Eins

299 Stunden, 54 Minuten

Der Lehrer, der gerade noch über den Bürgerkrieg gesprochen hatte, war auf einmal weg.

Da.

Weg.

Kein Puff. Kein Blitz. Kein Knall.

Sam Temple saß im Geschichtsunterricht, es war die fünfte Stunde an diesem Tag. Sein Blick war zwar zur Tafel gerichtet, in Gedanken war er aber ganz woanders gewesen.

Kurz dachte er, er hätte sich das Verschwinden des Lehrers nur eingebildet.

Sam wandte sich an Mary Terrafino, die links von ihm saß. »Hast du das gesehen?«

Mary starrte auf die Stelle, wo der Lehrer eben noch gestanden hatte.

»Äh, wo ist eigentlich Mr Trentlake?«, wollte jetzt Quinn Gaither wissen, Sams bester und wahrscheinlich auch einziger Freund. Quinn saß direkt hinter Sam.

»Er muss rausgegangen sein«, antwortete Mary zögernd.

Edilio, ein neuer Schüler, den Sam nicht unsympathisch fand, sagte: »Nein, Mann. Er ist verpufft.« Dazu vollführte er mit den Fingern eine Geste, die den Vorgang ziemlich gut beschrieb.

Die anderen schauten einander ungläubig an, reckten die Hälse hierhin und dahin und brachen in nervöses Kichern aus. Niemand fürchtete sich. Niemand weinte. Das Ganze schien irgendwie komisch.

»Hey«, sagte jemand, »wo ist Josh?«

Einzelne Köpfe wandten sich um.

»War er denn heute hier?«

»Ja. Er saß gerade noch neben mir.« Sam erkannte Bettes Stimme.

»Er ist verschwunden«, sagte sie. »Wie Mr Trentlake.«

Die Tür zum Flur ging auf. Alle Blicke schossen zu ihr. Gleich würde Mr Trentlake hereinkommen, wahrscheinlich mit Josh an seiner Seite, und ihnen erklären, mit welchem Trick er sie reingelegt hatte, um dann wieder in seiner anstrengenden, überschwänglichen Art über den Bürgerkrieg zu reden, für den sich kein Mensch interessierte.

Es war aber nicht Mr Trentlake. In der Tür stand Astrid Ellison aus der Neunten. Astrid, das Genie. Im letzten Jahr war sie noch in Sams Klasse gewesen. Wie Sam war sie erst vierzehn, sie hatte jedoch eine Klasse übersprungen.

Astrid hatte blonde schulterlange Haare und trug am liebsten kurzärmelige weiße Blusen, die Sams Blick auf sich zogen wie ein Magnet. Astrid gehörte einer anderen Liga an. Sam wusste das, es gab aber kein Gesetz, das ihm verboten hätte, an sie zu denken.

»Wo ist euer Lehrer?«, fragte Astrid.

Darauf folgte allgemeines Achselzucken.

»Verpufft«, sagte Quinn kichernd, als wäre das lustig.

»Ist er denn nicht im Flur?«, fragte Mary.

Astrid schüttelte den Kopf. »Hier passiert etwas sehr Seltsames. Meine ganze Klasse…«

»Was?«, fragte Sam.

Astrid sah ihn an. Normalerweise hielt er ihrem herausfordernden und skeptischen Blick nicht stand, doch diesmal war er anders: voller Angst. Ihre blauen Augen waren weit aufgerissen und zeigten viel zu viel Weiß. »Sie sind weg. Sie sind alle … einfach verschwunden.«

»Und euer Lehrer?«, fragte Edilio.

»Unsere Lehrerin ist auch weg.«

»Was heißt weg?«

»Verpufft«, meinte Quinn wieder, dem das Kichern aber allmählich verging, weil ihm zu dämmern schien, dass das womöglich doch kein Witz war.

Aus der Stadt war das ferne Heulen von Autoalarmanlagen zu hören. Sam stand ein wenig befangen auf, so als stünde ihm das nicht zu, und ging zur Tür. Astrid trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen.

Aus der nächsten Tür, der Nummer213, steckte ein Junge den Kopf heraus. Sein Gesichtsausdruck zeigte eine Mischung aus Furcht und Wagemut, als wäre er im Begriff, sich für eine Achterbahnfahrt anzuschnallen.

Aus der 209 drang das unheimlich laute Gelächter von Kindern. Fünftklässler. Jetzt flog auf der gegenüberliegenden Flurseite eine Tür auf, drei Sechstklässler stürmten heraus und blieben wie angewurzelt stehen. Sie starrten Sam an, als befürchteten sie, er würde sie gleich anschreien.

Perdido Beach School war eine Kleinstadtschule, in der vom Kindergarten über die Vor- und Grundschule bis hin zur neunten Klasse alle in einem Gebäude untergebracht waren. Die Oberschule befand sich eine Busstunde entfernt in San Luis.

Sam machte sich auf den Weg zu Astrids Klasse. Sie und Quinn folgten ihm.

Die Klasse war leer. Niemand saß in den Bänken oder auf dem Stuhl der Lehrerin. Auf den Tischen lagen aufgeschlagene Mathebücher. Auch Notebooks. Die Computer, sechs altersschwache, in einer Reihe stehende Macs, zeigten nur weiß flackernde Bildschirme.

Auf der Tafel stand deutlich lesbar Polyn.

»Sie wollte gerade das Wort Polynom zu Ende schreiben«, flüsterte Astrid ehrfürchtig, als wären sie in der Kirche.

»Verstehe.« Sam hatte das Wort noch nie gehört.

»Sie setzte gerade zum o an. Ich sah ihr dabei zu und plötzlich war sie weg.«

Sam deutete zum Boden. Dort lag ein Stück Kreide, ziemlich genau an der Stelle, wo es hingefallen wäre, wenn jemand das Wort Polynom – was immer es heißen mochte – an die Tafel geschrieben und sich dabei in Luft aufgelöst hätte.

»Das ist doch nicht normal«, sagte Quinn.

Quinn war größer als Sam, stärker und ein mindestens ebenso guter Surfer wie er. Doch mit seinem schrägen Lächeln und seiner Vorliebe, sich so zu kleiden, als wollte er sich kostümieren – heute trug er weite Shorts, Wüstenstiefel aus dem Fundus der Armee, ein rosafarbenes Polohemd und einen grauen Filzhut vom Dachboden seines Großvaters–, wirkte Quinn sonderbar, was manche befremdete und andere ängstigte. Quinn brauchte keine Clique, er war sich selbst genug. Das war vielleicht der Grund dafür, dass er und Sam so gut miteinander klarkamen.

Sam war eher unauffällig. Er hielt sich an Jeans und schlichte T-Shirts, nichts, womit er die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte. Er hatte fast sein ganzes Leben in Perdido Beach verbracht, ging hier auf die Schule und alle wussten, wer er war, doch nur wenige hätten sagen können, wie er war. Er war ein Surfer, der nicht mit anderen Surfern rumhing. Er war gescheit, aber nicht blitzgescheit. Er sah gut aus, aber nicht so gut, dass die Mädchen scharf auf ihn waren.

Es gab jedoch etwas, wofür er an der ganzen Schule bekannt war und was ihm in der Sechsten den Spitznamen Schulbus-Sam eingebracht hatte. Sie waren auf Klassenfahrt gewesen, als der Busfahrer mitten auf dem Highway einen Herzinfarkt erlitt. Sam hatte den Mann aus dem Sitz gezerrt, den Bus an den Straßenrand gelenkt, sicher zum Stehen gebracht und dann in aller Ruhe mit dem Handy des Fahrers den Notruf911 gewählt.

Hätte er auch nur eine Sekunde gezögert, wäre der Bus über den Klippenrand ins Meer gestürzt.

»Die ganze Klasse ist weg. Alle außer Astrid«, sagte Sam. »Das ist eindeutig nicht normal.« Er bemühte sich vergeblich, bei ihrem Namen nicht ins Stocken zu geraten. Sie hatte diese Wirkung auf ihn.

»Ja, seltsam still hier«, warf Quinn ein. »Okay, ich würde jetzt gern mal aufwachen.« Das war zur Abwechslung ernst gemeint.

Jemand schrie.

Die drei stürzten zurück in den Flur, der inzwischen voller Schüler war. Becka, ein Mädchen aus der Sechsten, starrte auf ihr Handy.

»Es geht keiner ran!«, rief sie unter Tränen. »Da ist gar nichts!«

Einen Moment lang rührte sich niemand.

Dann setzte ein Rascheln und Kramen ein, gefolgt vom Geräusch zahlloser Finger, die auf Dutzende Handytastaturen drückten.

»Ich hab keinen Empfang.«

»Das Internet funktioniert auch nicht. Ich bekomm ein Signal, aber es tut sich nichts.«

»Mein Handy zeigt drei Balken an.«

»Meins auch, aber es verbindet nicht.«

Alle redeten gleichzeitig, ein aufgeregtes Plappern, das in Geschrei zu eskalieren drohte.

»Versuch mal 911«, forderte eine verängstigte Stimme.

»Wo, glaubst du, hab ich grad angerufen, du Armleuchter?«

»Keine Antwort bei 911?«

»Gar nichts. Ich hab die Hälfte meiner Kurzwahlen ausprobiert, nichts funktioniert.«

Plötzlich schrillte die Pausenglocke. Die Schüler schraken zusammen, als hätten sie sie noch nie gehört.

»Was jetzt?«, fragten mehrere gleichzeitig.

»Jemand muss im Büro sein!«, rief eine Stimme. »Sonst würde die Glocke nicht läuten.«

»Das ist ein Zeitschalter, du Idiot.« Das war Howard.

Howard war ein mickriger Wurm, der sich bei Orc aus der Achten, einem finster dreinblickenden Koloss aus Fett und Muskeln, zur Nummer eins hochgeschleimt hatte. Orc war der am meisten gefürchtete Schläger der Schule. Niemand legte sich mit Howard an. Wer Howard beleidigte, bekam es mit Orc zu tun.

»Im Lehrerzimmer steht ein Fernseher«, sagte Astrid.

Sam und Astrid rannten los, dicht gefolgt von Quinn. Sie schlugen die Richtung zum Lehrerzimmer ein, sausten die Treppe hinunter bis ins Erdgeschoss, wo weniger Klassen und auch weniger Schüler waren. Sams Hand lag bereits auf der Türklinke zum Lehrerzimmer, als sie innehielten.

»Wir dürfen da nicht rein«, meinte Astrid.

»Sagt wer?«, erwiderte Quinn.

Sam stieß die Tür auf.

Die Lehrer hatten einen Kühlschrank. Er stand offen. Auf dem Boden lag ein Becher Heidelbeerjoghurt, sein zähflüssiger Inhalt war auf den schäbigen Teppich gelaufen. Der Fernseher war angeschaltet, zeigte aber kein Bild, sondern rauschte nur. Sam suchte nach der Fernbedienung. Wo war sie bloß?

Quinn fand sie. Er schaltete von einem Kanal zum nächsten. Nichts, nichts und wieder nichts.

»Kabelschaden«, meinte Sam, obwohl das irgendwie blöd klang.

Astrid langte hinter den Apparat und hantierte am Kabel herum. Der Bildschirm flackerte und das Rauschen hörte sich anders an, doch als Quinn die Kanäle der Reihe nach anklickte, tat sich wieder nichts.

»Lehrer verschwinden, Neuntklässler ebenfalls, Fernseher und Handys geben ihren Geist auf«, sagte Astrid. »Und das passiert alles zur selben Zeit.« Sie runzelte die Stirn.

Sam und Quinn warteten ab, als müsste sie eine Erklärung dafür haben, immerhin war sie Astrid, das Genie. Doch sie sagte nur: »Das ergibt keinen Sinn.«

An der Wand hing ein Festnetzapparat. Sam nahm den Hörer ab. »Kein Freizeichen. Gibt es hier ein Radio?«

Es gab keines.

Die Tür flog auf und zwei Jungs aus der Fünften platzten herein, ihre Gesichter waren vor Aufregung gerötet. »Die Schule gehört uns!«, rief der eine, während der andere einen Freudenschrei hinterhersandte.

»Fünfzehn«, sagte Astrid.

»Die waren höchstens elf«, entgegnete Quinn.

»Nicht die beiden. Die aus der Neunten, aus meiner Klasse. Sie sind fünfzehn oder älter, alle außer mir. Ich bin die Einzige, die erst vierzehn ist.«

»Ich glaube, Josh aus unserer Klasse war auch schon fünfzehn«, warf Sam ein.

Quinn blickte ihn verwirrt an. »Und?«

»Er war fünfzehn. Er … er ist verschwunden. Von einer Sekunde auf die andere.«

»So was gibt᾿s doch gar nicht«, sagte Quinn abwinkend. »In der ganzen Schule verschwinden alle Erwachsenen und älteren Kids? Das ist Quatsch.«

»Nicht nur in der Schule«, erwiderte Astrid.

»Was?«, entfuhr es Quinn.

»Die Handys, der Fernseher?«

»Nein, nein, nein.« Quinn schüttelte den Kopf und verzog die Mundwinkel, als hätte er einen schlechten Witz gehört.

»Meine Mom«, sagte Sam.

»Hör jetzt auf, Mann! Das ist nicht lustig.«

Zum ersten Mal spürte Sam einen Anflug von Panik. Sein Herz hämmerte plötzlich so angestrengt, als wäre er gerannt.

Sam sah seinen Freund an. Er hatte Quinn noch nie so verängstigt erlebt. Quinns Lippen zitterten und an seinem Hals breitete sich ein roter Fleck aus. Astrid wirkte ruhig und nachdenklich, als suchte sie immer noch nach einer plausiblen Erklärung.

»Wir müssen nachsehen«, sagte Sam.

Quinn atmete heftig ein. Es klang wie ein Schluchzen. Er war bereits im Begriff, sich umzudrehen, als Sam ihn an der Schulter packte.

»Lass los, Alter!«, fuhr Quinn ihn an. »Ich muss sofort nach Hause. Ich muss nachsehen.«

»Das müssen wir alle«, erwiderte Sam. »Lass uns das zusammen machen.«

Quinn wollte sich losreißen, doch Sam verstärkte seinen Griff. »Komm schon!«

Quinn hörte auf, sich zu wehren. »Okay, aber mein Haus als Erstes. Das ist alles so was von gestört.«

»Astrid?«, fragte Sam unsicher, weil er nicht wusste, ob sie mit ihnen mitkommen wollte. Es fühlte sich dreist an, sie zu fragen, und falsch, es nicht zu tun.

Sie blickte Sam an, als hoffte sie, in seinem Gesicht zu finden, wonach sie suchte. Sam erkannte plötzlich, dass Astrid genauso ratlos war wie er und genauso wenig wusste, was sie tun und wohin sie gehen sollte.

Vom Flur drang Lärm ins Zimmer. Durcheinanderredende und immer lauter werdende Stimmen. Schrill, angsterfüllt, manche wie aufgezogen, als würde alles in Ordnung kommen, solange sie nur nicht zu reden aufhörten, dazwischen wildes Grölen. Das hörte sich nicht gut an.

»Komm mit uns, Astrid«, sagte Sam. »Zusammen sind wir sicherer.«

Bei dem Wort »sicherer« zuckte Astrid zusammen. Aber sie nickte.

Die Schule war gefährlich geworden. Menschen, die Angst hatten, taten manchmal schreckliche Dinge – auch Kinder. Sam wusste das aus eigener Erfahrung. Angst konnte dazu führen, dass jemand verletzt wurde. Und momentan breitete sich die Angst in der Schule aus wie ein Lauffeuer. Etwas Großes und Furchtbares war geschehen.

Sam konnte nur hoffen, dass es nicht seine Schuld war.

GONE Verloren
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