Achtzehn

164 Stunden, 32 Minuten

Lana lag im Dunkeln der Hütte und konzentrierte sich auf die geheimnisvollen Geräusche, die von der Wüste hereindrangen. Sie hörte ein leises Gleiten, als würde eine Hand über Seide streichen. Und das rasche Trommeln eines winzigen Insekts, das nach ein paar Sekunden langsamer wurde, aus dem Rhythmus geriet und verstummte, um dann wieder von vorne zu beginnen.

Körperlich ging es ihr gut. Die Verletzungen waren auf wundersame Weise geheilt, das Blut war abgewaschen und sie hatte Wasser, Nahrung und einen Unterschlupf.

Aber Lanas Gehirn lief auf Hochtouren wie ein Motor, der überdrehte. Immer wieder blitzten dieselben Bilder auf, Erinnerungen an den Schmerz und die entsetzliche Angst, an den leeren Sitz ihres Großvaters und den Moment, als der Wagen den Abhang hinunterraste und sich überschlug, an die Aasgeier und den Puma.

Doch so entsetzlich diese Bilder auch waren, sie konnten die anderen in ihrem Gedächtnis eingebrannten Erinnerungen nicht übertünchen. Von zu Hause. Von der Schule. Vom Einkaufszentrum. Vom Auto ihres Vaters und dem Van ihrer Mutter. Vom Freibad und der Glitzer-Skyline von Las Vegas, die sie durch ihr Zimmerfenster hatte sehen können.

All das schäumte ihr durch den Kopf wie ein Wildbach und steigerte die in ihr brennende Wut.

Wäre sie nur etwas vorsichtiger gewesen … dann wäre sie jetzt nicht allein in dieser gottverlassenen Gegend, sondern daheim bei ihren Freunden.

An dem besagten Tag hatte sie die Wodkaflasche in ihre Handtasche gestopft, die niedliche mit den Perlen, die sie so mochte. Die Tasche war zu klein gewesen, aber ihre große Schultasche wollte sie nicht nehmen, denn die hätte nicht zu ihrem Outfit gepasst.

Deshalb war sie erwischt worden. Wegen ihrer bescheuerten Eitelkeit, weil sie cool aussehen wollte.

Und jetzt

Die Wut auf ihre Mutter überschwemmte sie wie eine Flutwelle.

Sie hatte Tony eine Flasche Wodka gegeben. Na und? Er war noch nicht mal mit dem Auto gefahren.

Lanas Mutter hatte wirklich keinen blassen Schimmer. Las Vegas war nicht Perdido Beach. Vegas setzte sie unter Druck. Es war eine Großstadt, kein kleiner Ort und auch nicht irgendeine Stadt. In Vegas mussten die Kids schneller erwachsen werden, das fing schon bei den Zwölf- oder Dreizehnjährigen an. Und immerhin war sie bereits vierzehn.

Ihre blöde Mutter. Das war alles ihre Schuld. Obwohl… Die Schuld für die schimmernde und einschüchternde Wand konnte sie ihrer Mutter ja wohl nicht in die Schuhe schieben.

Vielleicht hatte das alles mit Außerirdischen zu tun und ihre Eltern wurden gerade von grässlichen Monstern durch die Straßen von Las Vegas gejagt – wie in dem Film Krieg der Welten.

Diese Vorstellung fand Lana seltsam tröstlich. Wenigstens wurde sie von keinen Marsmenschen in gigantischen dreibeinigen Kampfmaschinen gejagt. Vielleicht war die Wand sogar eine Art Schutzschild und sie war auf dieser Seite in Sicherheit.

Die Sache mit der Wodkaflasche war nicht das erste Mal gewesen. Sie hatte für Tony schon vorher ein paar Dinge mitgehen lassen. Einmal hatte sie ihrer Mutter Pillen geklaut. Ein anderes Mal hatte sie in einem Supermarkt eine Flasche Wein gestohlen.

Sie war nicht naiv. Tony war nicht in sie verliebt, da machte sie sich nichts vor. Sie wusste, dass er sie benutzte. Aber sie benutzte ihn auch – auf ihre Weise. Tony war beliebt an der Schule und das hatte auf sie abgefärbt.

Patrick schnaubte und hob abrupt den Kopf.

»Was ist?«

Sie wälzte sich von der schmalen Pritsche und kauerte still und ängstlich im Dunkeln der Hütte.

Da draußen war etwas.

Sie konnte es hören, es bewegte sich. Ein leises Tappen wie von Pfoten.

Patrick stand wie in Zeitlupe auf. Sein Nackenfell sträubte sich und er starrte gebannt zur Tür.

Jetzt war ein Kratzen zu vernehmen, wie von einem Hund, der hereinwollte.

Und dann meinte Lana ein raues Flüstern zu hören: »Komm raus!«

Patrick hätte eigentlich bellen müssen, aber er rührte sich nicht und blieb stumm.

»Du fantasierst nur«, wisperte Lana, um sich selbst zu beruhigen.

»Komm raus!«, flüsterte die Stimme erneut.

Lana spürte einen Druck auf der Blase. Sie musste pinkeln, und zwar dringend. Das Klo war aber draußen.

»Ist da jemand?«, rief sie.

Keine Antwort.

Wahrscheinlich hatte sie sich das Flüstern bloß eingebildet. Das war bestimmt der Wind.

Sie kroch zur Tür und lauschte. Nichts. Sie warf einen Blick auf Patrick. Sein Fell war immer noch gesträubt, aber er wirkte schon deutlich entspannter. Die Bedrohung – was immer es gewesen war – war nicht mehr da.

Lana öffnete die Tür einen Spaltbreit. Es war nichts zu sehen. Sie hatte keine Wahl: Sie rannte los in Richtung Plumpsklo. Patrick sprang neben ihr her.

Das Klo war eine senkrecht stehende Kiste, in der es nicht allzu sehr stank. Da es kein Licht gab, musste sie den Sitz und das Klopapier mit den Händen ertasten.

Plötzlich begann sie zu kichern. Die Situation hatte ja wirklich etwas Urkomisches: Sie saß auf einem Plumpsklo, während ihr Hund davor Wache hielt.

Auf dem Rückweg zur Hütte war sie entspannter. Sie hielt kurz an und blickte zum Himmel. Der Mond näherte sich dem Horizont im Westen und die Sterne… Seltsam, sie sahen anders aus als sonst.

Als sie den Blick wieder senkte und die letzten Meter zur Hütte zurücklegen wollte, setzte ihr Herz kurz aus. Ein Kojote verstellte ihr den Weg. Bloß hatte dieses Tier nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Kojoten, die sie mit ihrem Großvater gesehen hatte; die waren nicht einmal so groß wie Patrick gewesen. Das struppige Tier vor ihr war größer als ein Wolf.

Patrick hatte den Kojoten weder gehört noch gerochen. Er schien starr vor Schreck und unfähig zu reagieren. Derselbe Patrick, der den Kampf mit dem Puma aufgenommen hatte, war nun völlig eingeschüchtert.

Der Großvater hatte ihr ganze Vorträge über die Wüstentiere gehalten: Kojoten musste man respektieren, aber nicht fürchten. Echsen würden ihr mit ihren plötzlichen und blitzschnellen Bewegungen höchstens einen Schreck einjagen. Das Wild erinnerte eher an große Ratten als an Bambi, die Esel waren ganz anders als ihre domestizierten Artgenossen und die Klapperschlangen stellten keine Gefahr dar, solange man feste Schuhe trug und die Augen offen hielt.

»Kscht!« Lana versuchte den Kojoten mit einer Handbewegung zu verscheuchen, wie sie es von ihrem Großvater gelernt hatte, doch er rührte sich nicht. Stattdessen stieß er ein Jaulen aus, das Lana zusammenfahren ließ. Aus dem Augenwinkel nahm sie mehrere dunkle Schatten wahr, vielleicht drei oder vier, die sich ihr schnell näherten.

Von wegen, Kojoten wären ungefährlich!

»Patrick, fass!«, flehte sie hilflos.

Doch außer einem Knurren zeigte Patrick keinerlei Reaktion. In wenigen Sekunden würden die anderen Kojoten bei ihr sein. Was dann?

Lana hatte keine Wahl. Sie musste es in die Hütte schaffen. Oder sie würde sterben.

Sie stieß einen gellenden Schrei aus und rannte auf den Kojoten zu.

Das Tier war so verblüfft, dass es zurückwich.

Plötzlich flog etwas Langes, Dunkles an ihrem Kopf vorbei. Gleich darauf jaulte der Kojote vor Schmerz.

Lana schoss an ihm vorbei. Noch zehn Schritte bis zur Hütte. Zehn, neun, acht, sieben, sechs

Patrick überholte sie und hechtete durch die Türöffnung.

Lana war ihm unmittelbar auf den Fersen und schlug die Tür hinter sich zu. Sie wirbelte herum, stürzte zurück zur Tür und stemmte sich dagegen.

Aber die Kojoten verfolgten sie nicht. Sie hatten andere Probleme. Wildes Kläffen, schmerzerfülltes Winseln und wütendes Jaulen waren zu hören.

Nach einer Weile ließ das Winseln nach, wurde schwächer und verstummte schließlich.

Am Morgen, als die Schrecken der Nacht im Licht der Sonne verblasst waren, entdeckte Lana den toten Kojoten. Er lag ungefähr dreißig Meter von der Hütte entfernt. Aus seiner Schnauze hing eine Schlange mit einem rautenförmigen Kopf. Ihr Körper war in zwei Hälften zerbissen worden, doch erst nachdem ihr Gift in den Blutkreislauf des Kojoten gelangt war.

Lana blickte lange auf den Kopf der Schlange. Es war zweifellos eine Schlange. Und dennoch war sie überzeugt davon, dass dieses Tier an ihr vorbeigeflogen war.

Sie beschloss, nicht mehr darüber nachzudenken. Und das raue Flüstern wollte sie auch schnellstmöglich vergessen. Es gab keine fliegenden Schlangen und flüsternden Riesenkojoten. Menschen, die an so was glaubten, wurden als verrückt bezeichnet.

»Opa war offenbar doch nicht der große Wüstentierexperte«, murmelte sie.

GONE Verloren
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