Achtundzwanzig

123 Stunden, 52 Minuten

Das Boot folgte dem Bogen der FAYZ-Wand aufs offene Meer hinaus und danach wieder zur Küste zurück.

Es gab keine Öffnung.

Die Sonne ging bereits unter, als sie im Norden an den kleinen Privatinseln vorbeifuhren. Am Ufer einer der Inseln lag eine prachtvolle weiße Jacht, die dort gestrandet sein musste. Sam überlegte kurz, ob sie den Umweg machen und sich die Jacht näher ansehen sollten, entschied sich aber dagegen. Er war entschlossen, die gesamte Barriere zu erkunden. Wenn er schon wie ein Goldfisch im Aquarium gefangen war, wollte er wenigstens das ganze Becken erforschen.

Die Wand stieß mitten im Stefano Rey Nationalpark wieder auf die Küste. Mit seinen zerklüfteten Felsen und steil ins Meer fallenden Klippen, die in das goldene Licht der untergehenden Sonne getaucht waren, glich der Küstenstreifen vor ihnen einer uneinnehmbaren Festung.

»Das ist schön«, sagte Astrid.

»Mir wäre hässlich und eine Stelle zum Landen lieber«, erwiderte Sam.

Schließlich erspähten sie einen winzigen v-förmigen Sandstreifen, der keine vier Meter lang und gerade einmal zwei Meter breit war. Mit etwas Glück würde Sam das Boot in die kleine Bucht steuern können. Lange würde es nicht mehr halten, dann müssten sie ohnehin zu Fuß weitergehen, ohne Karte und am unteren Rand einer zwanzig Meter hohen Klippe.

»Haben wir noch Benzin, Edilio?«

Edilio schob einen Stab in den Tank und zog ihn wieder heraus. »Nicht mehr viel. Vielleicht noch einen halben Zentimeter.«

»Okay. Das war’s. Zurrt eure Schwimmwesten fest.«

Sam schob den Gashebel hoch und peilte die Bucht an. Er musste die Geschwindigkeit halten, wenn er verhindern wollte, dass das Boot gegen die zu beiden Seiten aufragenden Felsen geschleudert wurde.

Als es auf dem Sand auflief, blieb es mit einem Ruck stehen. Astrid verlor das Gleichgewicht und taumelte gegen Edilio. Pete konnte nicht dazu gebracht werden, von Bord zu gehen oder auch nur die Existenz der anderen zur Kenntnis zu nehmen. Sam, der befürchtete, er könnte jeden Moment ausrasten und ihn würgen oder teleportieren oder auch nur zu kreischen anfangen, hob ihn kurzerhand über die Reling und trug ihn an Land.

Edilio folgte ihm und nahm den Notfallkasten mit. Er enthielt eine Handvoll Wundpflaster, zwei Leuchtgeschosse und einen Kompass.

»Wie kriegen wir Pete den Berg hoch?«, fragte Sam. »Der Aufstieg ist nicht besonders schwierig, aber…«

»Er kann klettern«, antwortete Astrid.

Der kleine Pete konnte nicht nur klettern, er hätte Astrid auf dem Weg hinauf sogar beinahe überholt. Sie erreichten den oberen Rand der Klippe, als es schon dunkel war. Auf einem Rasenstreifen unter hohen Kiefern hielten sie schließlich an und ließen sich erschöpft niedersinken. Sie hatten bei dem anstrengenden Aufstieg sämtliche Pflaster aus Edilios Notfallkasten aufgebraucht.

Astrid und Edilio blieben bei Pete, während Sam und Quinn noch einmal loszogen und sich auf die Suche nach Feuerholz machten.

Quinn, der immer noch verunsichert war, sprach als Erster: »Ich will dir ja nicht auf die Nerven gehen, Sam, aber wenn du wirklich zaubern kannst, solltest du langsam mal herausfinden, wie es geht.«

»Glaub mir, wenn ich mein Licht einschalten könnte, würde ich es jetzt tun.«

»Ja. Du hattest schon immer Angst vor der Dunkelheit.«

Nach kurzem Schweigen sagte Sam: »Das weißt du?«

»Ist doch nichts dabei, Sam. Jeder fürchtet sich vor irgendetwas«, antwortete Quinn leise.

»Und wovor fürchtest du dich?«

»Ich?« Quinn blieb mit ein paar Ästen in der Hand stehen und dachte einen Moment lang nach. »Ich schätze, ich fürchte mich davor, ein Nichts zu sein. Ein richtig großes Nichts.«

Sie kehrten mit Brennholz und Kiefernnadeln zum Anfachen zurück und wenig später knisterte ein kleines Lagerfeuer.

Die Wärme des Feuers wäre gar nicht nötig gewesen, es war keine kalte Nacht, trotzdem war Sam froh darüber. Im orangeroten Licht der Flammen traten die Umrisse der Bäume hervor und zeichneten große Schatten in die Finsternis, die dadurch in einem noch tieferen Schwarz erschien. Solange das Feuer brannte, konnten sie wenigstens so tun, als wären sie in Sicherheit.

»Kennt jemand Schauermärchen?«, fragte Edilio halb im Scherz.

»Wisst ihr, was ich jetzt gerne hätte?«, meinte Astrid und seufzte. »Geröstete Marshmallows. Ich war einmal in einem Sommercamp, einem dieser altmodischen, bei denen die Leute fischen und reiten und am Lagerfeuer sitzen und diese furchtbaren Lieder singen – und Marshmallows rösten. Damals mochte ich sie nicht, weil ich nicht in dem Camp sein wollte. Aber jetzt…«

Sam blickte sie über die Flammen hinweg an. Die gestärkten weißen Blusen aus der Zeit vor der FAYZ waren schlichten T-Shirts gewichen. Nach allem, was sie zusammen durchgemacht hatten, schüchterte sie ihn auch längst nicht mehr so ein wie früher, aber er fand sie immer noch so schön, dass ihr Anblick ihm manchmal den Atem verschlug und er wegsehen musste. Seit dem Kuss löste jeder Gedanke an sie, jede noch so kleine Berührung und selbst ihr Geruch eine Flut an überwältigenden Empfindungen in ihm aus.

Er biss sich auf die Unterlippe, um sich auf andere Gedanken zu bringen und aufzuhören, an Astrid und ihr T-Shirt und ihre Haut zu denken.

Falscher Zeitpunkt, falscher Ort, sagte er sich im Stillen.

Der kleine Pete saß neben seiner Schwester und starrte in die Flammen. Sam fragte sich, was wohl gerade in seinem Kopf vorging. Und welche Kraft hinter diesen unschuldigen Augen lauerte.

Allmählich wurde einer nach dem anderen vom Schlaf übermannt. Sie streckten sich aus, wurden still, schliefen ein. Sam bleib als Einziger noch wach, während das Feuer langsam niederbrannte und die Dunkelheit aus allen Richtungen näherkroch.

Er saß im Schneidersitz, kehrte seine Handflächen nach vorne und legte sie auf die Knie.

Wie konnte er bloß seine Kraft kontrollieren, sie gezielt einsetzen?

Er schloss die Augen und versuchte, sich an die Panik zu erinnern, die dem Licht aus seinen Händen jedes Mal vorausgegangen war und es ausgelöst hatte. Sich an das Gefühl zu erinnern, war nicht schwer, es herbeizurufen, war aber unmöglich.

Er stand auf und entfernte sich leise vom Feuer. In der Finsternis unter den Bäumen konnten Tausende Gefahren lauern. Er ging seiner Angst entgegen.

Der Boden unter seinen Füßen knackte. Er blieb jedoch erst stehen, als die Glut des Feuers gerade noch sichtbar war und der harzige Rauch nicht mehr in der Luft lag.

Er hob die Hände, wie er es bei Caine gesehen hatte: Die Handflächen wandte er nach außen, als wollte er jemanden daran hindern näher zu kommen.

Dann konzentrierte er sich darauf, die Angst heraufzubeschwören, die er gespürt hatte, als er in seinem Zimmer aus dem Albtraum hochgeschreckt war, die Panik, als Pete ihn fast erdrosselt hätte, und die Todesangst, die das Feuerkind in ihm ausgelöst hatte.

Nichts passierte. Das würde nicht funktionieren. Er konnte Angst nicht simulieren, und der Versuch, sich im finsteren Wald in Panik zu versetzen, klappte auch nicht.

Als er ein Geräusch hörte, wirbelte er herum.

»Es geht nicht, stimmt’s?« Astrid war ihm gefolgt.

»Ehrlich gesagt hast du mich gerade so erschreckt, dass es beinahe passiert wäre.«

Astrid stellte sich vor ihn. »Ich muss dir etwas erzählen. Etwas Schlimmes.«

»Etwas Schlimmes?«

»Ja. Ich habe meinen kleinen Bruder verraten. Drake hat mich … also er zwang mich, Pete als Missgeburt zu bezeichnen.« Sie verschränkte ihre Finger so gewaltsam, dass es wehtun musste.

Sam nahm ihre Hände. »Was hat er getan?«

»Nichts. Bloß…«

»Nun sag schon!«

»Er hat mich ein paarmal geohrfeigt. Es war nicht so schlimm, aber…«

»Er hat was?« Sam kam es so vor, als hätte er Säure verschluckt. »Er hat dich geschlagen?«

Astrid nickte. Sie versuchte weiterzusprechen, doch ihre Stimme versagte. Sie zeigte auf ihre Wange, auf die Stelle, die Drakes Hand mit solch einer Wucht getroffen hatte, dass ihr Kopf zur Seite geflogen war.

Sie fasste sich und versuchte es erneut: »Es war nicht so schlimm. Aber ich hatte Angst, Sam. Entsetzliche Angst.« Sie trat noch etwas näher an ihn heran, als wollte sie in die Arme genommen werden.

Doch Sam machte einen Schritt zurück. »Ich hoffe, er ist tot. Wenn nicht, bringe ich ihn um.«

»Sam.«

Seine Hände waren zu Fäusten geballt. In seinem Kopf brodelte es wie in einem überhitzten Dampfkochtopf.

»Sam«, flüsterte Astrid. »Versuch es.«

Er starrte sie begriffsstutzig an.

»Jetzt!«, schrie sie.

Sam hob die Hände, kehrte die Handflächen nach vorne und zielte auf einen Baum.

»Aaaaaaah!« Sam schrie und aus seinen Händen schossen gleißend helle Lichtsäulen.

Er ließ die Hände wieder sinken und starrte verblüfft den Baum an. Der Stamm war wie von einer Feuersäge in der Mitte durchgeschnitten. Er kippte, senkte sich zuerst noch langsam nach unten und stürzte schließlich mit einem lauten Krachen in ein Dornengebüsch.

Astrid trat hinter ihn und umschlang ihn mit den Armen. Er spürte ihre Tränen auf seinem Nacken und ihren Atem im Ohr.

»Es tut mir leid, Sam.«

»Wieso?«

»Angst lässt sich nicht herbeirufen. Wut aber schon. Wut ist nichts anderes als die nach außen gekehrte Angst. Wut ist einfach.«

»Hast du mich manipuliert?« Er löste sich aus ihrer Umarmung und drehte sich zu ihr um.

»Das mit Drake ist genau so passiert, wie ich es dir erzählt habe. Ich wollte eigentlich nicht, dass du es erfährst. Erst, als ich dich hier stehen und es versuchen sah. Du hast immer wieder gesagt, es sei die Angst, die deine Kraft auslöst. Also dachte ich…«

»Ja.« Er hatte die Kraft gerade zum ersten Mal gezielt nutzen können. Er war aber nicht froh darüber, eher traurig. »Ich muss also gar keine Angst haben, sondern nur eine Mordswut. Ich muss jemandem wehtun wollen.«

»Es tut mir so leid, Sam. Ehrlich. Ich meine, für dich und dass es keine andere Lösung gibt. Du hast Recht, dich vor der Macht zu fürchten. Aber wir brauchen sie.«

Sam stand nur einen Schritt von ihr entfernt, in Gedanken war er jedoch weit weg. Er erinnerte sich an eine andere Zeit, die hundert Jahre zurückzuliegen schien. Dabei waren es nur acht Tage.

»Verzeih mir!«, flüsterte Astrid und schob ihre Arme unter seine, um ihn an sich zu ziehen.

Er legte das Kinn auf ihren Scheitel, blickte über sie hinweg, sah das Feuer und die Dunkelheit, vor der er sich schon immer gefürchtet hatte.

»Manchmal erwischst du die Welle, manchmal erwischt die Welle dich«, murmelte er schließlich.

»Das bist nicht du, Sam. Es ist die FAYZ.«

GONE Verloren
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