Sieben

289 Stunden, 45 Minuten

Lana lag auf dem Erdboden und starrte zum Sternenhimmel. Um sie herum war alles finster.

Sie hatte Angst. Angst zu sterben. Angst, ihre Eltern nie mehr wiederzusehen. Ihre Mom und ihren Dad, die wahrscheinlich noch gar nicht wussten, dass sie einen Unfall gehabt hatte. Sie riefen jeden Abend bei Grandpa Luke an und sprachen mit ihr, sagten ihr, dass sie sie lieb hatten – und erlaubten ihr dennoch nicht, nach Hause zurückzukommen.

»Es ist besser, wenn du eine Zeit lang nicht in der Stadt bist, mein Schatz«, sagte ihre Mutter jedes Mal. »Du sollst in Ruhe über alles nachdenken können und wieder einen klaren Kopf bekommen.«

Lana hatte eine Stinkwut auf ihre Eltern. Vor allem auf ihre Mutter. Die Wut war so stark, dass sie beinahe die unsäglichen Schmerzen vergaß.

Lana fragte sich, wie sie jetzt wohl aussah. Sie hatte sich noch nie für besonders hübsch gehalten, denn sie fand ihre Augen zu klein und ärgerte sich oft über die glatten dunklen Haare, in denen keine Frisur hielt. Doch jetzt, mit ihrem blau geschlagenen Gesicht, den grässlichen Schnittwunden und dem vielen Blut, musste sie aussehen wie eine Figur aus einem Horrorfilm.

Wo war Grandpa Luke? Sie konnte sich nur an die Sekunden vor dem Unfall erinnern, vom Unfall selbst war ihr nichts im Gedächtnis geblieben außer den verschwommenen bruchstückhaften Bildern von dem Raum, durch den sie geschleudert und dabei halb tot geprügelt worden war.

Das war alles so verwirrend. Ergab überhaupt keinen Sinn. Ihr Großvater war einfach verschwunden. Er hatte den Laster gefahren und sich von einem Moment auf den anderen in Luft aufgelöst. Sie konnte sich nicht erinnern, dass die Tür aufgegangen wäre. Warum sollte der alte Mann auch rausgesprungen sein?

Lana hatte schrecklichen Durst. Sie hob sachte ihren schmerzenden Kopf und drehte ihn, bis sie den Laster sah. Er lag nur wenige Schritte von ihr entfernt auf dem Dach, die Räder ragten nach oben und hoben sich schemenhaft vom Sternenhimmel ab.

Etwas krabbelte ihr über den Hals. Patrick richtete sich auf, spitzte die Ohren und lauschte auf das leise Geräusch.

»Pass ja auf, dass sich nichts an mich heranwagt!«, bat sie ihn.

Patrick bellte leise, als wollte er spielen.

»Ich hab nichts zu fressen«, sagte sie. »Ich hab auch keine Ahnung, was mit uns passieren wird.«

Ihr Hund legte sich wieder hin und ließ den Kopf auf seine Pfoten sinken.

»Wenn Mom mich so sehen würde, wäre sie sicher richtig froh, dass sie mich hierhergeschickt hat«, sagte Lana zynisch.

Ihr selbst wäre das in der Dunkelheit funkelnde Augenpaar gar nicht aufgefallen, wenn Patrick nicht plötzlich aufgesprungen wäre. Er sträubte die Nackenhaare und stieß ein Knurren aus, wie sie es noch nie von ihm gehört hatte.

»Was ist?«

Grüne Augen lauerten in der Dunkelheit. Sie waren auf Lana gerichtet.

Patrick, der wie verrückt bellte, tänzelte vor und zurück.

Der Puma stieß ein Brüllen aus, dem ein heiseres, kehliges Fauchen folgte.

Lana schrie ihn an. »Hau ab! Lass mich in Ruhe!« Ihre Stimme klang erbärmlich schwach.

Patrick lief davon, kehrte zu Lana zurück, fasste Mut, wandte sich um und stellte sich dem Puma in den Weg.

Der Kampf ging blitzartig los. Hund und Raubkatze stürzten sich knurrend aufeinander. Nach einer halben Minute war alles vorbei. Die leuchtenden Augen des Pumas tauchten weiter weg wieder auf, blinzelten einmal, starrten kurz zu Lana herüber und verschwanden.

Patrick kehrte langsam zurück. Er ließ sich schwerfällig neben ihr zu Boden sinken.

»Braver Hund«, flüsterte Lana. »Toll, wie du die Bestie verjagt hast. So ein guter Hund.«

Patrick wedelte kaum merklich mit dem Schwanz.

»Bist du verletzt? Hat sie dich gebissen?«

Mit ihrer unverletzten Hand strich sie dem Hund über den Rücken. Sein Nacken war nass, er fühlte sich glitschig an. Das konnte nur Blut sein. Als sie ein wenig Druck ausübte, wimmerte Patrick.

Dann spürte sie, wie es über ihre Hand strömte. In Patricks Nacken klaffte eine tiefe Wunde. Mit jedem Herzschlag wurde noch mehr herausgepumpt. Ihr Hund würde verbluten!

»Oh nein, nein!«, rief Lana. »Du darfst nicht sterben. Bitte nicht!«

Ohne ihn wäre sie ganz allein in dieser Wüste. Lana brach in Tränen aus. Sie weinte bitterlich, übermannt von einem Gefühl der Einsamkeit und einer entsetzlichen Angst.

Sie war schwer verletzt und außerstande, sich zu bewegen. Und der Puma würde

Die Panik schnürte ihr die Luft ab. Patrick musste weiterleben. Er durfte nicht sterben. Er war alles, was sie hatte.

Unter gewaltigen Schmerzen, die sie an den Rand der Ohnmacht brachten, schob sie sich näher an ihren Hund heran. Sie legte ihre Handfläche auf die Wunde und drückte so fest darauf, wie sie es wagte.

Sie würde die Blutung stoppen.

Sie würde nicht zulassen, dass er starb.

Doch das Blut drang weiterhin durch ihre Finger.

»Guter Hund«, flüsterte sie durch ihre aufgesprungenen Lippen.

Eine Zeit lang kämpfte sie gegen ihre Müdigkeit an. Aber Hunger und Durst, die Schmerzen, Furcht und Einsamkeit hatten sie zu sehr geschwächt. Nach einer Weile schlief Lana ein.

Ihre Hand glitt vom Nacken des Hundes.

Sam, Quinn und Astrid brachten die halbe Nacht damit zu, Clifftop bis in den letzten Winkel nach dem kleinen Pete abzusuchen. Astrid war dahintergekommen, wie das Sicherheitssystem des Hotels funktionierte, und hatte sich einen Generalpass für alle Türen ausgestellt.

Sie durchsuchten jedes Zimmer, fanden aber weder Pete noch sonst irgendjemanden.

Im letzten Zimmer blieben sie erschöpft stehen. Der Raum wurde von der Barriere in zwei Hälften geteilt. Als hätte jemand eine Wand aufgestellt.

»Sie geht mitten durch den Fernseher«, sagte Quinn. Er nahm die Fernbedienung vom Tisch und drückte auf den roten Knopf. Nichts.

»Dein Bruder könnte auf der anderen Seite sein«, meinte Sam, »zusammen mit deiner Mom.«

»Kann sein, aber solange ich das nicht mit hundertprozentiger Sicherheit weiß, muss ich davon ausgehen, dass er allein und hilflos ist«, entgegnete Astrid scharf. Sie kreuzte die Arme über der Brust, als wollte sie sich selbst festhalten. »Entschuldige. Das klang, als wäre ich sauer auf dich.«

»Nein. Du klingst einfach nur sauer. Nicht auf mich. Wir können heute nichts mehr tun. Es ist fast Mitternacht. Ich finde, wir sollten in das große Zimmer gehen, in dem wir vorhin waren.«

Astrid nickte nur und Quinn sah ohnehin so aus, als fielen ihm jeden Moment die Augen zu. Sie kehrten in die Suite zurück, die einen großen Balkon mit Blick auf den tief unten liegenden Ozean hatte. Zur Linken blockierte die Barriere die Aussicht. Sie schien kein Ende zu haben.

Quinn ließ sich mit dem Gesicht voran auf eines der Doppelbetten fallen und war binnen weniger Sekunden eingeschlafen.

Sam und Astrid standen noch eine Weile auf dem Balkon und teilten sich eine Toblerone aus der Minibar. Eine Weile sagten sie nichts.

»Was, denkst du, ist das?«, fragte Sam schließlich. Er musste nicht erklären, was er mit »das« meinte.

»Manchmal denke ich, das alles kann nur ein böser Traum sein. Ich finde es merkwürdig, dass bis jetzt niemand aufgetaucht ist. Inzwischen müsste es doch vor Soldaten, Wissenschaftlern und Journalisten nur so wimmeln. Ich meine, da erscheint auf einmal eine gigantische Mauer, die meisten Menschen in der Stadt verschwinden und dennoch ist weit und breit kein Fernsehteam zu sehen.«

Was das betraf, hatte Sam eine schlimme Vermutung. Er fragte sich, ob Astrid auch schon auf diesen Gedanken gekommen war.

Ja, das war sie. »Ich glaube nicht, dass das eine gerade Wand ist, die uns nur vom Süden abschneidet. Ich vermute, dass sie uns vollständig einkreist. Damit wären wir von der Außenwelt abgeschnitten. Und da noch niemand gekommen ist, halte ich das für sehr wahrscheinlich. Was meinst du?«

»Ja. Wir sitzen in der Falle. Aber warum? Und warum verschwinden alle, die über fünfzehn sind?«

»Ich weiß es nicht.«

Sam beschäftigte noch eine andere Frage, aber er war sich nicht sicher, ob er die Antwort darauf tatsächlich wissen wollte. Schließlich stellte er sie doch: »Was passiert, wenn jemand fünfzehn wird?«

Astrid blickte ihn ernst an. »Wann ist dein Geburtstag?«

»Bald. Am zweiundzwanzigsten November. Fünf Tage vor Thanksgiving. In zwölf Tagen. Nein, in elf Tagen, es ist ja schon nach Mitternacht. Und deiner?«

»Erst im März.«

»März wäre mir lieber. Oder Juli oder August. Zum ersten Mal wünsche ich mir, ich wäre jünger.«

Damit sie ihn nicht weiter so mitleidig ansah, sagte er: »Was denkst du: Sind die anderen noch am Leben?«

»Ja.«

»Glaubst du das wirklich oder wünschst du es dir bloß?«

»Irgendwie beides«, erwiderte sie und lächelte. »Sam?«

»Ja?«

»Ich saß damals im Bus. Erinnerst du dich?«

»Dunkel.« Er lachte. »Meine fünfzehn Minuten Ruhm.«

»Du warst der mutigste und coolste Mensch, dem ich je begegnet bin. Alle dachten so. Du warst der Held der ganzen Schule. Und dann, ich weiß nicht. Es war, als hättest du dich irgendwie … abgeschottet.«

Das ärgerte ihn ein wenig. Er hatte sich doch nicht abgeschottet. Oder?

»Erwarte nicht zu viel von mir, okay?«

»Okay, Sam.« Es klang nicht überzeugend. »Morgen gehen wir der Sache auf den Grund.«

»Und finden deinen Bruder.«

»Und finden meinen Bruder.« Damit wandte sie sich um und legte sich schlafen.

Sam hatte Astrid erzählt, dass er Angst hatte, aber ihn quälte noch etwas anderes. Obwohl Astrid und Quinn bei ihm waren, fühlte er sich entsetzlich allein. Er wusste etwas, wovon sie keine Ahnung hatten.

Alles hing zusammen, davon war er überzeugt. Was er seinem Stiefvater angetan hatte, das Licht in seinem Zimmer, der Kampf mit dem Feuerkind in der brennenden Wohnung, aber auch das Verschwinden der meisten Menschen und diese undurchlässige Barriere – das alles gehörte zu ein und demselben Puzzle. Sogar das Tagebuch seiner Mutter.

Er fürchtete sich, fühlte sich überfordert und einsam. Wenn auch nicht mehr ganz so einsam wie in den letzten Monaten. Das Feuerkind war der Beweis, dass er nicht der einzige Freak war.

Er betrachtete seine Handflächen.

Rosafarbene Haut, Schwielen vom Wachsen seines Surfbretts, eine Lebenslinie, eine Schicksalslinie. Eine ganz normale Handfläche.

Wie war es dazu gekommen?

Was hatte es zu bedeuten?

Und wenn er nicht der einzige Freak war, konnte er für diese Katastrophe auch nicht verantwortlich sein, oder?

Er streckte die Arme aus, kehrte die Handflächen nach oben und richtete sie auf die Barriere.

In Panik konnte er Licht erzeugen.

In Panik konnte er einem Mann die Hand abbrennen.

Aber für das hier konnte er nichts – ganz bestimmt nicht.

Erleichterung stieg in ihm auf.

Trotzdem: Irgendjemand oder irgendetwas musste alles verursacht haben.

GONE Verloren
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