Siebzehn

169 Stunden, 18 Minuten

»Ich brauch mehr Pillen!«, schrie Cookie.

Zu Dahras Leidwesen schien seine Stimme niemals leiser oder heiserer zu werden.

»Dafür ist es noch zu früh«, sagte sie zum millionsten Mal in den letzten drei Tagen.

»Gib mir was!«, brüllte Cookie. »Es tut so weh! Ich halt das nicht mehr aus!«

Dahra hielt sich beide Ohren zu und versuchte noch einmal, dem vor ihr liegenden Text einen Sinn abzugewinnen. Wenn sie wenigstens einen Internetanschluss hätte. Dann könnte sie in Google einfach Hydrocodon und Überdosis eingeben. Doch das dicke, abgegriffene Handbuch für Ärzte, das ihr jemand aus der einzigen Arztpraxis in Perdido Beach gebracht hatte, lieferte keine eindeutigen Antworten.

Seit sie unbeabsichtigt zur Verantwortlichen für dieses armselige, düstere, fensterlose, trübsinnige und unterirdische Königreich des Elends im Keller der Kirche gemacht worden war, hatte Dahra Dinge getan, von denen sie nie gedacht hätte, dass sie dazu imstande war. Dinge, die sie jedenfalls nie tun wollte, zum Beispiel einem siebenjährigen Diabetiker seine täglichen Insulinspritzen zu verabreichen.

Plötzlich schwangen die Türen zum Krankenhaus auf. Dahra wandte sich um und erkannte Bette. Sie taumelte herein und presste die rechte Hand an ihren Kopf.

»Mein Kopf tut weh«, sagte sie.

Dahra verstand sie kaum, da sie lallte. Ihr linker Arm schien irgendwie leblos, er hing schlaff an der Seite. Beim Näherkommen zog Bette ihr linkes Bein nach.

Dahra lief zu ihr hin und konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie zusammenbrach. Dann rief sie nach Elwood. Er eilte herbei und half ihr, Bette auf ein Bett zu legen.

»Gebt mir was gegen die Schmerzen!«, heulte Cookie.

»Sei endlich still!«, schrie Dahra. Sie legte die Hände an ihre Ohren und drückte die Augen zu. »Seid alle still!«

Bette flüsterte, dass es ihr leidtue. Es klang jedoch eher nach: »Studmrld.«

»Nicht du, Bette«, entschuldigte sich Dahra. »Leg dich hin.«

Dahra holte das Handbuch für Ärzte und blätterte rasch durch den Index.

»Mnkpftudwe«, stammelte Bette leise. Sie hob ihren heilen Arm und berührte die blutige Beule an der Schläfe.

»Bist du geschlagen worden?«, fragte Elwood.

Bette schien die Frage zu verwirren. Sie runzelte die Stirn, als ergäbe sie keinen Sinn, und stöhnte vor Schmerzen.

»Eine Körperhälfte funktioniert nicht richtig«, sagte Dahra. »Sieh nur, wie ihr Mund herunterhängt. Und ihre Augen. Sie passen nicht zusammen.«

»Mnkpfdusowe«, jammerte Bette.

»Ich glaube, sie sagt, ihr Kopf tut sehr weh«, sagte Elwood. »Was sollen wir tun?«

»Woher soll ich das wissen? Aber wie wär’s, wenn ich ihren Kopf aufschneide und nachsehe, ob ich ihn reparieren kann?« Dahras Stimme war schrill. »Dann operiere ich schnell mal Cookie. Kein Problem. Ich hab ja dieses blöde Buch.«

Sie schlug das Buch zu und warf es quer durch den Raum. Es schlitterte über den glänzenden Steinboden.

Dahra holte mehrmals tief Luft. Cookie rief jetzt abwechselnd nach seinen Pillen und nach jemandem, der ihn aufs Klo bringen sollte.

»Kmrtch ummeim Buah«, sagte Bette. Sie griff nach Elwoods Arm. »Mnklner Buah.«

Bettes Gesicht verzerrte sich wieder vor Schmerz. Und dann entspannte es sich.

»Bette?« Dahra erschrak fürchterlich. »Oh nein, Bette! Tu das nicht!«

Bette rührte sich nicht.

Dahra legte zwei Finger an Bettes Hals.

»Was hat sie gesagt?«, fragte Elwood.

»Ich glaube, sie wollte, dass wir uns um ihren kleinen Bruder kümmern.« Sie nahm ihre Finger von Bettes Hals und streichelte das Gesicht des Mädchens, als nähme sie zögernd Abschied.

»Ist sie…?« Elwood konnte die Frage nicht beenden.

»Ja«, flüsterte Dahra. »Wahrscheinlich ist es in ihrem Kopf zu einer inneren Blutung gekommen, nicht nur außen. Wer immer sie geschlagen hat, hat sie umgebracht.«

»Jetzt ist sie bei Gott«, murmelte Elwood.

»Ich glaube nicht, dass es in der FAYZ einen Gott gibt.«

Sie begruben Bette um ein Uhr nachts neben dem Feuerkind. Es gab keinen Ort, um die Toten aufzubahren, und keine Möglichkeit, sie für die Beerdigung vorzubereiten.

Edilio hob mit dem Bagger das Grab aus. Der Lärm des Fahrzeugs, das Aufheulen des Motors, die ruckartigen Bewegungen der Schaufel, all das schien entsetzlich laut und entsetzlich fehl am Platz.

Außer Sam, Astrid und dem kleinen Pete waren noch Mary, die Zwillinge Anna und Emma und Dahras Freund Elwood gekommen – Dahra war bei Cookie geblieben. Bettes kleiner Bruder, ein neunjähriger Junge, stand schluchzend neben Mary, die ihren Arm um ihn gelegt hatte. Quinn hatte beschlossen, nicht teilzunehmen.

Sam und Edilio hatten Bettes Leiche die wenigen Meter vom Keller der Kirche bis zu der Stelle auf der Plaza getragen.

Sie hätten Bette gerne sanft und würdevoll in das Grab gesenkt, doch sie wussten nicht, wie sie das anstellen sollten, und am Ende rollten sie sie hinein. Es klang, als wäre ein großer Rucksack zu Boden gefallen.

»Wir sollten etwas sagen«, schlug Anna vor. »Etwas über Bettes Leben.«

Also erzählten sie der Reihe nach kleine Geschichten, an die sie sich erinnern konnten. Keiner von ihnen war eng mit ihr befreundet gewesen.

Dann setzte Astrid zum Vaterunser an: »Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name.« Pete fiel mit ein und sagte das Gebet zusammen mit seiner Schwester auf. Es waren mehr Worte, als irgendwer jemals aus seinem Munde gehört hatte. Bis auf Sam schlossen sich alle ihnen an.

Nachdem jeder von ihnen eine Schaufel Erde in das Grab geworfen hatte, machten sie Edilio und dem Bagger Platz.

»Morgen stelle ich ein Kreuz für sie auf«, sagte Edilio, als er fertig war.

Als sich die kleine Versammlung auflöste, tauchten Orc und Howard auf – wie zwei Gespenster im Nebel. Niemand sprach mit ihnen. Nach ein paar Minuten verschwanden sie wieder.

»Ich hätte Bette nicht nach Hause gehen lassen dürfen«, sagte Sam zu Astrid.

»Du bist kein Arzt. Woher solltest du wissen, dass sie eine innere Verletzung hatte? Außerdem hättest du nichts tun können. Viel wichtiger ist, was machen wir jetzt?«

»Wie meinst du das?«

»Orc hat Bette ermordet. Die Frage ist, was wir jetzt tun.«

»Wahrscheinlich ohne Absicht, aber du hast Recht. Er hat sie umgebracht.«

»Wir können zumindest verlangen, dass Orc zur Verantwortung gezogen wird«, sagte Astrid.

»Von wem?« Sam zog den Reißverschluss seiner Jacke zu. Es war recht kühl. »Willst du etwa Gerechtigkeit fordern? Von Caine?«

»Eine rhetorische Frage«, meinte Astrid.

»Ist das eine Frage, auf die man keine Antwort erwartet?«

Astrid nickte. Sie schwiegen eine Zeit lang.

Mary und die Zwillinge kehrten mit Bettes Bruder zur Kita zurück.

»Ich weiß nicht, wie lange Dahra das noch durchsteht«, sagte Elwood schließlich, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden. Dann zog er die Schultern hoch und ging wieder zur Kirche.

Edilio stellte sich neben Sam und Astrid. »Das können wir auf keinen Fall durchgehen lassen«, sagte er. »Wenn das ungestraft bleibt, wo hört es dann auf? Niemand darf einen anderen so stark verprügeln, dass er stirbt.«

»Was schlägst du vor?«, fragte Sam leise.

»Ich? Ich bin bloß der blöde ›Mexikaner‹, schon vergessen? Ich bin nicht von hier, ich kenne diese Leute nicht einmal. Ich bin kein Genie und ich gehöre auch nicht zu denen mit diesem Kraftscheiß.« Er trat mit voller Wucht gegen die Erde, als wollte er ihr wehtun. Er schien noch etwas sagen zu wollen, doch dann biss er sich auf die Unterlippe und ließ die beiden stehen.

»Caine hat Drake und Orc«, sagte Sam. »Dazu Panda und Chaz und noch ein halbes Dutzend Leute, außerdem soll Holzhammer mit ihm Frieden geschlossen haben.«

»Fürchtest du dich vor ihnen?«, fragte Astrid.

»Ja, Astrid, ich fürchte mich vor ihnen.«

»Okay. Aber du hast dich auch davor gefürchtet, in das brennende Haus zu gehen.«

»Du kapierst es nicht, oder?« Sam war auf einmal so zornig, dass Astrid zurückwich. »Ich weiß, was du willst. Ich weiß, was du und noch ein paar andere wollen. Ich soll der Anti-Caine sein. Es gefällt euch nicht, was er tut, und ihr wollt, dass ich ihn davonjage. Ich erzähl dir jetzt mal was, wovon ihr alle nichts wisst: Selbst wenn es mir gelingen sollte, wäre ich keinen Deut besser als er.«

»Das stimmt nicht, Sam. Du bist…«

»Was meinst du, habe ich empfunden, als ich zum ersten Mal die Kraft eingesetzt habe – gegen meinen Stiefvater?«

»Trauer, Schuld.« Astrid musterte sein Gesicht, als stünde die Antwort dort geschrieben. »Vermutlich auch Angst.«

»Ja, das alles. Aber da war noch etwas.« Er hob die Hand vor ihre Augen und ballte sie zur Faust. »Ich habe dabei einen Rausch gespürt. Einen gewaltigen, irren Machtrausch.«

»Macht korrumpiert«, entgegnete Astrid leise.

»Ja«, sagte Sam voller Sarkasmus. »Das hab sogar ich schon gehört.«

»Macht neigt dazu zu korrumpieren, und die absolute Macht korrumpiert absolut. Ich weiß aber nicht mehr, wer das gesagt hat.«

»Ich mache eine Menge Fehler, Astrid. Aber diesen Fehler möchte ich mir ersparen. So einer will ich nicht sein. Ich will nicht wie Caine sein. Ich will…« Hilflos ließ er die Schultern sinken. »Ich will am liebsten einfach nur surfen gehen.«

»Du würdest nicht korrupt werden, Sam. Du würdest diese Dinge nie tun.« Er war von ihr abgerückt. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, um ihm wieder nahe zu sein.

»Woher willst du das wissen?«

»Aus zwei Gründen. Erstens entspricht das nicht deinem Charakter. Du hast zwar einen Machtrausch gespürt, ihn aber wieder verdrängt. Du bist nicht wie Caine oder Drake oder Orc.«

»Ich wäre mir da nicht so sicher.«

»Und der zweite Grund: Du hast mich.«

»Wirklich?«

»Ja.«

Seine Wut und Enttäuschung verflogen schlagartig. Eine Weile blickte er ihr nur in die Augen, zu verblüfft, um etwas zu erwidern. Sie stand dicht vor ihm.

Sams Herzschlag beschleunigte sich, sein ganzer Körper schien zu vibrieren. Er neigte sein Gesicht zu ihrem herab, dann hielt er inne.

»Ich kann dich nicht küssen, wenn dein Bruder zusieht.«

Astrid wandte sich leicht von ihm ab, nahm den kleinen Pete bei den Schultern und drehte ihn in die andere Richtung.

»Besser so?«

GONE Verloren
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