Dreissig

108 Stunden, 12 Minuten

Sie verließen den Stefano Rey Nationalpark und stiegen auf der landeinwärts gelegenen Seite des Gebirgszugs wieder ab. Das Terrain wurde trockener, die Bäume waren kleiner, standen weiter auseinander und waren von hohem sandfarbenem Gras umgeben.

An diesem Morgen waren die fünf auf einen Campingplatz gestoßen und hatten Rucksäcke, Nahrungsmittel und Schlafsäcke gefunden, die niemandem mehr gehörten. Edilio und Quinn besaßen jetzt beide ein gutes Messer. In Quinns Rucksack befanden sich außerdem noch mehrere Taschenlampen und Batterien.

Nachdem sie gegessen hatten, waren alle besserer Laune gewesen. Selbst der kleine Pete hatte ausgesehen, als würde er lächeln.

Sie folgten weiterhin der Barriere. Es war sehr unheimlich. Sie stießen auf Bäume, die in der Mitte durchgeschnitten waren und deren Äste in der Wand verschwanden oder aus ihr herausragten. Die Äste fielen nicht herunter, waren aber eindeutig am Absterben. Ihre Blätter waren welk, als bekämen sie keine Nährstoffe mehr. Die Mauer lief über Felsen und durch Büsche, bahnte sich unaufhaltsam ihren Weg.

War nirgends unterbrochen.

Hörte nirgendwo auf.

»Auf welche Musik stehst du?«, fragte Sam Astrid.

»Lass mich raten«, fiel Quinn ihr ins Wort. »Klassik. Und Jazz.« Das Wort »Jazz« sprach er näselnd aus.

»Eigentlich…«

»Eine Schlange!« Edilio stolperte rückwärts, fiel hin, war aber sofort wieder auf den Beinen und grinste die andere verlegen an. Schon etwas gelassener wiederholte er: »Dort ist eine Schlange.«

»Ich will sie sehen.« Astrid näherte sich vorsichtig der Stelle. Sam und Quinn blieben auf Abstand.

»Ich mag keine Schlangen«, gestand Edilio kleinlaut.

Sam grinste. »Ja, das ist mir aufgefallen. An deinem eleganten Ausweichmanöver.« Er klaubte das trockene Laub von Edilios Rücken.

»Das solltet ihr euch ansehen!«, rief Astrid.

»Ihr seht es euch an«, meinte Edilio. »Ich hab sie schon gesehen – einmal reicht mir.«

»Es ist keine Schlange«, sagte Astrid. »Besser gesagt, es ist nicht nur eine Schlange. Keine Sorge. Sie steckt in einem Loch.«

Sam kam zögernd näher. Zuerst erkannte er nur den dreieckigen Kopf, der in ungefähr einem halben Meter Tiefe aus einem mit Laub ausgelegten Erdloch hervorlugte. »Ist das eine Klapperschlange?«

»Nicht mehr«, antwortete Astrid. »Komm hierher und stell dich hinter mich!« Als Sam hinter ihr stand, fuhr sie fort: »Siehst du? Da unterhalb ihres Kopfes.«

»Was ist das?« An beiden Seiten des Schlangenkörpers hingen zwei lederartige graue Lappen. Sie hatten zwar keine Schuppen, waren aber von winzigen rosafarbenen Venen durchzogen.

»Sie sehen aus wie verkümmerte Flügel.«

»Astrid, Schlangen haben keine Flügel.«

»Früher nicht«, entgegnete sie düster.

Sie zogen sich langsam zurück und gesellten sich wieder zu den anderen. Pete betrachtete den Himmel, als würde er jemanden erwarten.

»Was war das, Sam?«, fragte Quinn.

»Eine Klapperschlange mit Flügeln.«

»Ah. Gut. Ich hatte schon befürchtet, dass uns langsam die Sorgen ausgehen.«

»Mich überrascht das nicht«, sagte Astrid. Als die anderen sie ratlos anstarrten, erklärte sie: »Inzwischen ist doch klar, dass in der FAYZ eine Art beschleunigte Mutation stattfindet. Bei Pete, Sam und den anderen hat die Mutation schon vorher begonnen. Ich vermute, dass die FAYZ den Prozess enorm ankurbelt. Erinnert euch nur mal an die mutierte Möwe. Und jetzt das.«

»Lasst uns weitergehen!«, sagte Sam. Es hatte keinen Sinn, herumzustehen und sich den Kopf zu zerbrechen.

Von nun an hielten sie den Blick auf den Boden gerichtet und achteten darauf, wo sie ihre Füße hinsetzten.

Zu Mittag machten sie eine Pause, da Pete in den Sitzstreik getreten und kurz davor war, ein Kreischkonzert zu veranstalten. Sam entfernte sich von seinen Freunden. Er musste allein sein, nachdenken. Er spürte, dass sie einen Plan von ihm erwarteten.

Sie befanden sich immer noch oberhalb der Talsohle, inzwischen jedoch auf freiem felsigem Gelände, das weiter unten in die Wüste überging. Die Sonne brannte gnadenlos auf sie herab und es war nichts zu sehen, was ihnen Schutz oder wenigstens Schatten geboten hätte – nur die Barriere, die sich endlos weit erstreckte. Auf dieser Höhe hätte es eigentlich möglich sein müssen, über sie drüberschauen zu können, aber Astrid hatte Recht: Egal wo man sich befand, die Wand wirkte überall gleich hoch, gleich undurchdringlich.

Die Wand schimmerte grau, bei Tag und bei Nacht. Sie reflektierte leicht, daher meinten sie manchmal, eine Öffnung zu erkennen oder Bäume, die über die Barriere hinausragten, oder ein Stück Landschaft, das durch ein größeres Loch zu erspähen war. Doch das alles stellte sich unweigerlich als optische Täuschung heraus.

Als Astrid zu ihm kam, spürte er es, bevor er sie hörte.

»Es ist eine Kugel, nicht wahr?«, fragte er leise. »Sie läuft um uns herum, unter uns durch und über uns drüber.«

»Ja, ich glaube schon.«

»Warum sehen wir in der Nacht die Sterne? Und tagsüber die Sonne?«

»Ich bin mir nicht sicher, dass wir tatsächlich die Sonne sehen. Das könnte eine Art Rückspiegelung sein.« Sie trat absichtlich auf einen Zweig und brach ihn entzwei. »Ich weiß es nicht.«

»Du hasst es, ›ich weiß es nicht‹ zu sagen, stimmt’s?«

Astrid lachte. »Gut beobachtet.«

Sam seufzte und ließ den Kopf hängen. »Wir vergeuden unsere Zeit. Ich meine, mit der Suche nach einer Pforte. Nach einem Ausgang.«

»Ja, es gibt wahrscheinlich keinen.«

»Gibt es die Welt überhaupt noch? Die auf der anderen Seite?«

Sie setzte sich neben ihn, ohne ihn jedoch zu berühren. »Ich habe viel darüber nachgedacht. Deine Idee mit dem Ei fand ich gut, aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass die Barriere nur eine Wand ist. Eine Wand erklärt nicht, was mit uns geschieht. Mit dir und Pete, den Vögeln und den Schlangen. Und sie erklärt auch nicht, warum alle über fünfzehn verschwunden sind. Und weiterhin verschwinden.«

»Wie lässt es sich dann erklären?« Er hob eine Hand. »Warte, ich will nicht, dass du wieder sagen musst, du weißt es nicht.«

»Erinnerst du dich an Quinns Vergleich? Als er meinte, jemand hätte sich ins Universum gehackt.«

»Ich dachte, du bist das Genie.«

Sie ignorierte seine Stichelei. »Das Universum funktioniert nach bestimmten Regeln. Wie das Betriebssystem eines Computers. Nichts von dem, was wir momentan sehen und erleben, ist mit dem Betriebssystem unseres Universums möglich. Die Art und Weise, wie Caine Dinge bewegt. Wie du Licht aus deinen Händen abfeuerst. Das sind nicht bloß Mutationen. Das verstößt gegen die Naturgesetze.«

»Und weiter?«

Sie schüttelte verzagt den Kopf, als würde sie selbst an dem zweifeln, was sie ihm sagen wollte. »Deshalb nehme ich an, dass es … dass wir uns nicht mehr in dem alten Universum befinden.«

Sam starrte sie entgeistert an. »Es gibt doch nur ein Universum.«

»Die Theorie von mehr als einem Universum oder von Parallelwelten existiert schon lange. Aber vielleicht ist etwas passiert, was dazu geführt hat, dass die Regeln des alten Universums allmählich verändert wurden. Erst nur ein wenig, bloß in einem kleinen Bereich. Aber dies löste weitere Reaktionen aus und irgendwann war es dem alten Universum nicht mehr möglich, diesen Neuerungen Herr zu werden. Es entstand ein zweites Universum. Ein sehr kleines.« Als sie jetzt tief einatmete, klang es, als wäre sie gerade eine schwere Last losgeworden. »Nur damit du es weißt, Sam. Ich mag gescheit sein, ich bin aber sicher kein Stephen Hawking.«

»Als hätte jemand ein Virus in die Software des alten Universums installiert.«

»Genau. Es fing klein an. Einige veränderten sich. Pete. Du. Caine. Vor allem Kinder, weil sie noch nicht vollständig entwickelt sind. Sie sind noch wandelbar. Und dann, an jenem Morgen, muss etwas passiert sein, was alles aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Vielleicht waren es sogar mehrere Dinge gleichzeitig.«

»Wie kommen wir durch diese Barriere, Astrid?«

Sie legte ihre Hand auf seine. »Sam, ich glaube nicht, dass es ein ›durch‹ gibt. Wenn wir wirklich in einem anderen Universum sind, haben wir keinerlei Berührungspunkte mit der alten Welt. Vielleicht sind wir wie Seifenblasen, die aufeinander zuschweben und sich vereinen können. Vielleicht sind wir aber auch wie Seifenblasen, die Trillionen Kilometer voneinander entfernt sind.«

»Aber was ist dann auf der anderen Seite der Barriere?«

»Nichts. Es gibt keine andere Seite. Die Barriere könnte das Ende dieses neuen Universums sein.«

»Ich werde es jedenfalls bald herausfinden, in weniger als einer Woche. Dann werde ich fünfzehn.«

Darauf wusste Astrid nichts zu sagen. Sie saßen nebeneinander und ließen ihren Blick über die Wüste schweifen. In der Ferne trottete ein einsamer Kojote mit gesenktem Kopf dahin, offensichtlich schnüffelte er den Boden ab. Am Himmel zog ein Bussardpaar träge seine Kreise.

Nach einer Weile beugte Sam sich zu Astrid und stellte fest, dass ihre Lippen ihn schon erwarteten. Es fühlte sich ganz einfach an. So einfach und so natürlich, dass Sam meinte, das Herz würde ihm aus der Brust springen.

Danach saßen sie schweigend und aneinandergelehnt da und genossen die körperliche Nähe.

»Weißt du was?«, sagte Sam schließlich.

»Was?«

»Ich kann mich die nächsten vier Tage nicht einfach nur verstecken.«

Astrid nickte. Er spürte diese Bewegung eher, als dass er sie sah.

»Du machst mir Mut. Ist dir das bewusst?«

»Dabei will ich gar nicht mehr, dass du mutig bist. Ich will, dass du bei mir bist. In Sicherheit und nicht in Gefahr. Bleib einfach bei mir, in meiner Nähe.«

»Zu spät«, sagte er mit gespielter Leichtigkeit. »Wenn ich von der Bildfläche verschwinde, was passiert dann mit dir und dem kleinen Pete?«

»Wir können auf uns selbst aufpassen«, log sie.

Er streichelte ihr Haar. »Die Sache ist die, Astrid, ich kann meine Zeit damit verbringen, mich zu fürchten und nach einer Fluchtmöglichkeit zu suchen. Oder ich kann die Zeit nutzen und mich wehren. Wenn ich dann tatsächlich verschwinde, vielleicht seid dann wenigstens ihr, ich meine, du und der kleine Pete…«

»Wir könnten alle…«

»Nein. Wir können uns nicht in den Wäldern verstecken und von Campingnahrung leben. Wir können nicht so tun, als ginge uns das Ganze nichts an.«

Astrids Lippen bebten. Sie wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.

»Wir müssen zurück. Zumindest ich. Astrid, ich muss mich wehren.«

Er nahm ihre Hand und zog sie hoch. Sie gingen wieder zu den anderen.

»Edilio, Quinn. Ich habe vieles falsch gemacht. Und vielleicht mache ich jetzt den nächsten Fehler, aber ich habe keine Lust mehr, dem Kampf aus dem Weg zu gehen. Ich habe keine Lust mehr davonzulaufen. Ich will aber auch nicht, dass euch wegen mir etwas zustößt. Deshalb müsst ihr selbst entscheiden, ob ihr mitkommt. Ich gehe nach Perdido Beach zurück.«

Quinn wirkte alarmiert. »Wir werden gegen Caine und seine Leute kämpfen?«

»Na endlich!«, sagte Edilio.

GONE Verloren
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