Dreiundzwanzig

128 Stunden, 22 Minuten

Astrid saß auf ihrem Bett. In ihrem Zimmer.

Der kleine Pete hockte im Schneidersitz auf seinem Fensterplatz, einer kleinen Bank vor dem Fenster in Astrids Zimmer, und spielte seelenruhig mit dem Gameboy.

Astrid wusste, was geschehen war, aber sie fand es dennoch unfassbar. Eben war sie noch in der Schule gefangen gehalten worden, eine Sekunde später fand sie sich in ihrem Zimmer wieder.

»Danke, Pete«, flüsterte sie.

Doch jetzt musste sie überlegen. Und zwar schnell.

Drake würde sich auf die Suche nach ihnen machen. Caine und diese niederträchtige Diana würden nicht lange brauchen, um dahinterzukommen, was geschehen war.

Drake würde nur wenige Sekunden benötigen, um zu ihnen zu laufen und ihnen alles zu erzählen. Noch ein paar Sekunden und Caine hätte begriffen, wie es dazu gekommen war. Wenn Diana tatsächlich die Kraft eines Menschen messen konnte, wusste sie jetzt, dass nicht Astrid, sondern Pete sie teleportiert hatte.

Sie mussten schleunigst weg von hier. Aber wohin?

An einen Ort, wo Drake sie nicht suchen würde, auf den Sam aber kommen könnte.

Falls es ihm gelungen war zu fliehen.

Falls er noch am Leben war.

»Denk nach, blöde Kuh!«, befahl sie sich selbst. »Das ist alles, was du kannst.«

Sie konnten nicht durch die Stadt laufen. In einem Auto konnten sie auch nicht fliehen – um sich auf die Schnelle das Fahren beizubringen, war es jetzt zu spät.

Clifftop.

Das Zimmer, in dem sie die erste Nacht verbracht hatten.

Ja. Darauf würde Sam kommen. Doch Quinn womöglich auch. Er war schließlich mit ihnen dort gewesen.

Astrid zögerte. Dafür war keine Zeit. Drake würde nicht zögern. Er war ihnen sicher schon auf den Fersen. Er war auf dem Weg hierher.

Die Vorstellung, diesem Scheusal noch einmal zu begegnen, war unerträglich.

»Pete, wir müssen los!« Astrid nahm seine Hand und zog ihn mit sich. Sie gingen die Treppe hinunter. Jetzt kam es auf jede Sekunde an.

Zur Vordertür. Nein. Besser durch den Hinterausgang.

Den Garten durchquerten sie noch im Schritttempo – Pete ließ sich nur selten zur Eile antreiben und auch dann nur ungern. Der Holzzaun war nicht sehr hoch, trotzdem kostete es Mühe und vor allem Zeit, Pete dazu zu bringen, auf die andere Seite zu klettern. Durch den Nachbarsgarten gelangten sie schon schneller.

»Meide die Straßen!«, sagte sie sich.

Sie liefen so weit wie möglich von Garten zu Garten. Ab und zu waren sie gezwungen, auf die Straße auszuweichen, kehrten dann aber bei der ersten Möglichkeit wieder in die Gärten und Durchgänge zurück.

Es war niemand zu sehen. Aber woher wollte sie wissen, dass sie nicht beobachtet wurden?

Als sie den Hügel am Stadtrand und den Rand des Clifftop-Geländes erreicht hatten, stiegen sie durch den Sand und im Schutz des dort wachsenden Gestrüpps nach oben. Astrid versuchte verzweifelt, ihren Bruder zur Eile anzutreiben, und war sich zugleich bewusst, dass sie ihn nicht in Alarmstimmung versetzen durfte.

Clifftop war unverändert. Die Barriere war immer noch da. Die Lobby war sauber, von Licht durchflutet und leer wie beim letzten Mal.

Astrid hatte den elektronischen Generalschlüssel vom ersten Abend bei sich. Sie fand die Suite, schloss die Tür auf und ließ sich erschöpft auf das Bett fallen.

»Wo willst du hin?«, fragte Quinn argwöhnisch.

Sie liefen nebeneinanderher, ohne richtig zu rennen, eher in einem auf Ausdauer bedachten Joggingtempo.

Sam nahm den direkten Weg durch die Stadt, als kümmerten ihn keine möglichen Verfolger.

»Zu Astrid, bevor Drake sie findet.«

»Dann sollten wir zuerst bei ihr zu Hause nachschauen.«

»Nein. Das Gute an einem Genie ist, dass man nicht befürchten muss, es könnte das Falsche tut. Sie weiß, dass sie nicht dort bleiben darf.«

»Wohin würde sie gehen?«

Sam dachte kurz nach. »Zum Kraftwerk.«

»Zum Kraftwerk?«

»Ja. Deshalb nehmen wir uns ein Boot und fahren die Küste rauf.«

»Okay. Aber, Bru…, ich meine, Alter, sollten wir nicht etwas vorsichtiger sein?«

Sam gab ihm keine Antwort. Einer der Gründe, warum er geradewegs durch die Stadt lief und keinen Umweg durch die Seitenstraßen nahm, war Edilio. Er hoffte, ihn in der Feuerwehrzentrale anzutreffen. Der andere war, dass er Quinn zutraute, ihn bei der ersten Gelegenheit wieder zu verraten.

Außerdem hatte Sam intuitiv begriffen, dass er taktisch vorgehen musste. Caine hatte mehr Macht, also musste Sam schneller sein. Je länger er das Spiel andauern ließ, umso größer wurden Caines Chancen zu gewinnen.

Sie erreichten die Zentrale. Edilio saß bei laufendem Motor im Einsatzwagen. Als er Sam und Quinn erblickte, lehnte er sich aus dem Fenster. »Gutes Timing, Mann. Ich probier die Karre jetzt mal aus, mach eine…« Er sah die Blutspuren in Sams Gesicht und verstummte.

»Edilio, komm! Wir müssen los!«

»Okay, ich hol nur rasch…«

»Nein, jetzt gleich. Drake ist auf der Suche nach Astrid. Er will sie umbringen.«

Edilio sprang vom Einsatzwagen. »Wohin?«

»Zum Jachthafen. Wir nehmen ein Boot. Ich glaube, Astrid will zum Kraftwerk.«

Sie liefen zur Plaza. Orc und Howard waren bei Caine in der Schule. Drake befand sich auf dem Weg zu Astrids Haus. Sie würden unterwegs bestimmt ein paar von Caines Leuten begegnen, doch die konnten noch nicht Bescheid wissen und bereiteten Sam keine allzu großen Sorgen.

Als sie am Rathaus vorbeikamen, sahen sie Holzhammer, der mit einem anderen Coates-Schüler auf der Treppe rumhing. Die beiden warfen ihnen einen Blick zu, ließen sie aber ungehindert weiterlaufen.

Der Jachthafen von Perdido Beach war ziemlich klein. Er bestand aus vierzig Anlegestellen, von denen die Hälfte unbesetzt war, einem Trockendock und der baufälligen, vor sich hin rostenden ehemaligen Konservenfabrik, in der seit Langem eine Reparaturwerkstatt für Boote untergebracht war. Etliche Boote lagen auf dem Trockenen. Auf ihren Blöcken wirkten sie ungeschützt, so als könnten sie vom erstbesten Windstoß umgeworfen werden.

Es war kein Mensch zu sehen, niemand, der sich ihnen in den Weg stellte.

»Welches nehmen wir?« Sam hatte sein erstes Ziel erreicht, aber von Booten verstand er nichts. Er schaute Edilio fragend an, der zuckte jedoch bloß die Achseln. »Also gut. Wir brauchen eins für fünf Personen. Ein Motorboot. Mit einem vollen Tank. Quinn, du gehst die Boote auf der rechten Seite durch, Edilio, du prüfst die auf der linken. Ich fange am Ende des Stegs an. Los!«

Sie teilten sich auf und liefen die Boote ab. Bei denen, die infrage kamen, sprangen sie an Bord, hielten nach Schlüsseln Ausschau und versuchten, den Benzinstand festzustellen, während ihnen die Zeit davonrannte.

Sam sah Drake in Gedanken vor sich, wie er Astrids Haus betrat. Mit einer geladenen Pistole in der Hand. Er musste damit rechnen, dass Astrid und der kleine Pete sich wieder wegbeamen würden, deshalb würde er sich anschleichen. Drake konnte nicht wissen, dass Pete keine Kontrolle über seine Kräfte hatte.

Das war gut.

Auf einmal zerriss das Dröhnen eines anspringenden Motors die Stille. Sam war mit einem Satz wieder auf dem Steg und raste zurück. Quinn saß in einem Boston Whaler, einem eher kleinen und offenen Motorboot, und blickte ihm stolz entgegen.

»Der Tank ist voll!«, rief er über das Tuckern des Motors hinweg.

»Gut gemacht, Mann!« Sam schwang sich über die Reling. »Edilio, mach die Leinen los!«

Edilio löste in aller Eile die Leinen von den Klampen und sprang ebenfalls an Bord. »Nur damit du’s weißt: Ich werde leicht seekrank.«

»Das dürfte momentan unser geringstes Problem sein«, meinte Sam.

»Ich hab den Motor angeworfen, aber keine Ahnung, wie man das Ding fährt«, sagte Quinn.

»Ich auch nicht«, gestand Sam. »Aber so schwierig wird das ja wohl nicht sein.«

Auf einmal ertönte Orcs donnernde Stimme. »Hey, ihr da! Wehe, ihr legt ab!«

Orc, Howard und Panda hatten den Steg erreicht.

»Das war Holzhammer«, sagte Sam. »Er hat uns vorhin gesehen.«

Die drei Schlägertypen fingen an zu rennen.

Sam musterte hektisch die Steuerungsanlage. Der Motor tuckerte, das Boot war losgemacht und trieb vom Steg weg, es war allerdings immer noch viel zu nah dran. Selbst Orc könnte problemlos aufspringen.

»Da, der Gashebel!« Edilio deutete auf einen Hebel mit rotem Rand. »Damit bringst du die Maschine auf Touren.«

»Okay. Festhalten!«

Sam verschob den Hebel um eine Kerbe. Das Boot machte einen Satz nach vorne und krachte in mehrere Pfähle. Sam wäre durch den Aufprall beinahe umgefallen. Edilio griff nach der Reling und klammerte sich daran fest. Quinn landete auf seinem Hintern und blieb sitzen.

Der Bug schrammte an den Pfählen vorbei und peilte mehr durch Zufall offenes Gewässer an.

»Fahr erst mal langsam«, meinte Edilio.

»Stopp! Halt das Boot an!«, schrie Orc. Er kam stampfend und außer Atem den Steg entlanggelaufen. »Ich mach dich fertig!«

Sam drehte das Steuerrad und fuhr langsam davon. Den jetzigen Abstand würde Orc nicht mehr überwinden können.

»Caine bringt dich um!«, schrie Panda.

Und Howard rief: »Quinn, du Verräter!«

Sam wandte sich an Quinn. »Sag ihnen, ich hab dich gezwungen.«

»Was?«

»Mach schon!«

Quinn stand auf, formte die Hände zu einem Trichter und schrie: »Er hat mich dazu gezwungen!«

»Und jetzt sagst du ihnen noch, dass wir zum Kraftwerk wollen.«

»Aber…«

»Na los! Und zeig in die Richtung.«

»Wir fahren zum Kraftwerk!«, schrie Quinn und deutete nach Norden.

Sam ließ das Steuerrad los, wirbelte herum und verpasste ihm einen Kinnhaken. Quinn fiel wieder auf seinen Hintern.

»Spinnst du?«

»Damit es echt aussieht.« Eine richtige Entschuldigung war das aber nicht.

Das Boot hatte den Hafen verlassen und glitt aufs offene Meer hinaus. Sam schob den Hebel eine Kerbe weiter und steuerte in Richtung Kraftwerk.

»Was hast du vor?« Edilio war erschrocken einen Schritt zurückgewichen, nur für den Fall, dass Sam ihm auch eine reinhauen wollte.

»Sie ist nicht im Kraftwerk«, sagte Sam. »Sie ist im Clifftop. Wir fahren nur so lange nach Norden, bis wir aus Orcs Blickfeld sind.«

»Du hast mich angelogen«, warf Quinn ihm vor. Er fingerte an seinem Kinn herum, um sicherzugehen, dass sein Unterkiefer noch dran war.

»Ja.«

»Du hast mir nicht vertraut.«

Orc, Howard und Panda waren nicht mehr zu sehen. Wahrscheinlich rannten sie zurück in die Stadt, um Caine Bericht zu erstatten. Als Sam Gewissheit hatte, dass sie außer Sichtweite waren, drehte er das Steuerrad herum, schob den Hebel bis zum Anschlag und bretterte in Richtung Süden.

Drake wohnte in einem Haus gleich neben der Plaza und gerade einmal eine Minute vom Rathaus entfernt. Es hatte einem alleinstehenden Mann gehört und war mit nur zwei Schlafzimmern eher klein, dafür aber sehr gepflegt und ordentlich, so wie Drake es mochte.

Der Eigentümer, dessen Name Drake entfallen war, hatte insgesamt drei Waffen in seinem Haus aufbewahrt: eine Bockbüchsflinte Kaliber20, eine Repetierbüchse Kaliber30–06 mit Sucher und eine halb automatische 9-mm-Pistole von Glock.

Die Waffen waren geladen und lagen aufgereiht auf dem Esszimmertisch, wo er sie, wann immer ihn die Lust überkam, entzückt betrachten konnte.

Zuerst griff er nach dem Jagdgewehr. Der Schaft war spiegelglatt und auf Hochglanz poliert. Seine Nase sog den Geruch von Stahl und Schmieröl ein. Dennoch zögerte er. Er hatte noch nie einen Gewehrschuss abgefeuert und war sich auch nicht sicher, wie man mit dem Sucher umging.

Er legte sich den Lederriemen um und prüfte die Bewegungsfreiheit seiner Arme. Das Gewehr war schwer und eine Spur zu lang, die gepolsterte Schulterstütze reichte bis zu seinem Oberschenkel, doch es würde gehen.

Dann hob er die Pistole auf. Er umfasste den geriffelten Kolben und legte einen Finger auf den Abzug. Drake liebte es, diese Pistole in der Hand zu halten.

Sein Vater hatte ihm mit seiner Dienstwaffe das Schießen beigebracht. Drake erinnerte sich noch gut daran, als er zum ersten Mal die Patronen in das Magazin drückte, das Magazin in den Kolben der Pistole schob und den Schieber zurückzog, um sie zu laden. Und an das Klicken der Sicherung.

Klick. Sicher.

Klick. Tödlich.

Sein erster Schuss hatte das Ziel weit verfehlt.

Beim zweiten war es nicht viel besser gewesen, denn nachdem er erstmals den Rückstoß gespürt hatte, war er vor Aufregung vorzeitig zusammengezuckt.

Die dritte Kugel flog in die untere Ecke der Zielscheibe.

An jenem Tag hatte er eine ganze Schachtel Munition verballert, und als er fertig war, traf er alles, worauf er zielte.

Drake war überzeugt davon, nicht mehr als einen Schuss zu benötigen, um Astrid zu töten.

Er erinnerte sich noch bis ins kleinste Detail daran, wie es war, als er mit einem Kleinkalibergewehr auf den Nachbarsjungen Holden geschossen hatte, der ständig zu ihm rübergekommen war und ihn genervt hatte. Die Kugel durchschlug zwar nur den Oberschenkel, der Junge wäre aber trotzdem fast gestorben. Dieser »Unfall« war Drakes Ticket nach Coates gewesen.

Die 9-mm-Glock reichte nicht an die Schlagkraft der 45er Smith & Wesson seines Vaters heran, doch sie war im Vergleich zu dem Gewehr, mit dem er auf Holden geschossen hatte, die eindeutig bessere Waffe.

Zwei Schuss würden reichen. Einen für die hochnäsige Blonde, einen für die Missgeburt. Das wäre cool. Er würde zurückkehren und Caine berichten: »Zwei Ziele, zwei Kugeln.« Und Diana würde ihr überhebliches Grinsen zur Abwechslung mal vergehen.

Astrids Haus war nicht weit entfernt. Er musste aber dafür sorgen, dass er sie erwischte, bevor ihr kleiner Bruder die Gelegenheit hatte, seine Kraft einzusetzen und sie verschwinden zu lassen.

Drake hasste die Kraft. Es gab nur einen Grund, warum Caine und nicht Drake das Kommando hatte: Caines Kraft.

Aber wenigstens hatte Caine eingesehen, dass die Kräfte-Kids kontrolliert werden mussten. Und wenn Caine und Diana die Freaks erst mal unter Kontrolle hatten, würde nichts und niemand Drake daran hindern können, seine eigenen 9-mm- Magie einzusetzen, um das Blatt zu wenden.

Doch schön der Reihe nach.

Dreißig Meter von Astrids Haus entfernt blieb er stehen. Er beobachtete die Fenster und hielt nach einer Bewegung Ausschau, die ihm verriet, wo sie sich aufhielt.

Als sich nichts tat, schlich er um den Neubau herum zur hinteren Veranda. Die Tür war abgeschlossen. Leute, die ihre Hintertür abschlossen, versperrten auch ihre Vordertür. Vielleicht aber nicht ihre Fenster. Er sprang auf das Geländer der Veranda und lehnte sich nach außen, um an eine der Glasscheiben zu gelangen. Sie ließ sich problemlos hochschieben. Nicht ganz so einfach war es, möglichst lautlos einzusteigen.

Er benötigte zehn Minuten, um sich die Zimmer der Reihe nach vorzunehmen, in jeden Schrank zu schauen und unter jedes Bett, hinter sämtliche Vorhänge und schließlich noch in alle Winkel im Dachgeschoss.

Kurz wurde er panisch. Astrid konnte überall sein. Er würde wie ein Idiot dastehen, wenn er sie nicht erwischte.

Wo würde sie hingehen?

Er sah in der Garage nach. Nichts. Keine Autos und schon gar keine Astrid. Dafür aber ein Rasenmäher. Und wenn es einen Rasenmäher gab, dann gab es auch… Wer sagt’s denn? Einen Benzinkanister.

Er malte sich aus, wie es wäre, wenn sich Astrid und die Missgeburt in ein brennendes Gebäude zurückbeamten.

Drake schraubte den Kanister auf, ging damit in die Küche und zog eine Benzinspur von den Ablageflächen ins Wohnzimmer, bespritzte die Polstermöbel und ließ die Spur weiter durchs Esszimmer und über den Tisch laufen. Den Rest schüttete er auf die Gardinen.

Als er kein Streichholz finden konnte, riss er ein Stück von der Küchenrolle ab und zündete es am Gasherd an. Er kehrte ins Esszimmer zurück, schleuderte das brennende Papier auf den Tisch und verließ das Haus durch die Vordertür, ohne sich die Mühe zu machen, sie hinter sich zu schließen.

»Ein Ort weniger, an dem sie sich verstecken kann«, murmelte er zufrieden.

Er rannte zur Plaza und die Stufen zur Kirche hinauf. Die Kirche hatte einen Turm. Er war nicht sehr hoch, aber von dort aus hätte er eine ziemlich gute Aussicht.

Drake erklomm hastig die Wendeltreppe, stieß eine Luke auf und kletterte in einen engen und staubigen Raum voller Spinnweben, der fast gänzlich von der Glocke eingenommen wurde. Er vermied es, gegen sie zu stoßen – ihr Klang wäre weithin zu hören gewesen.

Die Fenster bestanden aus schrägen Holzschlitzen, durch die Luft hereindrang und der Glockenklang verstärkt wurde, die den Blick aber nur nach unten freigaben. Er holte mit dem Gewehrkolben aus und schlug eine der Holzleisten aus dem Rahmen. Sie brach heraus und segelte nach unten.

Auf der Plaza hoben ein paar Kids die Köpfe und sahen hoch. Sollten sie ruhig. Er stieß die restlichen drei Leisten heraus und ließ sie ebenfalls herunterfallen. Jetzt hatte er in alle Richtungen freie Sicht über die Dächer von Perdido Beach.

Er fing mit Astrids Haus an, aus dem bereits Rauch aufstieg, und arbeitete sich methodisch vor – ein Jäger, der nach jeder noch so unscheinbaren Bewegung Ausschau hielt. Sobald er jemanden zu Fuß oder auf dem Rad erspähte, schaute er durch den Sucher des Gewehrs und nahm die Person ins Fadenkreuz. Er fühlte sich wie Gott. Er musste bloß auf den Abzug drücken.

Aber keine dieser ahnungslosen Gestalten war Astrid. Ihre blonden Haare würden ihm nicht entgehen. Nein. Weit und breit keine Astrid.

Als er schon aufgeben wollte, fiel sein Blick auf den Jachthafen. Dort tat sich irgendetwas.

Drake stellte den Sucher scharf und hatte mit einem Mal Sam Temple im Visier. Einen Moment lang lag das Kreuz auf seiner Brust, doch dann war er plötzlich verschwunden. Er war auf ein Boot gesprungen.

Unmöglich. Caine hatte Sam zur Schule bringen lassen. Wie war er entkommen?

In dem Boot, das sich langsam vom Pier entfernte und eine schäumende Spur hinter sich herzog, befanden sich außerdem Edilio und Quinn.

Quinn. Das war des Rätsels Lösung. Er musste Sam geholfen haben.

Den würde sich Drake auch noch vornehmen.

Orc stand schreiend auf dem Steg und schwang seinen Schläger, konnte jedoch nichts ausrichten. Das Boot gewann an Geschwindigkeit, fuhr einen Bogen nach Norden und hinterließ auf dem Wasser eine lange weiße Spur, die wie ein Richtungsweiser aussah.

Sam machte sich also auf die Suche nach Astrid. Und er fuhr nach Norden.

Das Kraftwerk.

Drake fluchte. Eine Sekunde lang spürte er wieder diese beklemmende Angst, Caine als Versager gegenübertreten zu müssen. Nicht, weil er sich vor Caine fürchtete – der Junge brauchte ihn schließlich noch–, sondern weil Diana ihn auslachen würde.

Drake nahm das Gewehr von der Schulter. Wie konnte er das Kraftwerk vor Sam erreichen? Selbst wenn er ein Boot nahm, müsste er ihn erst einmal einholen. Ein Auto? Das könnte vielleicht klappen. Doch er kannte den Weg nicht, und mit einem Boot könnte er direkt darauf zusteuern. Dazu müsste er allerdings erst zum Jachthafen und das würde zu lange dauern… Aber Moment mal!

Das Boot machte kehrt.

»Ganz schön clever, Sam«, flüsterte Drake. »Aber nicht clever genug.«

Sams Gesicht war im Sucher gerade noch sichtbar. Er stand am Steuer, der Wind wehte seine Haare nach hinten, er war Caine entwischt, hatte Orc ausgetrickst und musste sich jetzt, da er Kurs auf Süden nahm, seiner Sache ziemlich sicher sein.

Aus dieser Entfernung würde Drake ihn nicht treffen. Er schwenkte den Sucher in Richtung Süden und stieß sehr bald auf die Barriere. Sam konnte also nicht mehr weit fahren.

Der Strand am Fuß der Klippen? Wenn sie dort unten war, wäre Sam auf jeden Fall vor ihm da. Das Spiel wäre aus. Aber falls nicht… Wenn sie zum Beispiel oben im Hotel war? Dann hatte er eine Chance, vorausgesetzt, er beeilte sich.

Die Vorstellung, sie vor Sams Augen niederzuschießen, jagte ihm einen wohligen Schauer über den Rücken.

GONE Verloren
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