Acht

287 Stunden, 27 Minuten

Es war Nacht geworden. Mary und ihr neunjähriger Bruder John hatten die letzten Knabbergoldfische mit Käsegeschmack verteilt. Und dazu den gesamten Vorrat an Fruchtsäften. Inzwischen gab es fast keine Windeln mehr.

Die insgesamt achtundzwanzig Kinder waren in dem größeren der beiden Räume untergebracht. Betreut wurden sie von dem Geschwisterpaar und einem zehnjährigen Mädchen namens Eloise. Sie kümmerte sich zwar vor allem um ihren vierjährigen Bruder, aber wenigstens übernahm sie Verantwortung für ihn. Die anderen hatten ihre kleinen Geschwister einfach nur abgeliefert und waren wieder verschwunden. Sie fühlten sich überfordert und hatten keinerlei Anstalten gemacht, zu bleiben und mitzuhelfen.

Mary und John hatten Milchpulver angemischt und in Fläschchen gefüllt. Sie hatten mit allem, was in der Kita zu finden war und von John zusammengesammelt werden konnte, improvisierte »Mahlzeiten« zubereitet. Sie hatten den Kleinen Bilderbücher vorgelesen und ihnen pausenlos die CD mit Kinderliedern vorgespielt.

Mary zitterte vor Erschöpfung.

Sie sank in den Schaukelstuhl und starrte müde in den Raum. Gitterbetten. Matten auf dem Boden. Auf die Seite gerollte Körper. Sie schliefen jetzt alle bis auf das zweijährige Mädchen, das nicht zu weinen aufhörte, und das Baby, das immer wieder zu schreien anfing.

John konnte kaum noch die Augen offen halten. Seine Locken wippten sanft auf und ab, sobald sein Kopf nach oben schnellte, um dann gleich wieder nach unten zu sinken, tiefer und immer tiefer. Er saß zusammengekauert auf einem Stuhl am anderen Ende des Zimmers und schaukelte einen Plastiktrog aus der Eisenwarenhandlung, den sie zu einer Wiege umfunktioniert hatten.

Sie fing seinen Blick auf und sagte: »John, ich bin so stolz auf dich.«

Beim Anblick seines Lächelns hätte Mary beinahe die Fassung verloren. Ihre Lippen zitterten und ihr schossen Tränen in die Augen. Sie spürte einen dumpfen Druck in der Brust.

»Ich muss mal!«, rief eine Stimme.

Mary blickte sich um. »Okay, Cassie«, sagte sie. »Ich helfe dir.«

Als sie wieder im Hauptraum war, ging sie zu John hinüber. »Hey, kleiner Bruder.« Sie strich ihm mit den Fingern durch die roten Locken. »Uns gehen die Vorräte aus. Ich schau mal, was ich auftreiben kann, damit wir morgen Früh klarkommen. Hältst du noch eine Weile durch?«

Mary trat in die Nacht hinaus. Einige Kinder schliefen auf den Bänken der Plaza. Andere saßen in kleinen Gruppen beisammen und drängten sich um den Lichtkegel ihrer Taschenlampen. Sie erblickte Howard. Er schlenderte mit einer Pepsi-Dose in der einen Hand und einem Baseballschläger in der anderen die Straße entlang.

Mary sprach ihn an. »Hast du Sam gesehen?«

»Was willst du von Sam?«

»Ich kann mich nicht um die Kleinen kümmern, wenn mir außer John niemand hilft.«

Howard zuckte die Schultern. »Na und? Es hat dich doch keiner darum gebeten.«

Das war zu viel. Mary war groß und kräftig. Howard war zwar ein Junge, aber kleiner. Mary machte zwei Schritte auf ihn zu und brachte ihr Gesicht ganz nah an seines heran.

»Hör mal zu, du Kriechtier! Wenn ich mich nicht um diese Kinder kümmere, sterben sie. Verstehst du das? Da drinnen sind Babys, die gefüttert werden müssen, die frische Windeln brauchen, und wie es aussieht, bin ich die Einzige, die das kapiert hat. Wahrscheinlich sind in den Häusern noch mehr kleine Kinder. Sie sind allein, haben keine Ahnung, was los ist, können sich nicht selbst ernähren und ängstigen sich zu Tode.«

Howard machte einen Schritt zurück, hob kurz den Schläger an und ließ ihn wieder sinken. »Und was soll ich tun?«, jammerte er.

»Du? Gar nichts. Wo ist Sam?«

»Abgehauen.«

»Was soll das heißen?«

»Er, Quinn und Astrid sind weggegangen.«

Mary blinzelte, sie kam sich blöd und begriffsstutzig vor.

»Dann geh und hol Orc«, sagte sie.

»Ich geb Orc keine Befehle, du dummes Miststück.«

»Wie war das?«, fuhr sie ihn an. »Wie hast du mich gerade genannt?«

Howard schluckte. »Hab’s nicht so gemeint, Mary.«

»Wo ist Orc?«

»Ich glaube, er schläft.«

»Weck ihn. Ich brauche Hilfe. Ich muss dringend schlafen. Ich benötige mindestens zwei Kids, die mit Babysitten Erfahrung haben. Und jede Menge Windeln und Nuckelflaschen und Schnuller und Cornflakes und Milch.«

»Warum sollte ich dir helfen?«

»Ich weiß es nicht, Howard. Vielleicht, weil du in Wirklichkeit nicht so ein Vollidiot bist, wie alle denken.«

Er zog die Stirn kraus und schnaubte verächtlich.

»Hör mal«, sagte Mary. »Die anderen tun, was Orc sagt. Sie fürchten sich vor ihm.«

Darüber dachte Howard erst mal nach. Mary glaubte fast schon, das Knirschen in seinen Gehirnwindungen hören zu können.

»Vergiss es!«, sagte sie. »Ich rede mit Sam, wenn er wieder hier ist.«

»Ja, ja, Sam, der große Held, was?« Howards Stimme war voller Sarkasmus. »Aber hey, wo steckt er? Hast du ihn gesehen? Ich kann ihn nirgends entdecken.«

»Hilfst du mir, ja oder nein? Ich muss zurück.«

»In Ordnung. Ich besorg das Zeug. Merk dir gut, wer dir geholfen hat. Du arbeitest ab sofort für Orc und für mich.«

»Ich kümmere mich um die kleinen Kinder«, antwortete Mary. »Wenn ich für irgendwen arbeite, dann für sie.«

»Wie gesagt, merk dir, wer in der Not für dich da war.« Howard machte kehrt und stolzierte davon.

GONE Verloren
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