Siebenundzwanzig

125 Stunden, 57 Minuten

Bis ans Ende der Reifenspuren war es viel weiter, als Lana gedacht hatte. Was wie maximal drei Kilometer ausgesehen hatte, mussten in Wirklichkeit fünf gewesen sein. Außerdem war sie in der ärgsten Hitze losgegangen, beladen mit Wasser und Nahrungsmitteln, was das Ganze auch nicht einfacher gemacht hatte.

Inzwischen war es später Nachmittag. Die Spuren gingen am Fuß des Gebirges weiter und um eine in den Wüstensand ragende Felszunge.

Nachdem sie auf müden Beinen um sie herumgestapft war, staunte sie nicht schlecht, als sich dahinter eine verlassene Goldgräberstadt auftat. Ein gespenstisch stiller Ort, der trostlos und verfallen wirkte. Die eingeschlagenen Fenster schienen sie wie traurige Augen anzustarren.

Am Ende der beidseitig von Ruinen gesäumten Hauptstraße fiel ihr ein robusteres Gebäude auf, eine Art Schuppen aus dem gleichen grauen Holz wie die anderen Häuser, aber intakt und mit einem Blechdach versehen. Dorthin führten die Reifenspuren.

»Komm, Kleiner!«, sagte sie.

Patrick lief voraus, schnüffelte an einem Grasbüschel neben dem Eingang zum Schuppen und kehrte mit aufgestelltem Schwanz zurück.

»Es ist keiner da«, beruhigte Lana sich selbst. »Sonst hättest du gebellt.«

Sie stieß die Tür auf.

Durch die Löcher und Nahtstellen im Blechdach und die Astlöcher im Holz fielen zwar ein paar Lichtstrahlen, aber sie konnten der im Inneren herrschenden Dunkelheit nur wenig anhaben.

Da stand ein Laster.

»Hallo?« Sie wartete kurz ab. »Ist da jemand?«

Sie sah sich den Laster genauer an. Der Tank war halb voll, es steckte aber kein Schlüssel. Sie durchsuchte das Fahrerhaus von oben bis unten. Nichts.

»Okay, entweder wir finden den Schlüssel und bringen uns beim Fahren um«, fasste Lana die Lage zusammen, »oder wir marschieren in der Hitze nach Perdido Beach und verdursten unterwegs.«

An der Rückwand des Schuppens befand sich eine weitere Tür, die auf einen festgetretenen Pfad hinausging. Er wand sich durch unschöne Felshaufen, führte an einem Schrottplatz mit ausrangierten, rostigen Maschinen vorbei und stieg einen Hang hinauf, wo sich auf halber Höhe eine von Holzpfosten gerahmte Öffnung auftat. Das schiefe und schon etwas baufällige schwarze Rechteck sah aus, als hätte der Berg erstaunt sein Maul aufgerissen, und zeigte schartige, vorstehende Zähne.

Ein schmales Bahngleis führte in das Bergwerk hinein.

»Da gehen wir lieber nicht rein, oder?«, sagte Lana zu ihrem Hund.

Patrick näherte sich vorsichtig der Öffnung, dann hob er den Kopf und stieß ein tiefes Knurren aus.

Er knurrte jedoch nicht die Öffnung an.

Jetzt hörte auch Lana das Tappen von Pfoten. Sie sah den Hang hinauf und erblickte ein Rudel Kojoten, das wie eine Lawine ins Tal gerast kam. Es waren an die zwanzig Tiere, vielleicht auch mehr.

Sie preschten den Hang herunter und je näher sie ihr kamen, umso deutlicher vernahm sie die heiseren Stimmen: »Fressen, Fressen!«

»Nein, nein«, sagte Lana laut.

Sie musste sich das alles einbilden.

Lana warf einen panischen Blick über ihre Schulter. Der Schuppen lag weit unter ihr, außerdem war der rechte Flügel des Rudels bereits ausgeschert, um ihr den Weg dorthin abzuschneiden.

»Patrick!«, rief sie und stürzte in das Bergwerk.

Kaum hatten sie die Öffnung hinter sich gelassen, wurde es mindestens zehn Grad kälter. Als hätte jemand eine Klimaanlage angeworfen. Bis auf das Licht, das von draußen hereindrang, war es stockfinster.

Hier stank es ekelhaft. Ein Geruch nach Fäulnis, süß und widerlich.

Die Kojoten hatten den Eingang zum Stollen erreicht, blieben aber draußen.

Lana tastete sich durch die Dunkelheit. Ihre Hand bekam Steine von der Größe einer Faust zu fassen. Sie schleuderte sie, ohne zu zielen, in Richtung der Kojoten.

»Weg da! Kscht! Haut ab!«

Auf einmal teilte sich das Rudel und bildete eine Gasse. Ein Kojote, er war zwar nicht der größte, aber mit Abstand der hässlichste, schritt mit erhobenem Kopf durch das Spalier. Eines seiner übergroßen Ohren war zur Hälfte abgerissen, rund um das Maul hatten sich nackte Stellen gebildet und eine der Lefzen wurde von einer alten Narbe verunstaltet. Dadurch entstand der Eindruck, als fletschte er permanent die Zähne.

Der Anführer der Kojoten knurrte sie an.

Sie fuhr zusammen, drohte ihm aber mit einem großen Stein.

»Bleib, wo du bist!«, zischte Lana ihm zu.

»Kein Mensch hier.« Die Stimme war zwar hoch, aber von einer gurgelnden Heiserkeit, als würde jemand mit schweren Schuhen über nasse Kieselsteine schlurfen.

Ein paar Sekunden lang starrte Lana ihn an. Das war doch nicht möglich.

»Was?«

»Geh raus«, sagte der Kojote. Diesmal war es kein Irrtum. Sie hatte gesehen, wie sich sein Maul bewegte und die Zunge an die spitzen Zähne stieß.

»Du kannst nicht sprechen«, entfuhr es Lana. »Das gibt es nicht.«

»Geh raus.«

»Ihr werdet mich töten.«

»Ja. Geh raus, stirb schnell. Bleib, stirb langsam.«

»Du kannst tatsächlich sprechen.« Lana hatte das Gefühl, gleich den Verstand zu verlieren.

Der Kojote erwiderte nichts.

Lana hielt ihn hin. »Warum kann ich nicht im Bergwerk bleiben?«

»Kein Mensch hier.«

»Warum?«

»Geh raus.«

»Komm, Patrick«, flüsterte Lana mit bebender Stimme. Sie wich rückwärtsgehend vor dem Anführer des Rudels zurück und drang tiefer in die Dunkelheit ein.

Ihr Fuß berührte etwas. Als sie den Blick senkte, sah sie ein Bein aus einer blutbefleckten Hose ragen. Deshalb stank es so. Einsiedler Jim war schon lange tot.

Sie sprang hinter die Leiche, die nun zwischen ihr und dem Kojoten lag.

»Ihr habt ihn umgebracht.«

»Ja.«

»Warum?« Sie entdeckte eine Taschenlampe, bückte sich rasch und hob sie auf.

»Kein Mensch hier.«

Plötzlich bellte der Kojote und wie auf Kommando stürzte das Rudel in den Stollen. Lana und Patrick wirbelten herum und rannten los.

Während sie flohen, tastete Lana die Lampe nach einem Schalter ab. Die Dunkelheit ging rasch in völlige Finsternis über.

Ein stechender Schmerz fuhr ihr durch den Knöchel und sie wäre beinahe hingefallen, biss aber die Zähne zusammen und lief weiter. Endlich fand sie den Schalter, drückte darauf und plötzlich war der Schacht in gespenstisches Licht getaucht, das die scharfen Felsvorsprünge und brüchigen Holzbalken sichtbar machte. Ihre Schatten wanderten über die Wände wie die Krallen eines Ungeheuers und schienen sich nach ihr auszustrecken.

Das Auftauchen des Lichts hatte den Kojoten einen Schreck eingejagt und sie blieben stehen. Lana sah das Glitzern ihrer Augen, das weiße Grinsen ihrer gefletschten Zähne.

Und dann griffen sie an.

Einer erwischte sie am Unterschenkel, ließ seine Kiefer zuschnappen wie ein Fangeisen und brachte sie zu Fall. Die Kojoten fielen von allen Seiten über sie her. Ihr Gestank drang in ihre Nase, ihr Gewicht nagelte sie fest. Sie wollte sich auf ihre Ellbogen stützen, doch sofort legte sich der nächste Kiefer wie ein Schraubstock um ihren Oberarm und sie fiel erneut hin. Diesmal glaubte sie, nie wieder aufstehen zu können. Sie hörte Patricks entsetztes Bellen, das viel tiefer und lauter klang als das durchdringende Kläffen der Kojoten.

Mit einem Mal ließen sie von ihr ab. Die Kojoten winselten überrascht, tänzelten unruhig hin und her und schwangen ihre Köpfe vor und zurück.

Lana lag aus Dutzenden Bisswunden blutend im gespenstischen Lichtkegel der Lampe.

Der Anführer des Rudels knurrte und die Kojoten beruhigten sich, aber irgendetwas hatte ihnen Angst eingejagt und ängstigte sie immer noch. Sie wirkten angespannt und lauschte mit gespitzten Ohren in die Tiefe des Schachts – als hörten sie etwas.

Sie griffen Lana nicht mehr an. Sie war keine Beute mehr, sondern ihre Gefangene.

Der Anführer kam langsam auf sie zu und stieß sie mit der Schnauze an. »Geh, Mensch.«

Sie beugte sich vor und legte ihre Hand auf die tiefe Wunde an ihrem Unterschenkel. Mit der beginnenden Heilung ließ der Schmerz nach.

Beim Aufstehen spürte sie, dass sie überall blutete, doch der Rudelführer trieb sie erbarmungslos immer weiter in den Stollen hinein. Patrick blieb dicht neben Lana, die Kojoten folgten ihnen.

Es ging die ganze Zeit bergab. Irgendwann hörten die Schienen auf und sie gelangten in einen Raum, der wie ein frisch gegrabener Stollen aussah. Das Holz der Deckenstützen war erst kürzlich geschnitten worden, die Nägelköpfe glänzten noch. Auf dem Boden lag weniger Geröll und ihre Füße wirbelten auch keine jahrzehntealte Staubschicht mehr auf.

Lana spürte ein ihr völlig unbekanntes und mit jedem Schritt größer werdendes Grauen. Das war nicht die verzweifelte und Luft abschnürende Todesangst, die sie in der Wüste erlebt hatte. Was sie jetzt empfand, war lähmend, eine Angst, die ihrem Körper jede Wärme zu entziehen schien und ihre Adern mit Eiswasser füllte.

Ihr war kalt. Durch und durch kalt.

Alles in ihr schrie nach Flucht. Sie konnte aber nicht rennen, schaffte es körperlich nicht. Es war, als hätte sie keinen eigenen Willen mehr und gehorchte einer Kraft, die sie vorwärtszog.

Patrick hielt es irgendwann nicht mehr aus. Er kehrte um, bahnte sich einen Weg durch die Kojoten und raste davon.

Sie wollte ihn rufen, über ihre tauben Lippen kam jedoch kein Laut.

Es ging immer tiefer und tiefer. Wurde kälter und kälter.

Das Licht der Taschenlampe ließ nach. Lana bemerkte, dass die Höhlenwände einen schwachen Grünschimmer angenommen hatten.

Jetzt war es ganz nah. Was auch immer es war.

Die Taschenlampe entglitt ihren klammen Fingern.

Etwas zog ihre Pupillen nach oben. Ihre Beine gaben nach und sie sackte zusammen, schlug mit den Knien auf den spitzen Steinen auf, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Lana verharrte halb blind in dieser knienden Haltung. Eine donnernde Stimme ertönte in ihrem Kopf. Ihr Rücken bog sich krampfhaft durch und sie fiel auf die Seite. Jeder Nerv, jede Zelle in ihrem Körper schrie vor Schmerz. Es fühlte sich so an, als würde sie bei lebendigem Leib in kochendes Wasser getaucht werden.

Wie lange sie diese schrecklichen Qualen durchlitt, würde sie nie erfahren.

Und an das, was sie hörte, würde sie sich nicht erinnern können.

Später würde sie wieder zu sich kommen, aber erst nachdem sie von zwei Kojoten aus der Höhle gezerrt worden war.

Sie schleppten sie aus dem Stollen.

Und warteten geduldig ab, ob sie leben oder sterben würde.

GONE Verloren
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