Fünfundvierzig

14 Minuten

Gelähmt vor Angst sah Quinn zu, wie die Kojoten die Kinder angriffen.

Er sah, wie Sam feuerte und danebenschoss.

Er sah Sams Verzweiflung, als Caine die Kirche zum Einsturz brachte.

Und er sah Sam zur Kirche rennen.

Quinn schrie: »Nicht!«

Er zielte.

Nur nicht die Kinder treffen, bitte nicht die Kinder!, dachte er verzweifelt, bevor er schluchzend abdrückte. Er schoss in die Masse der Kojoten, die viel zahlreicher waren als noch vor ein paar Minuten.

Einer fiel hin, als wäre er gestolpert, und stand nicht wieder auf.

Dann konnte Quinn nicht mehr weiterschießen, die Tiere mischten sich unter die Kinder. Er rannte zur Leiter, rutschte aus und stürzte in den Durchgang.

Lauf weg!, schrie alles in ihm. Er machte drei Schritte Richtung Strand, doch dann, als hätte ihn eine unsichtbare Kraft gepackt, blieb er stehen.

»Du darfst nicht weglaufen«, sagte er zu sich selbst.

Und noch während er die Worte aussprach, raste er zurück, rein in die Kita, vorbei an Mary, die ein kleines Mädchen in den Armen hielt, und raus auf die Plaza. Er rannte, schrie wie am Spieß, schwang die Waffe wie einen Knüppel, holte damit aus und ließ den Kolben auf den Schädel eines Kojoten sausen, der ein grässliches Knacken von sich gab.

Edilio war da und noch andere Kids, sie schossen, und Edilio brüllte: »Nein, nein, nein!« Dann flimmerten rote Punkte vor Quinns Augen, er sah überall nur noch Blut und verlor den Verstand und holte aus und schlug schreiend zu, immer und immer wieder.

Astrids Hüften und Beine waren unter einem erdrückenden Gewicht begraben. Sie lag mit dem Gesicht nach unten auf ihrem Bruder. Sie war benommen, aber geistesgegenwärtig genug, um zu begreifen, was mit ihr los war.

Astrid holte tief Luft.

»Petey«, flüsterte sie. Ihr Ohrensausen war so stark, dass jedes Geräusch von weit her zu kommen schien.

Der kleine Pete rührte sich nicht.

Sie versuchte, ihre Beine anzuziehen, sie ließen sich aber nicht bewegen.

»Petey, Petey!«, rief sie.

Sie rieb sich ihre von Staub, Dreck und Schweiß verklebten Augen, um ihren Bruder besser sehen zu können. Sie hatte den Großteil seines Körpers vor der einstürzenden Wand geschützt, doch sein Kopf lag unter einem Verputzbrocken von der Größe eines Rucksacks.

Sie unterdrückte ein Schluchzen, dann hielt sie zwei Finger an Petes Hals und ertastete seinen Puls. Sie spürte seine flache Atmung, seinen sich unter ihr hebenden und senkenden Brustkorb.

»Hilfe!«, krächzte sie. »Helft uns! So helft uns doch! Rettet meinen Bruder…«

Sie fing an, laut zu beten, wandte sich in ihrer Verzweiflung an Gott und alle Engel, die ihr einfielen.

Auf den Trümmern über ihr bewegte sich etwas. Astrid verrenkte den Hals und sah die Umrisse einer Gestalt, erkannte sie aber nicht, weil es zu dunkel war.

Dann vernahm sie Dekkas Stimme. »Ich bin zwar kein Engel, aber ich kann das Zeug da von euch runterholen.«

Caine stieg aus den Trümmern des Gebäudes.

Er hatte es geschafft.

Er hatte ihn besiegt.

Sam lag unter dem Schutthaufen begraben.

Caine konnte den Moment des Triumphs jedoch nicht genießen. Die Verbrennungen an seinem Oberkörper bereiteten ihm grauenhafte Schmerzen. Er litt Höllenqualen. Das grün-weiße Licht hatte den Stoff seines Hemds zum Schmelzen gebracht und in sein Fleisch hineingebrannt.

Er stolperte in Richtung der zerstörten Kirche und versuchte, sich in dem Chaos zu orientieren. Es waren keine Schüsse mehr zu hören, aber immer noch Schreie, lautes Weinen und das Knurren der Kojoten.

Und dann war da noch etwas: das rasend schnell aufeinanderfolgende Knallen einer Peitsche und dazu das unregelmäßige Wummern wie von einer Basstrommel.

Als Caine sah, wo die Geräusche herkamen, blieb er wie angewurzelt stehen.

Auf der Treppe zum Rathaus wütete der Kampf zweier Titanen. Drake lieferte sich eine Schlacht mit einem in Stein gehauenen Monster, knallte mit seiner Peitsche und feuerte aus seiner Pistole.

Das Monster schlug ungeschickt um sich, aber Drake wich ihm problemlos aus. Wieder ließ er seine Peitsche auf die Bestie niedersausen, ohne dass sie auch nur einen Schritt zurückgewichen wäre. Die Bestie war Orc.

Orc holte mit seiner steinernen Faust aus, verfehlte Drake um Haaresbreite und schmetterte sie in eine der Säulen des Rathauses.

Eine hohe, verzerrte Stimme lenkte Caines Blick zu Boden. Der Kojotenanführer stand zornig vor ihm.

»Weibchen sagt, Pack Leader soll aufhören.«

»Was?« Caine verstand gar nichts, bis er Diana sah, die mit wehenden Haaren und vor Zorn glühenden Augen auf ihn zukam.

»Ich hab diesem Drecksköter gesagt, er soll aufhören«, erklärte sie ihm völlig außer sich.

»Womit denn?«

»Sie greifen immer noch die Kinder an. Wir haben gewonnen. Sam ist tot. Caine, ruf sie zurück!«

Caine lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf den Kampf zwischen Drake und dem Biest. »Sie sind Kojoten«, sagte er kalt.

»Caine, du hast den Verstand verloren«, fuhr Diana ihn an. »Du hast doch längst gesiegt. Es muss aufhören.«

»Oder was? Hol Lana! Ich bin verletzt. Pack Leader, mach, was du willst.«

»Vielleicht hat deine Mutter dich deshalb im Stich gelassen«, erwiderte Diana. »Vielleicht hat sie erkannt, dass du durch und durch böse bist.«

Caine versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Diana taumelte rückwärts, stolperte und landete auf dem Boden.

Caine konnte ihr Gesicht auf einmal klar und deutlich sehen – es lag im Glanz eines grünweißen Lichtstrahls.

Dazu war nur einer fähig.

Der Lichtstrahl ragte wie ein zum Himmel gerichteter Speer aus dem Trümmerhaufen des Gebäudes.

»Nein!«, rief Caine.

Er brannte den Schutt und die Trümmer weg, das ganze erdrückende Gewicht des eingestürzten Gebäudes.

Als Caine ein zweites Mal »Nein!« rief, verschwand das Licht.

Hinter ihm trugen Drake und Orc immer noch ihren Kampf aus, Schnell gegen Langsam, Behände gegen Schwerfällig, Gerissen gegen Stumpfsinnig, doch Caine konnte den Blick nicht von der rußverschmierten Gestalt wenden, die jetzt aus den Trümmern stieg und mit leuchtenden Augen auf ihn zukam.

Caine richtete seine Hände auf den Schutthaufen vor der Kirche, dann schwang er sie in Sams Richtung und setzte eine Lastwagenladung Schutt in Bewegung.

Sams grünes Feuer zersprengte die Mauerteile und schweren Holzbalken in der Luft und verwandelte sie zu Asche, bevor sie ihn treffen konnten.

Dekka hob den Schutt von Astrid und dem kleinen Pete.

Es war nicht einfach. Mit ihrer Fähigkeit, die Schwerkraft aufzuheben, beförderte sie auch Astrid und Pete in die Luft, die nun zusammen mit den Trümmern und Verputzstücken über ihr schwebten.

Dekka zog blitzartig eine Hand ein und zerrte Astrid und ihren Bruder aus der schwerelosen Zone. Die beiden fielen zu Boden. Dann ließ Dekka von dem Schutt ab. Er krachte beängstigend laut herunter.

»Danke«, sagte Astrid.

»Da sind noch mehr begraben«, sagte Dekka und machte sich auf die Suche nach weiteren Verschütteten.

Astrid beugte sich über den kleinen Pete und hob ihn auf. Er hing schlaff in ihren Armen. Sie sorgte dafür, dass sein Kopf an ihrer Schulter ruhte, und drückte ihn an sich wie ein Baby.

Lana könnte ihn heilen, aber Lana war verschwunden. Astrid überlegte kurz, ob sie ihn zu Dahra in den Keller bringen sollte. Aber was könnte Dahra schon tun? Außerdem: Der Eingang zur Krankenstation war wahrscheinlich auch verschüttet.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Vorderwand der Kirche nicht mehr da war. Sie konnte den Himmel und die Sterne sehen, aber auch einen schrecklich grellen grünen Blitz.

Ihr Gehör kehrte allmählich zurück und sie vernahm drei Dinge gleichzeitig: tierisches Knurren, das Knallen einer Peitsche und das Weinen viel zu vieler Kinder.

Plötzlich begann der Schutt um sie herum zu fliegen.

Astrid warf sich auf den Boden und schützte den kleinen Pete wieder mit ihrem Oberkörper, während Mauerbrocken und Teile der Holzvertäfelung, Holzpfeiler und Stahlstreben senkrecht aufstiegen wie Kampfjets im Startflug, sich gruppierten und mit rasender Geschwindigkeit aus der Kirche schossen.

Wieder leuchtete der grüne Blitz auf, gefolgt von Explosionen, als hätte jemand Hunderte Sprengladungen auf einmal gezündet, und einem noch grelleren Licht.

Ein Junge rannte die Straße entlang und stürzte in die Kirche. Er blieb schwer atmend stehen und blickte sich um wie ein verängstigtes, in die Enge getriebenes Tier.

»Caine«, zischte Astrid.

Ihm war anzusehen, dass er verletzt war und starke Schmerzen hatte. Sein Gesicht war schweißüberströmt und dreckverschmiert. Er starrte sie an, als sähe er ein Gespenst.

In seinen Augen erschien ein gefährliches Glitzern.

»Perfekt«, flüsterte er.

Astrid wurde mit Pete im Arm in die Luft gehoben. Verzweifelt versuchte sie, ihn festzuhalten, aber er entglitt ihren Händen und fiel zu Boden.

»Komm raus zum Spielen, Bruder!«, schrie Caine. »Ich hab eine Freundin von dir getroffen.«

Astrid schwebte hilflos dahin, während Caine sie wie einen Schutzschild vor sich hertrieb.

Sam stand auf der untersten Stufe. Er war blutbefleckt, hatte unzählige Schürfwunden und ein Arm hing schlaff an ihm herab.

»Komm schon, Sam!«, kreischte Caine. »Verbrenn mich doch! Was ist, Bruder? Zeig mir, was du draufhast!«

»Du versteckst dich hinter einem Mädchen?«, fragte Sam.

»Glaubst du, du kannst mich damit reizen?«, erwiderte Caine. »Das Einzige, was zählt, ist der Sieg. Also spar dir deine blöden Kommentare.«

»Ich bring dich um, Caine.«

»Nein. Denn dann geht deine Freundin mit drauf.«

»Caine, in ungefähr einer Minute verschwinden wir von der Bildfläche. Es ist vorbei – für uns beide.«

»Für dich vielleicht, Sam. Aber nicht für mich. Ich weiß, wie ich es überliste. Wie ich hierbleiben kann.« Er stieß ein triumphierendes Lachen aus.

»Sam«, sagte Astrid. »Du musst es tun. Vernichte ihn!«

Diana war die Treppe heraufgekommen und stand jetzt neben Sam.

»Ja, Sam, vernichte mich!«, höhnte Caine. »Du kannst es! Brenn ein Loch durch deine Freundin, dann erwischst du auch mich!«

»Caine, lass sie runter«, sagte Diana. »Sei zur Abwechslung mal ein Mann.«

Sam griff ihre Worte auf. »Ja, lass sie runter! Es ist vorbei. Ich hab keine Ahnung, was jetzt kommt, aber wenn wir sterben, möchtest du sicher nicht noch mehr Blut an den Händen haben.«

Caine lachte bitter. »Was weißt du schon von mir? Dir war immer klar, von wem du abstammst und wer du bist. Ich musste mich erst selbst erfinden.«

»Ich bin ohne Vater groß geworden«, erwiderte Sam. »Ich weiß genauso wenig von ihm wie du.«

Caine warf einen Blick auf seine Uhr. »Deine Zeit ist um, Sam. Du gehst als Erster, weißt du noch? Und bevor du gehst, sollst du etwas wissen: Ich werde überleben, Sam. Ich bleibe hier. Bei deiner süßen Astrid und in der FAYZ. Jetzt gehört alles mir.«

»Sam!«, schrie Diana plötzlich. »Um nicht zu verpuffen, musst du…«

Caine wirbelte zu ihr herum, hob die Hand und traf sie mitten im Satz. Sie flog durch die Luft, machte einen Salto rückwärts und landete auf dem Rasen auf der anderen Straßenseite.

Der Angriff hatte Caine abgelenkt. Er hatte Astrid fallen gelassen.

Sam streckte die Hand aus und richtete die Handfläche auf Caine.

GONE Verloren
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