Fünfzehn

251 Stunden, 32 Minuten

Jack hatte vor Schreck nicht gleich bemerkt, dass Caine und die anderen die Kirche verlassen hatten. Jetzt sprang er hektisch auf und lief nach draußen.

Von den Coates-Schülern war niemand mehr zu sehen, dafür eine Menge anderer Kids, die aufgeregt umhergingen und sich fragten, was gerade passiert war. Cookies Schreie waren, wenn auch gedämpft, bis auf die Plaza zu hören.

Jack erspähte das große blonde Mädchen, das mit seinem Bruder in der Kirche gewesen war.

»Entschuldige, weißt du vielleicht, wo Caine und die anderen sind?«

Das Mädchen, an dessen Namen er sich nicht erinnerte, blickte ihm in die Augen. »Im Rathaus. Wo sonst sollte unser neuer Anführer sein?«

Jack entging zwar vieles, aber nicht der Sarkasmus in ihrer Stimme.

»Ich wollte dich nicht belästigen.« Er schob seine Brille hoch und versuchte zu lächeln. Dann nickte er ihr rasch zu und sah sich nach dem Rathaus um.

»Es ist gleich dort drüben.« Das Mädchen wies in die Richtung. »Ich bin übrigens Astrid. Denkst du wirklich, du kriegst das mit den Handys hin?«

»Sicher. Es wird aber eine Zeit dauern. Momentan geht das Signal von deinem Handy zu dem Mast auf dem Turm, richtig?« Dazu deutete er mit den Händen einen Turm und die in seine Richtung ausgesandten Strahlen an. »Von dort wird es an einen Satelliten geleitet, der schickt es wieder herunter an einen Router. Da wir jetzt aber keine Signale zum Satelliten aussenden können…«

Er wurde von einem entsetzlich lauten Schmerzensschrei aus der Kirche unterbrochen und wich einen Schritt zurück.

»Woher weißt du, dass wir den Satelliten nicht erreichen können?«, fragte Astrid.

Er blinzelte überrascht, dann machte er ein selbstgefälliges Gesicht, was er immer automatisch tat, wenn jemand seine technischen Kenntnisse hinterfragte. »Ich bezweifle, dass du das verstehst.«

»Du kannst mich ja testen, Kleiner.«

Zu Jacks Verblüffung schien sie allem, was er sagte, folgen zu können. Also erklärte er ihr, wie er ein paar halbwegs schnelle Rechner neu programmieren und sie zu einem primitiven Router für das Telefonsystem umfunktionieren könnte.

»Schnell wäre er nicht«, sagte Jack abschließend. »Er könnte wahrscheinlich gerade mal ein Dutzend Anrufe gleichzeitig verarbeiten, aber für den Anfang sollte es reichen.«

Astrids kleiner Bruder starrte gebannt auf Jacks fahrige Handbewegungen. Jack wurde nervös, sobald er sich nicht in Caines Nähe wusste. Außerdem hatte Drake sie im Vorfeld gewarnt, sich auf keine längeren Gespräche mit den Kids in Perdido Beach einzulassen.

Eine Warnung von Drake war in Wirklichkeit eine Drohung.

»Ich geh jetzt besser«, sagte Jack.

Astrid hielt ihn auf. »Du kennst dich also mit Computern aus?«

»Ja, ich mag alles, was mit Technik zu tun hat.«

»Wie alt bist du?«

»Elf.«

»Ganz schön jung, um so gut Bescheid zu wissen.«

Er lachte. »Was ich gerade beschrieben habe, ist überhaupt nicht schwierig. Den meisten würde es zwar nicht gelingen, aber für mich ist es ein Kinderspiel.«

Sobald die Rede auf seine technischen Fähigkeiten kam, verlor Jack seine Schüchternheit. Den ersten Computer hatte er mit vier Jahren zu Weihnachten bekommen. Seine Eltern hatten ihm oft erzählt, dass er an diesem ersten Tag vierzehn Stunden am Stück vor dem Gerät zugebracht hatte.

Als er fünf war, installierte er bereits Programme und fand sich problemlos im Netz zurecht. Im Alter von sechs kamen seine Eltern mit ihren Computerproblemen zu ihm. Mit acht hatte er eine eigene Website und wurde in seiner Schule inoffiziell bei technischen Fragen herangezogen.

Mit neun hatte sich Jack in das Computersystem der örtlichen Polizeibehörde gehackt, um für einen Freund seines Vaters einen Strafzettel wegen überhöhter Geschwindigkeit zu löschen.

Seine Eltern waren dahintergekommen und in Panik geraten. Im nächsten Semester fand er sich auf der Coates Academy wieder, die bekanntlich kluge, aber schwierige Kinder aufnahm.

Doch Jack war nicht schwierig und er hatte es ihnen bis heute nicht verziehen. Der Schulwechsel hatte jedenfalls nicht dazu beigetragen, ihn aus Schwierigkeiten herauszuhalten. Im Gegenteil, in Coates gab es Kinder, die einen sehr schlechten Einfluss auf ihre Mitschüler ausübten.

Und manche waren schlichtweg böse.

»Was wäre so richtig schwer für dich, Jack?«, erkundigte sich Astrid.

»Fast gar nichts«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Eine Sache, die ich echt spannend fände, wäre eine Art Internet einzurichten.«

Bei dem Gedanken stahl sich ein seliges Lächeln auf sein Gesicht.

»Das wäre toll, Computer-Jack. Ähm, soll ich dich wirklich so nennen?«

»Ja, das macht schließlich jeder. Oder sag einfach nur Jack zu mir.«

»Okay, Jack. Was hat Caine vor?«

Darauf war Jack nicht vorbereitet. »Was?«

»Was hat er vor? Du bist intelligent, du musst doch eine Ahnung haben.«

Jack wäre am liebsten auf der Stelle abgehauen, er wusste nur nicht wie. Astrid kam näher an ihn heran und legte ihre Hand auf seinen Arm.

»Ich könnte wetten, dass er etwas im Schilde führt«, sagte sie, während ihr kleiner Bruder Jack mit seinen großen, ausdruckslosen Kulleraugen fixierte. »Weißt du, was ich denke?«

Jack schüttelte langsam den Kopf.

»Ich denke, du bist ein netter Kerl. Außerdem bist du sehr klug. Ich kann mir vorstellen, dass dich die anderen manchmal schlecht behandeln. Sie haben Angst vor deiner Begabung und wollen dich ausnutzen.«

Jack ertappte sich dabei, wie er zustimmend nickte.

»Aber dieser Drake ist kein netter Mensch. Nicht wahr?«

Jack verzog keine Miene. Er wollte nichts verraten. Sobald seine Menschenkenntnis gefragt war, wurde er unsicher. Maschinen waren leichter zu verstehen als Menschen, außerdem waren sie viel interessanter.

»Er ist ein brutaler Kerl, stimmt’s?«

Jack zuckte die Achseln.

»Dachte ich mir. Und Caine?«

Als Jack keine Antwort gab, ließ Astrid die Frage in der Luft hängen, indem sie ihn schweigend ansah. Jack schluckte und versuchte, den Blick abzuwenden.

Nach einer Weile fragte sie leise: »Mit Caine stimmt was nicht, hab ich Recht?«

Jacks Widerstand bröckelte, aber nicht seine Vorsicht. Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Er kann Dinge tun. Er kann…«

»Jack! Da bist du ja.«

Jack und Astrid fuhren zusammen.

Diana nickte Astrid freundlich zu. »Ich hoffe, deinem kleinen Bruder geht es wieder gut. Als ihr so schnell hinausgelaufen seid, dachte ich, ihm sei schlecht geworden.«

»Nein, nein. Alles in Ordnung.«

»Er hat Glück, dass er dich hat.« Während Diana das sagte, griff sie nach Astrids Hand, als wollte sie sie schütteln. Aber Jack wusste es besser.

Astrid zog ihre Hand zurück.

Dianas hübsches Lächeln erstarrte. Jack fragte sich, ob es ihr gelungen war, Astrid zu lesen. Wahrscheinlich nicht. Normalerweise benötigte sie mehr Zeit, um festzustellen, ob jemand die Kraft hatte und wie stark sie war.

Der Lärm eines Dieselmotors durchbrach die angespannte Stimmung. Ein Junge, der aussah wie ein Mexikaner, kam in einem Bagger die Straße entlanggefahren.

»Wer ist das?«, fragte Diana.

»Edilio«, antwortete Astrid.

»Was tut er da?«

Der Junge auf dem Bagger fing an, neben dem zugedeckten toten Mädchen, das von den anderen gemieden wurde, ein Loch in die Wiese zu graben.

»Was tut er da?«, fragte Diana noch einmal.

»Ich glaube, er begräbt sie«, erwiderte Astrid sanft.

Diana runzelte die Stirn. »Caine hat ihm das nicht aufgetragen.«

»Na und?«, entgegnete Astrid. »Irgendwer muss es tun. Ich denke, ich geh mal rüber und frage ihn, ob er Hilfe braucht. Vorausgesetzt, Caine hat nichts dagegen.«

Diana lächelte nicht. Sie fletschte auch nicht die Zähne, wie Jack es schon oft bei ihr gesehen hatte.

»Du scheinst nett zu sein, Astrid«, sagte sie jetzt. »Ich wette, du gehörst zu den Intelligenten, den Lisa Simpsons dieser Welt, die den Kopf voller toller Ideen haben, wie sie den Planeten retten können und so. Aber jetzt ist alles anders. Dein Leben hat sich verändert. Das ist wie… Weißt du, wie das ist? Als hättest du immer schon in einer guten Gegend gewohnt und müsstest auf einmal in ein richtig übles Viertel ziehen. Du siehst nicht gerade tough aus, Astrid.«

Astrid ließ sich nicht einschüchtern. »Was hat das alles ausgelöst? Ich meine die FAYZ. Hast du eine Ahnung?«

Diana lachte. »Außerirdische. Gott. Eine plötzliche Verlagerung im Raum-Zeit-Kontinuum. Ich habe gehört, wie dich jemand Astrid, das Genie, nannte. Du musst dir doch schon deine eigenen Gedanken gemacht haben. Ich hab von so was keinen blassen Schimmer. Es ist mir auch egal. Es ist passiert. Was soll’s.«

»Was will Caine?«

Jack staunte, wie unbeeindruckt Astrid von Dianas selbstbewusstem und stolzem Auftreten blieb. Die meisten gaben klein bei. Ihm fiel fast niemand ein, der sich ihr widersetzte. Und die, die es wagten, bereuten es später.

Jack meinte, in Dianas dunklen Augen ein anerkennendes Lächeln zu erkennen.

»Was Caine will? Er will, was er will. Und er bekommt es«, sagte Diana. »Lauf jetzt schnell rüber zur Beerdigung. Und pass auf deinen kleinen Bruder auf. Jack?«

Jack erwachte aus seiner Erstarrung. »Ja?«

»Komm mit!«

Während Jack Diana folgte, schämte er sich für seinen hündischen Gehorsam.

Sie gingen die Treppe zum Rathaus hinauf. Caine hatte sich im Büro des Bürgermeisters einquartiert. Er saß hinter einem massiven Schreibtisch aus Mahagoniholz in einem überdimensional großen weinroten Lederstuhl und ließ sich darin langsam hin und her schwingen.

»Wo warst du?«, fragte Caine.

»Jack holen.«

Caines Augen funkelten gefährlich. »Und wo war Computer-Jack?«

»Nirgends. Er hat sich verirrt, ist bloß rumgelaufen.«

Sie deckte ihn, Jack konnte es kaum glauben.

»Ich bin diesem Mädchen begegnet«, fuhr Diana fort. »Der Blonden mit dem seltsamen Bruder.«

»Und?«

»Sie wird Astrid, das Genie, genannt. Ich vermute, sie hat was mit dem Jungen, du weißt schon, dem vom Feuer.«

»Er heißt Sam«, erinnerte Caine sie.

»Astrid müssen wir im Auge behalten.«

»Hast du sie überprüft?«

»Nur kurz, deshalb bin ich mir auch nicht sicher.«

Caine streckte genervt die Hände aus. »Muss ich dir jedes Detail aus der Nase ziehen? Erzähl endlich!«

»Bei ihr dürften es zwei Balken sein.«

»Hast du herausgefunden, welche Kraft sie hat? Leuchter? Raser? Chamäleon? Hoffentlich keine zweite Dekka. Und auch keine Leserin wie du, Diana.«

Diana schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich weiß noch nicht einmal, ob es wirklich zwei Balken sind.«

Caine seufzte schwer, als lastete das Gewicht der ganzen Welt auf seinen Schultern. »Setz sie auf die Liste, Jack. Astrid, das Genie: ein Zweier. Mit Fragezeichen.«

Jack holte sein Palmtop hervor. Er konnte damit zwar nicht mehr ins Internet, aber alles andere funktionierte. Er tippte das Passwort ein und öffnete eine Datei.

Die Liste ging auf. Darauf waren achtundzwanzig Namen verzeichnet, lauter Coates-Schüler. Hinter jedem Namen kam eine Spalte mit einer Zahl zwischen eins und drei. Nur nach einem Namen stand eine Vier: Caine Soren.

Jack gab die Information ein.

Astrid??

An die Folgen, die sich daraus für das hübsche blonde Mädchen ergeben würden, wollte er lieber nicht denken.

»Das lief viel besser, als ich gehofft hatte«, sagte Caine zu Diana. »Ich habe von Anfang an gewusst, dass es einen Schlägertyp unter ihnen geben würde. Und einen geborenen Anführer. Der Schläger wird für uns arbeiten und den Anführer behalten wir im Auge, bis wir uns um ihn kümmern können.«

»Ich behalte ihn im Auge«, erwiderte Diana. »Ich finde ihn süß.«

»Konntest du ihn lesen?«

Jack hatte selbst gesehen, wie Diana Sams Hand geschüttelt hatte. Umso erstaunter war er, als sie sagte: »Nein, es gab noch keine Gelegenheit.«

Jack runzelte verwundert die Stirn. Andererseits musste sie ja wohl selbst am besten wissen, ob sie Sam überprüft hatte oder nicht.

»Tu es möglichst bald«, sagte Caine. »Du hast mitgekriegt, wie er von den anderen bewundert wird. Und als ich die Kinder der Perdido Beach School gefragt habe, wer für sie sprechen soll, fiel sein Name als erster. Mir gefällt es nicht, dass er der Sohn von Schwester Temple ist. Das ist ein unguter Zufall.«

Lana war geheilt, aber noch sehr schwach, hungrig und durstig. Am schlimmsten war der Durst. Der war kaum auszuhalten.

Andererseits war sie durch die Hölle gegangen und hatte überlebt. Das war zumindest ein Hoffnungsschimmer.

Die Sonne war bereits aufgegangen. Da Lana sich im Schatten der Schlucht befand, blieb sie von den Strahlen vorerst noch verschont. Sie wusste, dass sie es am ehesten zur Farm zurückschaffen würde, wenn sie sich auf den Weg machte, bevor der Boden so glühend heiß wurde wie ein frisch gebackener Kuchen.

»Jetzt nur nicht an Essen denken«, krächzte sie. Wenigstens hatte sie ihre Stimme nicht verloren, auch das machte ihr Mut.

Sie musste aus der Schlucht klettern, um zur Straße zu gelangen. Nachdem sie mehrere Anläufe unternommen und sich dabei beide Knie und Handflächen aufgeschürft hatte, gestand sie sich ein, dass es ihr nicht gelingen würde. Nicht einmal Patrick schaffte es nach oben. Der Hang war einfach zu steil.

Es blieb ihnen keine andere Wahl, als der Schlucht zu folgen und zu hoffen, dass sie früher oder später auf einen Ausgang stoßen würden. Ein leichter Marsch war es nicht. Die meiste Zeit war der Boden fest, doch an manchen Stellen rutschte das Geröll unter ihren Füßen weg und sie landete auf allen vieren.

Mit jedem Sturz wurde es schwerer, wieder aufzustehen. Patrick trottete hechelnd neben ihr her. Er war genauso erschöpft und wund gelaufen wie sie.

»Wir stehen das zusammen durch, Kleiner«, sagte Lana.

Das Gestrüpp zerkratzte ihr die Beine, die scharfen Kanten der Steine rissen ihre bloßen Füße blutig. Immer wieder musste Lana undurchdringlichem Dornengebüsch ausweichen. Einmal, als das nicht möglich war, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich vorsichtig einen Weg hindurchzubahnen, was eine Ewigkeit zu dauern schien und höllisch brennende Schrammen hinterließ.

Doch als das Gestrüpp hinter ihr lag, musste sie nur ihre Hand auf die Wunden legen und das Brennen ließ sofort nach. Zehn Minuten später war von den Verletzungen nichts mehr zu sehen.

Es war ihr völlig schleierhaft, wo diese Fähigkeit auf einmal herkam. Darüber würde sie sich jedoch erst später den Kopf zerbrechen. Momentan hatte sie andere Sorgen: Wie überwand sie am besten diese Anhöhe? Wie kam sie an dem Brombeergestrüpp vorbei? Und wo, um alles in der Welt, gab es in dieser ausgedörrten Landschaft Wasser?

Jetzt wünschte sie, sie hätte auf den Fahrten von und zur Farm besser aufgepasst. Führte die Schlucht denn überhaupt zur Farm oder lief sie an ihr vorbei? War sie schon fast da? Oder begab sie sich blindlings in die Wüste? Wurde bereits nach ihr gesucht?

Die Wände der Schlucht waren zwar immer noch zu steil, inzwischen verloren sie aber eindeutig an Höhe. Außerdem verengte sich die Schlucht immer mehr. Das musste ein gutes Zeichen sein. Wenn sie sich verengte und niedriger wurde, konnte das doch nur bedeuten, dass Lana sich dem Ausgang näherte. Oder?

Sie ging weiter, wobei sie stets zu Boden blickte und nach Schlangen Ausschau hielt. Plötzlich blieb Patrick wie angewurzelt stehen.

»Was ist?« Doch dann sah sie es selbst. Vor ihr erhob sich eine milchig weiße Wand. Sie lief quer durch die Schlucht und war unglaublich hoch.

Ihre schiere Größe und die Tatsache, dass sie wie ein Fremdkörper aus dem Nichts aufgetaucht war, jagten Lana furchtbare Angst ein.

Sie ging näher an die Wand heran. Patrick weigerte sich mitzukommen.

»Los, wir müssen uns das ansehen!«, rief sie.

Patrick war da anderer Ansicht, er rührte sich nicht von der Stelle.

Als sie davorstand, sah sie sich schwach darin gespiegelt.

»Wahrscheinlich ganz gut, dass ich mich nicht besser sehen kann«, murmelte sie.

Das getrocknete Blut hatte ihre Haare verfilzt, sie war völlig verdreckt und ihre Kleider waren zerrissen, bestanden eigentlich nur noch aus Fetzen.

Lana legte die letzten paar Schritte zur Barriere zurück und berührte sie mit dem Finger.

»Auuuh!« Ihre Hand schnellte zurück.

»Vielleicht so eine Art elektrischer Zaun?«, fragte sie sich leise. »Aber wieso gerade hier?«

Die Wand ließ ihr jedenfalls keine Wahl. Sie musste es noch einmal versuchen und an einer der beiden Flanken der Schlucht hochklettern. Das Problem war nur, dass die Farm mit ziemlicher Sicherheit auf der linken Seite lag und die stieg kerzengerade nach oben. Dafür hätte Lana ein Kletterseil und Felshaken benötigt.

Auf der rechten Seite konnte sie es schaffen, wenn sie sich über die abgestürzten Felsbrocken und Vorsprünge hochzog. Doch dann läge die Schlucht zwischen ihr und der Farm.

Die Alternative wäre gewesen, den ganzen Weg zurückzulaufen. Lana und Patrick hatten den halben Tag gebraucht, um hierherzugelangen. Gingen sie jetzt zurück, wären sie bis zum Anbruch der Dunkelheit wieder dort, wo sie losgezogen waren – sie würden an ihren Ausgangspunkt zurückkehren, um dort zu sterben.

»Komm, Patrick, wir müssen hier raus.«

Der Aufstieg schien eine geschlagene Stunde zu dauern und ihr die letzten Kräfte zu rauben. Hinzu kam, dass sie sich die ganze Zeit von der unheilvollen Wand beobachtet fühlte, die ihr inzwischen wie ein lebendiges Wesen vorkam, eine unermessliche und bösartige Kraft, die wild entschlossen war, sie aufzuhalten.

Als Lana den Rand der Schlucht erreicht hatte, schirmte sie die Augen mit der Hand ab, um sie vor dem grellen Sonnenlicht zu schützen, und blickte sich in alle Richtungen um.

In diesem Moment wäre Lana beinahe zusammengebrochen. Weit und breit keine Straße. Keine Spur von der Farm. Nur eine staubtrockene Ebene, die nach rund zwei Kilometern auf einen endlosen Gebirgskamm stieß, wo sie wieder klettern müsste.

Und außerdem diese schreckliche Wand, die gar nicht da sein dürfte.

In der einen Richtung schnitt ihr die Schlucht den Weg ab, in der anderen der Gebirgskamm und in der dritten die Wand, die über der Landschaft lag, als wäre sie vom Himmel gefallen. Ihr blieb keine andere Wahl, sie musste denselben Weg zurückgehen.

Lana spähte blinzelnd zu dem in der Ferne liegenden Gebirge.

»Moment!«, rief sie. »Dort ist irgendwas.«

An die Wand geschmiegt, nicht weit vom Fuß der Berge entfernt, flimmerte ein grüner Streifen in der Hitze. Das konnte nur eine Fata Morgana sein.

Aber der grüne Streifen blieb und wurde mit jedem ihrer Schritte größer.

Halb blind vom unbarmherzig starken Licht der Sonne, schleppte sich Lana vorwärts, bis ihr Fuß plötzlich auf eine Wiese trat.

Ihre Zehen spürten das weiche, saftige Gras.

Die Wiese war winzig, vier mal vier Meter. In ihrer Mitte stand ein Rasensprenger. Er war nicht aufgedreht, aber an einen Gartenschlauch angeschlossen. Der Schlauch lief um eine kleine, fensterlose Holzhütte herum.

Die Hütte war kaum größer als ein Zimmer. Hinter ihr befand sich ein zur Hälfte eingestürzter Verschlag. Und eine Art Windmühle, eigentlich nur ein alter Flugzeugpropeller, der auf einem sechs Meter hohen, baufälligen Turm befestigt war.

Lana taumelte den Schlauch entlang. Er mündete in einen Stahltank, der unter der behelfsmäßigen Windmühle auf einer Plattform aus Eisenbahnschwellen stand. Unter der Windmühle ragte ein rostiges Rohr aus der Erde. Der Gartenschlauch steckte in einem am Tank angeschweißten Wasserhahn.

»Ein Brunnen, Patrick!«

Lana zerrte hektisch an dem Schlauchanschluss.

Er löste sich.

Sie drehte am Wasserhahn. Er ließ sich bewegen. Heißes Wasser, das nach Mineralien und Rost roch, schoss hervor.

Lana trank. Patrick auch.

Sie ließ das Wasser über ihr Gesicht laufen. Ließ es durch das verfilzte Haar strömen und wusch das Blut heraus.

Doch sie wollte es nicht verschwenden und drehte den Hahn rasch wieder zu. Den letzten Tropfen fing sie mit der Fingerspitze auf. Sie löste damit die Blutkruste von ihrem Augenlid.

Und dann, zum ersten Mal seit einer Ewigkeit, lachte sie. »Wir sind nicht tot, Patrick!«, rief Lana. »Noch nicht.«

GONE Verloren
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