Vierzehn

255 Stunden, 42 Minuten

Auf der Plaza ließen sich Sam, Astrid, Quinn und Edilio erschöpft ins Gras fallen. Pete blieb stehen und spielte selbstvergessen auf seinem Gameboy, so als wäre ein Nachtmarsch von zwanzig Kilometern nicht mehr als ein kurzer Spaziergang. Die aufgehende Sonne kam gerade hinter den Bergen hervor und sandte ihre ersten Strahlen auf den viel zu ruhigen und viel zu glatten Ozean.

Das Gras war nass vom Tau. Sam spürte die Feuchtigkeit durch sein Hemd dringen. Er dachte noch, hier würde er niemals einschlafen können, dann war er schon weggetreten.

Als er wach wurde, blendete ihn die Sonne. Er setzte sich auf und sah sich blinzelnd um. Der Platz war voller Kinder, nur seine Freunde waren nirgends zu sehen. Wahrscheinlich hatten sie sich auf die Suche nach Essbarem gemacht. Er war auch hungrig.

Als er aufstand, bemerkte er, dass sich alle Leute in Richtung Kirche bewegten.

Er schloss sich ihnen an und fragte ein Mädchen, das er kannte, was los sei.

Es zuckte die Achseln. »Ich laufe nur den anderen nach.«

Sam ging weiter, bis die Menge immer dichter wurde. Er sprang auf die Rückenlehne einer Parkbank, suchte das Gleichgewicht und spähte über die Köpfe der Menge hinweg.

Vier Autos kamen von der Alameda Avenue auf die Plaza zugefahren. Langsam und hintereinander wie in einem Konvoi. Die eindrucksvolle Wirkung wurde noch dadurch verstärkt, dass der dritte Wagen ein Cabrio mit offenem Verdeck war. Die Autos waren allesamt dunkle, große und teure Fahrzeuge. Den Abschluss bildete ein schwarzer SUV. Sie hatten die Scheinwerfer eingeschaltet.

»Kommt uns jemand retten?«, rief ein Fünftklässler Sam hoffnungsvoll zu.

»Ich sehe keine Polizei, also eher nicht. Du solltest vielleicht nicht zu weit nach vorne gehen.«

»Sind es Außerirdische?«

»Wenn es Außerirdische wären, würden sie in Raumschiffen kommen und nicht in BMWs.«

Der Konvoi erreichte die Plaza und hielt vor dem Rathaus.

Aus den Autos stiegen Kinder. Die Jungen hatten schwarze Hosen und weiße Hemden an, die Mädchen schwarze Faltenröcke und dazu passende Kniestrümpfe. Alle trugen einen Blazer in einem unaufdringlichen Rot und mit einem direkt über dem Herzen aufgenähten Wappen. Mädchen wie Jungen hatten rot, schwarz und golden gestreifte Krawatten um.

Auf dem Wappen waren ein goldener Adler und ein Puma zu erkennen und darüber in kunstvoller Goldstickerei die Buchstaben C und A. Unter dem Wappen stand das Motto der Coates Academy: Ad augusta, per angusta. Durch die Enge zum Erhabenen.

»Das sind Coates-Schüler«, sagte Astrid. Sie hatte sich mit Pete und Edilio zu ihm gesellt. Sam sprang von der Bank.

»Gut einstudierter Auftritt«, meinte Astrid, als könnte sie Sams Gedanken lesen.

Als die Coates-Schüler aus den Autos gestiegen waren, wich die Menge intuitiv einen Schritt zurück. Zwischen den Kindern der Stadt, die sich als normal betrachteten, und den Schülern der Coates Academy, mit denen in der Regel etwas nicht stimmte, obwohl die Academy dies zu verbergen versuchte, herrschte seit jeher Rivalität.

Coates war eine dieser Privatschulen, in die die Reichen ihre Kinder schickten, wenn sie von anderen Schulen als »schwierig« eingestuft wurden.

Die Coates-Schüler nahmen in einer Reihe Aufstellung, als hätten sie auch das vorher geprobt.

»Wie beim Militär«, murmelte Astrid.

In dem Cabrio stand ein Junge auf, der anstelle des roten Blazers einen gelben Pullover mit V-Ausschnitt trug. Er sah gut aus, das fiel sogar Sam auf. Das Gesicht des Jungen schien von innen her zu leuchten. Er strahlte Selbstvertrauen aus, ohne arrogant oder herablassend zu wirken.

»Hi, allerseits«, sagte er. »Ich heiße Caine Soren. Ihr könnt euch wahrscheinlich denken, dass ich … dass wir von der Coates Academy sind. Oder dass wir alle den gleichen miesen Klamottengeschmack haben.«

In der Menge war verhaltenes Lachen zu hören.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Sam den Jungen mit dem Holzhammer. Er wandte sich ab, duckte sich und verhielt sich insgesamt so, als würde er sich am liebsten unsichtbar machen. Holzhammer war ein Coates-Schüler. Was hatte er gesagt? Dass er mit den Kids in Coates nicht klargekommen war?

»Mir ist bewusst, dass sich die Schüler der Coates Academy und die von Perdido Beach schon immer aus dem Weg gegangen sind«, fuhr Caine fort. »Ich würde aber sagen, das war einmal. Wir sitzen jetzt alle im selben Boot. Deshalb sollten wir zusammenarbeiten, meint ihr nicht?«

Etliche nickten.

Er sprach klar und deutlich. Seine Stimme war nur etwas höher als Sams und hatte einen kräftigen und entschlossenen Klang. Durch die Art, wie er in die Menge blickte und die Leute ansah, vermittelte er den Eindruck, als würde er jeden von ihnen einzeln wahrnehmen.

»Weißt du, was passiert ist?«, fragte jemand.

Caine schüttelte den Kopf. »Nein. Ich vermute, wir haben genauso wenig Ahnung wie ihr. Alle über fünfzehn sind verschwunden. Und jetzt ist diese riesige Wand da.«

»Wir nennen sie die FAYZ!«, rief Howard.

»Und was bedeutet das?«, fragte Caine interessiert.

»F-A-Y-Z. Fallout Alley Youth Zone.«

Caine überlegte kurz, dann lachte er. »Das ist genial. Hast du dir das ausgedacht?«

»Ja.«

»Man darf nie den Humor verlieren, nicht einmal, wenn die Welt plötzlich auf dem Kopf steht. Wie heißt du?«

»Howard. Ich bin die Nummer eins von Captain Orc.«

Durch die Menge ging ein unbehagliches Raunen, dessen Bedeutung Caine sofort begriff.

»Ich hoffe, dass ihr beiden mit uns zusammenarbeiten werdet. Das gilt auch für alle anderen, die mit uns über unsere Pläne für die Zukunft reden wollen. Denn wir haben einen Plan.« Den letzten Satz untermalte er mit einer Geste, als wollte er einen Strich unter die Vergangenheit ziehen.

»Ich will zu meiner Mom!«, rief ein kleiner Junge.

Jetzt wurde alles still. Der Junge hatte ausgesprochen, was jeder fühlte.

Caine stieg aus dem Wagen und war mit wenigen Schritten bei dem Jungen. Er ging vor ihm in die Hocke und ergriff seine Hände. Er fragte ihn, wie er hieß, und stellte sich noch einmal vor.

»Wir wollen alle unsere Eltern zurückhaben«, sagte Caine sanft, doch laut genug, um zumindest von den Umstehenden deutlich gehört zu werden. »Wir alle wollen das. Und ich glaube auch, dass es passieren wird. Wir werden unsere Mütter und Väter wiedersehen – und unsere älteren Geschwister und Lehrer. Ich bin davon überzeugt. Du auch?«

»Ja.« Der kleine Junge schluchzte.

Caine nahm ihn in die Arme. »Du musst stark sein. Tu’s für deine Mommy.«

»Er ist gut«, meinte Astrid. »Fast schon zu gut.«

Caine stand auf. Um ihn hatte sich ein Kreis gebildet.

»Wir müssen jetzt alle stark sein und das gemeinsam durchstehen«, sagte er mit Nachdruck. »Wenn wir zusammenarbeiten, kluge Anführer wählen und das Richtige tun, schaffen wir es auch.«

Die versammelten Kinder wirkten nicht mehr so geknickt, Zuversicht spiegelte sich in ihren Gesichtern wider.

Sam war von dem Auftritt wie hypnotisiert. Caine war es innerhalb weniger Minuten gelungen, einer Gruppe von verstörten und verzagten Kids Mut zu machen.

Astrid schien ebenfalls fasziniert, obwohl Sam in ihrer Miene auch Skepsis zu sehen glaubte.

Sam war selbst skeptisch. Er misstraute einstudierten Auftritten. Und auch jeder Art von Charme. Dennoch fiel es ihm schwer, daran zu zweifeln, dass Caine aufrichtig war und den Kindern von Perdido Beach helfen wollte. Es war schwer, ihm nicht zu trauen. Und wenn Caine tatsächlich einen Plan hatte, wäre das nicht gut? Niemand sonst schien auch nur die leiseste Idee zu haben.

Caine sprach wieder lauter: »Wenn ihr einverstanden seid, würde ich mir gerne eure Kirche ausleihen. Ich möchte mich mit euren Anführern treffen und meinen Plan mit ihnen besprechen. Und alle Änderungsvorschläge, die ihr habt. Gibt es vielleicht, sagen wir, zehn, zwölf Leute, die für euch sprechen können?«

»Ich.« Orc schob sich mit den Schultern voran durch die Menge. Er trug immer noch seinen Baseballschläger. Seit Neuestem hatte er auch einen Polizeihelm auf, einen dieser schwarzen Plastikhelme, die die Polizei von Perdido Beach trug, wenn sie mit den Rädern auf Streife fuhr.

Caine bedachte Orc mit einem durchdringenden Blick. »Du musst Captain Orc sein.«

»Stimmt.«

Caine streckte ihm die Hand entgegen. »Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen, Captain.«

Orc starrte ihn mit offenem Mund an. Er zögerte.

Das muss das erste Mal sein, dass jemand sich geehrt fühlt, seine Bekanntschaft zu machen, dachte Sam. Und das erste Mal, dass jemand seine Hand schütteln will.

Orc war sichtlich verwirrt. Er blickte Hilfe suchend zu Howard.

Howard schaute von Orc zu Caine, schätzte die Lage ein. »Er erweist dir Respekt, Orc.«

Orc schnaubte, verlagerte den Schläger von der rechten in die linke Hand und streckte seine dicke Pranke aus. Caine nahm sie in beide Hände, blickte Orc feierlich in die Augen und schüttelte sie.

Weiterhin Orcs Hand haltend fragte Caine: »Wer spricht sonst noch für Perdido Beach?«

»Sam Temple«, meldete sich Bette. »Er ist in das brennende Haus gerannt, um ein kleines Mädchen zu retten. Er soll sprechen – jedenfalls für mich.«

Von allen Seiten erklangen zustimmende Rufe.

»Ja, Sam ist ein Held«, sagte jemand.

»Er hätte dabei sterben können«, fügte ein Junge hinzu.

»Ja, nehmt Sam.«

Über Caines Gesicht huschte ein Lächeln, so rasch und so unscheinbar, dass Sam sich fragte, ob er es sich nicht bloß eingebildet hatte. Als würde Caine innerlich triumphieren. Caine kam mit ausgestreckter Hand auf Sam zu.

»Es gibt sicher bessere Leute als mich«, murmelte Sam und wich zurück.

Aber Caine nahm einfach seine Hand und schüttelte sie. »Sam, nicht wahr? Klingt, als wärst du ein Held. Du bist nicht zufällig mit Connie Temple, der Krankenschwester von der Coates Academy, verwandt?«

»Sie ist meine Mutter.«

»Es wundert mich nicht, dass sie einen mutigen Sohn hat«, sagte Caine herzlich. »Sie ist eine tolle Frau. Und du bist bescheiden und mutig. Aber ich … ich bitte dich um deine Hilfe. Ich brauche deine Unterstützung.«

Durch die Erwähnung seiner Mutter fügte sich auf einmal eins ins andere. Das C in dem Computertext stand ganz bestimmt für Caine. Sam erinnerte sich noch an den Wortlaut:

Früher oder später wird C oder einer von den anderen etwas Schreckliches tun. Es wird Verletzte geben. So wie bei S und T.

»In Ordnung«, willigte Sam ein. »Wenn die anderen es so wollen.«

Es fielen noch ein paar Namen, wobei Sam aus reiner Loyalität, aber hörbar halbherzig auch seinen Freund Quinn nannte.

»Dann gehen wir doch hinein«, sagte Caine schließlich. Er marschierte zielstrebig die Treppe zur Kirche hinauf. Die Auserwählten schlossen sich ihm an.

Eine Coates-Schülerin, ein sehr hübsches Mädchen mit eindrucksvollen Augen, sprach Sam an und hielt ihm die Hand hin. Sam nahm sie.

»Ich heiße Diana«, sagte sie, ohne seine Hand loszulassen. »Diana Ladris.«

»Sam Temple.«

Als sie ihn mit ihren nachtschwarzen Augen förmlich zu durchbohren schien, war ihm das ziemlich unangenehm. Er wollte den Blick abwenden, schaffte es aber aus irgendeinem Grund nicht.

»Ah«, sagte sie, als hätte er ihr gerade eine faszinierende Geschichte erzählt. Dann ließ sie seine Hand los und schmunzelte. »Soso… Komm, gehen wir, der Furchtlose fragt sich sonst, wo seine Anhänger bleiben.«

Die Kirche war katholisch. Sie war vor hundert Jahren von einem reichen Gönner errichtet worden, dem die Konservenfabrik gehört hatte, eine seit Langem leer stehende und vor sich hin rostende Scheußlichkeit am Jachthafen.

Ihre hoch aufragenden Bögen, die sechs Heiligenstatuen und die kunstvollen, inzwischen blank gesessenen Holzbänke verliehen der Kirche mehr Pracht, als dem kleinen Perdido Beach in Wirklichkeit zustand. Sam fühlte sich winzig und eindeutig fehl am Platz.

Caine war selbstbewusst auf die Kanzel geschritten. Der Altar war nichts Besonderes, bloß ein Dreieck aus blassem Marmor, zu dem drei Stufen mit einem weinroten Läufer führten. Auf der zweiten Stufe blieb Caine stehen.

Aus Perdido Beach waren insgesamt fünfzehn Leute da. Zu ihnen zählten Sam, Quinn, Astrid und der kleine Pete, Mary Terrafino, Elwood Booker, der zu den besten Sportlern seines Jahrgangs zählte, seine Freundin Dahra Baidoo, Orc, der mit richtigem Name Charles Merriman hieß, Howard Bassem und Tony Gilder, der den Spitznamen Cookie hatte.

Von der Coates Academy waren außer Caine nur drei weitere Schüler anwesend: ein Junge namens Drake Merwin, ein kalt lächelnder, nervöser Kerl mit gemeinen Augen und struppigen sandfarbenen Haaren, Diana Ladris und ein verloren wirkender Fünftklässler mit großer Brille und blonden abstehenden Haaren, den Caine als Computer-Jack vorstellte.

Die Kids von Perdido Beach saßen in den Kirchenbänken. Orc und seine Crew lümmelten in der ersten Reihe, Computer-Jack hatte sich auf der anderen Seite des Mittelgangs an den äußersten Rand der Bank zurückgezogen. Drake Merwin hatte grinsend und mit über der Brust verschränkten Armen links von Caine Aufstellung bezogen, während Diana Ladris rechts von Caine stand und die anderen im Auge behielt.

Wieder drängte sich Sam der Verdacht auf, dass sie alles zuvor einstudiert haben mussten, angefangen von der Autokolonne – schon allein dafür mussten sie stundenlang geübt haben – bis hin zu diesem Auftritt. Sie mussten sofort nach Eintreten der FAYZ mit den Proben begonnen haben.

Das war ein beunruhigender Gedanke.

Nachdem sich alle vorgestellt hatten, kam Caine unverzüglich zur Sache und erklärte seinen Plan.

»Wir müssen zusammenarbeiten«, sagte er. »Und uns organisieren, damit nichts zerstört wird und Probleme bewältigt werden. Ich finde, es sollte unser Ziel sein, das zu erhalten, was da ist. Wenn die Barriere eines Tages fällt und die Verschwundenen zurückkehren, sollen sie denken, wir haben gute Arbeit geleistet und alles fest im Griff gehabt.«

»Der Captain macht das schon«, meldete sich Howard.

»Und er macht es offenbar gut«, sagte Caine. Er stieg die Stufen herab und näherte sich Orc. »Aber für einen allein ist das eine Riesenbelastung. Warum soll Captain Orc alles selber tun müssen? Wir brauchen ein System und einen Plan.«

Dann sprach er den Schlägertyp direkt an: »Captain Orc, ich kann mir nicht vorstellen, dass du für alles selbst verantwortlich sein willst. Ich meine, willst du wirklich ganz allein dafür sorgen müssen, dass die Lebensmittel verteilt und die Kranken gepflegt werden und die Kita funktioniert? Und dann noch all das Zeug lesen müssen, das zu lesen ist, und schreiben, was geschrieben werden muss, damit es hier halbwegs funktioniert?«

»Er hat erraten, dass Orc praktisch Analphabet ist«, flüsterte Astrid.

Orc warf Howard einen Blick zu, doch der starrte wie hypnotisiert zu Caine. Orc zuckte die Achseln. Astrid hatte Recht gehabt, beim Gedanken ans Lesen und Schreiben wurde ihm mulmig.

»Eben«, sagte Caine, als wäre Orcs Achselzucken ein Zeichen der Zustimmung. Er kehrte zur Mitte des Altars zurück. »Die Stromversorgung funktioniert. Aber das Kommunikationssystem ist kaputt. Mein Freund Computer-Jack denkt, er schafft es, die Handys wieder in Gang zu bringen.«

Das löste aufgeregtes Murmeln aus. Caine hob beide Hände. »Damit meine ich nicht, dass wir jemanden außerhalb der FAYZ anrufen können. Aber wir wären wenigstens in der Lage, miteinander zu kommunizieren.«

Die Blicke schwenkten zu Computer-Jack. Er schluckte, deutete ein Nicken an, schob seine Brille hoch und wurde knallrot.

»Das alles braucht Zeit, aber gemeinsam schaffen wir es.« Caine unterstrich seine Zuversicht, indem er mit der geballten Faust in die linke Handfläche klatschte. »Also, abgesehen von einem Sheriff, der dafür sorgt, dass die Regeln eingehalten werden – dafür wäre Drake Merwin geeignet, immerhin ist sein Vater Leutnant bei der Autobahnpolizei–, benötigen wir einen Feuerwehrchef. Ich schlage Sam Temple vor. Nach allem, was vorhin über seinen Einsatz bei dem Brand erzählt wurde, ist er die beste Wahl. Findet ihr nicht?«

Einige nickten zustimmend.

»Er will dich unter seine Fittiche nehmen«, flüsterte Astrid, »weil er weiß, dass du ihm Konkurrenz machst.«

»Du traust ihm nicht«, erwiderte Sam ebenfalls flüsternd. Das war eine Feststellung.

»Er manipuliert. Das heißt nicht, dass er schlecht ist. Vielleicht ist er sogar ganz okay.«

»Sam hat den Eisenwarenladen und die Kita vor dem Feuer gerettet«, meldete sich Mary zu Wort. »Und beinahe auch das kleine Mädchen. Da wir gerade davon reden, es muss begraben werden.«

»Richtig«, erwiderte Caine. »In Zukunft bleibt uns das hoffentlich erspart, doch es stimmt, jemand muss die Toten begraben. Außerdem brauchen wir eine Person, die sich um die Kranken kümmert. Und die Kleinen müssen auch betreut werden.«

»Mary hat sich seit der FAYZ ganz toll um die Kleinen gekümmert«, meldete sich Dahra Baidoo zu Wort. »Sie und ihr Bruder John.«

»Ja, aber wir brauchen dringend Hilfe«, warf Mary rasch ein. »Wir kommen kaum noch zum Schlafen. Wir haben keine Windeln mehr und keine Vorräte und…« Sie seufzte. »Es fehlt an allem. John und ich kennen die Kinder und sind inzwischen ein eingespieltes Team. Aber wir brauchen eine Menge Hilfe.«

Tränen sammelten sich in Caines Augen. Er eilte zu Mary, zog sie auf die Beine und legte ihr den Arm um die Schultern. »Du bist ein wunderbarer Mensch, Mary. Du und dein Bruder, ihr könnt von jetzt an… Wie viele Leute braucht ihr?«

Mary dachte kurz nach. »Vielleicht noch vier andere.« Dann fügte sie schon selbstbewusster hinzu: »Tatsächlich benötigen wir vier am Vormittag, vier am Nachmittag und noch mal vier für die Nacht. Und wir brauchen Windeln und Milchpulver. Außerdem müssen wir anderen sagen können, dass sie bestimmte Dinge für uns auftreiben sollten – zum Beispiel Essen.«

Caine nickte. »Die Kleinen sind unsere größte Verantwortung. Mary, du und John, ihr seid ab sofort berechtigt, die nötigen Leute abzukommandieren. An Vorräten bekommt ihr, was ihr haben wollt. Sollte sich irgendjemand weigern, sagen ihm Drake und seine Leute, also auch Captain Orc, wo’s langgeht.«

Mary strahlte vor Dankbarkeit.

Nicht so Howard.

»Wie war das? Soll das heißen, dass Orc jetzt für den da arbeitet?« Er zeigte auf Drake, der bloß ein verächtliches Haifischgrinsen aufsetzte. »Wir arbeiten für niemanden. Captain Orc ist niemandem unterstellt und befehlen lässt er sich schon gar nichts.«

Sam beobachtete, wie Caines hübsche Gesichtszüge eine Sekunde lang von eiskalter Wut verzerrt wurden.

Orc musste das auch bemerkt haben, denn er stand auf, und Cookie tat es ihm nach. Sie nahmen ihre Aluschläger in beide Hände. Immer noch lächelnd trat Drake zwischen sie und Caine.

Diana behielt seltsamerweise Sam im Auge, als ginge Orc sie nichts an.

Caine seufzte, hob die Hände und strich sich die Haare nach hinten. In diesem Augenblick ging ein Rumpeln durch den Boden und brachte die Kirchenbänke zum Wackeln – ein leichtes Erdbeben, nichts Ungewöhnliches.

Alle sprangen auf. Sie wussten, wie sie sich bei einem Erdbeben zu verhalten hatten.

Als Nächstes war ein Reißen zu hören und gleich darauf das Ächzen von berstendem Holz und das Kreischen von sich biegendem Stahl: Das riesige Kreuz an der Wand hinter dem Altar löste sich aus seiner Verankerung, als würde es von einem unsichtbaren Riesen gewaltsam herausgerissen.

Niemand rührte sich.

Gips und Staub rieselten auf den Altar.

Das fast vier Meter hohe Kreuz kippte nach vorne, dann stürzte es wie ein gefällter Baum herab.

Als es fiel, ließ Caine seine Hände sinken. Seine Miene war unerbittlich, hart und zornig.

Das Kreuz schlug mit einer solchen Wucht in die erste Bankreihe ein, als wären zwei Autos auf der Autobahn ineinandergeprallt.

Orc und Howard sprangen noch rechtzeitig zur Seite, Cookie war zu langsam. Der Querbalken traf ihn an der rechten Schulter und riss ihn zu Boden, wo sich sofort ein roter Fleck bildete.

Das alles geschah innerhalb weniger Sekunden.

»Helft mir!«, schrie Cookie. »Helft mir!«

Er lag heulend da. Blut drang durch den Stoff seines T-Shirts und rann auf den Fußboden.

Als Elwood das Kreuz wegschob, schrie Cookie wie am Spieß.

Caine hatte sich nicht gerührt. Drakes überheblicher Blick ruhte auf Orc, während Diana Sam immer noch ansah. Sie wirkte unbeeindruckt und ein zynisches, wissendes Lächeln umspielte ihre Lippen.

Astrid packte Sams Arm und flüsterte: »Komm, raus hier! Wir müssen reden.«

Diana bekam es mit.

»Aaaah!«, schrie Cookie. »So helft mir doch! Mann, tut das weh!«

Orc und Howard machten keinerlei Anstalten, ihrem verletzten Kumpel zu helfen.

»Das ist ja schrecklich«, meinte Caine völlig ungerührt. »Kann hier jemand Erste Hilfe leisten? Sam? Deine Mutter war Krankenschwester.«

Der kleine Pete, der bisher wie versteinert dagesessen hatte, begann mit dem Oberkörper vor- und zurückzuwippen. Immer schneller und schneller. Dazu schlug er mit den Händen um sich, als würde er einen Schwarm Bienen abwehren.

»Er muss sofort hier raus.« Astrid hob Pete hoch und eilte mit ihm davon. »Fensterplatz, Petey, Fensterplatz.«

»Ich bin keine Krankenschwester!«, rief Sam. »Ich weiß auch nicht…«

Am Ende war es Dahra Baidoo, die aus ihrer Betäubung erwachte und sich neben den brüllenden Cookie kniete. »Ich weiß ein wenig über Erste Hilfe. Elwood, packst du mal mit an?«

»Ich würde sagen, wir haben unsere neue Krankenschwester«, verkündete Caine seelenruhig.

Diana wandte sich ab und flüsterte Caine etwas ins Ohr. Sein Blick fegte über die geschockten Gesichter. Dann lächelte er und nickte Diana zu.

»Die Sitzung ist vertagt, bis wir unserem verletzten Freund geholfen haben. Wie heißt er? Cookie?«

Cookies Stimme klang immer verzweifelter, fast schon hysterisch. »Das tut so weh! Ich halt das nicht aus!«

Caine führte Drake und Diana an den Sitzreihen vorbei zum Ausgang der Kirche.

Drake blieb auf halbem Weg stehen, drehte sich um und machte zum ersten Mal den Mund auf.

In einem amüsierten Tonfall sagte er: »Ach, ähm, Captain Orc? Sag deinen Leuten – den Unverletzten – sie sollen sich draußen aufstellen. Wir besprechen dann eure Aufgaben.«

Mit einem Grinsen, das eher einem Zähnefletschen glich, fügte er fröhlich hinzu: »Bis gleich.«

GONE Verloren
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