. Ich will aber auch nicht mein altes Leben zurückhaben. Mir gefällt es hier in der FAYZ.«

»Denkst du, dass das passiert? Mit fünfzehn kehren wir in unsere alte Welt zurück?«

»Ich stell hier die Fragen!«, fauchte Caine ihn an.

»Lass Astrid endlich gehen!«

»Die Sache ist die«, fuhr Caine langsam fort. »Du und ich, wir haben etwas gemeinsam. Wir wurden im Abstand von nur drei Minuten geboren.«

Sam spürte, wie es ihm eiskalt über den Rücken lief.

»Drei Minuten.« Caine trat näher an Sam heran. »Du gehst zuerst. Dann ich.«

»Nein«, entgegnete Sam. »Das ist nicht möglich.«

»Ist es doch«, sagte Caine. »Denn du bist mein Bruder.«

Die Tür flog auf. Drake Merwin stürmte in die Turnhalle. Er blickte sich hektisch um. »Sind sie hier?«

»Wer?«, wollte Diana wissen.

»Na, wer wohl? Die Blonde und ihr behinderter Bruder.«

»Du hast die beiden laufen lassen?« Caine vergaß Sam einen Augenblick lang.

»Ich hab sie nicht laufen lassen. Sie waren mit mir in einem Zimmer. Das Mädchen hat mich genervt, da hab ich sie geohrfeigt. Und plötzlich waren sie nicht mehr da.«

Caine warf Diana einen fragenden Blick zu.

»Nein«, sagte sie. »Bis zu ihrem fünfzehnten Geburtstag dauert es noch Monate. Und ihr kleiner Bruder ist erst vier.«

»Wie dann?« Caine runzelte die Stirn. »Die Kraft?«

Diana schüttelte den Kopf. »Auf dem Weg hierher habe ich Astrid noch einmal gelesen. Sie erreicht nicht einmal zwei Balken. Sie kann bestimmt nicht zwei Leute teleportieren.«

Die Farbe wich aus Caines Gesicht. »Der Behinderte?«

»Er lebt ganz und gar in seiner eigenen Welt«, protestierte Diana.

»Hast du ihn gelesen?«

»Er ist doch nur ein kleiner autistischer Junge. Warum sollte ich das tun?«

Caine wandte sich an Sam. Er hob drohend die Hand. Sein Gesicht war wenige Zentimeter von Sams entfernt. Er schrie ihn an: »Was weißt du davon?«

»Ich weiß nur, dass es mir Spaß macht, deine Angst zu sehen.«

Die unsichtbare Faust warf Sam auf den Rücken.

Zum ersten Mal sah Diana besorgt aus. Ihre kalte Überheblichkeit war wie weggeblasen. »Taylor war bis jetzt die Einzige, die sich teleportieren konnte. Oben in Coates. Aber sie konnte gerade mal den Raum durchqueren. Sie war eine Drei. Wenn der kleine Pete sich und seine Schwester durch Wände beamt…«

»… könnte er eine Vier sein«, vollendete Caine den Satz leise.

»Ja, er könnte eine Vier sein.« Beim Wort »Vier« sah Diana Sam an. »Oder mehr.«

»Orc, Howard!«, rief Caine. »Sperrt Sam ein, bindet ihn fest! Er darf das Mylar nicht von den Händen bekommen. Danach holt Freddie, damit er euch hilft. Er weiß, was zu tun ist. Besorgt euch aus der Eisenwarenhandlung, was ihr braucht.« Er packte Drake hart an der Schulter. »Finde Astrid und den Jungen!«

»Wie soll ich sie denn einfangen, wenn sie sich einfach wegbeamen können?«

»Ich hab nichts von Einfangen gesagt. Nimm eine Kanone! Erschieß sie, bevor sie dich sehen!«

Sam stürzte sich auf Caine und brachte ihn zu Fall, ehe er reagieren konnte. Er nagelte ihn mit seinem Körpergewicht fest und ließ seine Stirn auf Caines Nase krachen, sodass er benommen liegen blieb. Drake und Orc sprangen herbei und traten Sam von Caine herunter.

Sam stöhnte vor Schmerz. »Du kannst Leute nicht einfach umbringen, Caine!«

»Du hast meiner Nase wehgetan«, erwiderte Caine.

»Du bist total gestört, Mann. Du brauchst Hilfe. Du bist ja wahnsinnig.«

Caine berührte seine Nase und verzog vor Schmerzen das Gesicht. »Das hab ich schon öfter gehört. Das hat mir auch Schwester Temple – unsere Mom – gesagt. Sei froh, dass ich dich noch brauche. Ich will zusehen, wie du verschwindest. Vielleicht finde ich so heraus, wie ich es bei mir verhindern kann. Orc, schaff den Helden raus! Drake, geh jetzt!«

»Drake, wenn du ihnen auch nur ein Haar krümmst, finde ich dich!«, schrie Sam. »Und dann bring ich dich um!«

»Spar dir deine Worte«, meinte Diana trocken. »Du kennst Drake nicht. Deine Freundin ist so gut wie tot.«

GONE Verloren
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