Zweiundzwanzig
128 Stunden, 32 Minuten
Orc zerrte Sam aus der Turnhalle und brachte ihn in den Fitnessraum. Howard blickte sich unschlüssig um.
»Howard, lass dich nicht auf so was ein!«, flehte Sam. »Du kannst doch nicht wollen, dass Caine Astrid und Pete umbringen lässt. Orc, ich weiß, dass du Bette nicht mit Absicht getötet hast. Mann, das hier geht eindeutig zu weit.«
»Ja. Es geht zu weit«, stimmte Howard ihm zerstreut zu, während er sich weiterhin umsah.
»Du musst mir helfen! Ich muss Drake aufhalten!«
»Das glaube ich nicht, Sammy. Ich hab gesehen, wozu Drake fähig ist. Und wir haben beide mitbekommen, was Caine draufhat.« An Orc gewandt sagte er: »Leg ihn hier auf die Bank. Mit dem Gesicht nach oben. Seine Beine binden wir an den zwei Pfosten fest.«
Orc hob Sam hoch und knallte ihn auf die Hantelbank.
Sam versuchte es noch einmal. »Orc, das ist kaltblütiger Mord!«
»Mich trifft keine Schuld. Ich binde dich bloß fest.«
»Drake wird Astrid umbringen. Sie hat dir mal in Mathe geholfen. Orc, du kannst das verhindern.«
»Davon sollte sie niemandem was erzählen«, brummte Orc. »Egal, Mathe ist vorbei.«
Sie fesselten Sams Füße an die Pfosten der Bank und banden seinen Oberkörper mit einem Seil fest.
»Und jetzt kommt der beste Teil«, sagte Howard. »Wir hängen ein paar Gewichte an die Stange, binden seine Hände an ihr fest und legen sie auf ihn drauf, okay? Dann ist er nämlich voll damit beschäftigt, das Gewicht von seinem Hals zu stemmen.«
Da Orc auf dem Schlauch stand, zeigte ihm Howard, was er meinte. Daraufhin schob Orc die Scheiben auf die Stange.
»Wie viel schaffst du, Sam?«, fragte Howard. »Ich würde sagen, zwei Zwanziger auf jeder Seite, ja? Mit der Stange sind das neunzig Kilo.«
»Das stemmt er nie im Leben«, meinte Orc.
»Da dürftest du Recht haben, Orc. Und deshalb wird er alles tun müssen, damit die Stange ihn nicht erwürgt.«
»Das ist unrecht, Howard«, sagte Sam. »Und du weißt das. Ihr macht solche Sachen nicht, keiner von euch. Ihr seid Schlägertypen, aber doch keine Mörder.«
Howard seufzte. »Sammy, hast du’s immer noch nicht geschnallt? Wir leben jetzt in einer anderen Welt. Mann, das ist die FAYZ.«
Orc senkte die Hantel. Die Stange kam auf Sams gefesselten Fäusten zu liegen und drückte sie auf seinen Kehlkopf. Er stemmte sich mit ganzer Kraft dagegen, aber nicht einmal ohne Fesseln und in Topform wäre er in der Lage gewesen, neunzig Kilo zu heben. Er schaffte es gerade einmal, sie weit genug oben zu halten, um noch atmen zu können.
Orc sagte lachend: »Komm schon, Mann, lass uns zu den anderen zurückgehen. Ich will nichts verpassen.«
Howard folgte Orc zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um. »Ist schon seltsam, Mann. Am ersten Abend dachte ich, wenn wir nicht aufpassen, übernimmt Schulbus-Sam das Kommando. Alle haben das von dir erwartet. Und das weißt du auch. Aber du warst viel zu cool, um dich darauf einzulassen. Machst dich einfach vom Acker, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen, haust mit deiner Astrid ab.« Er lachte. »Sie ist ja auch wirklich scharf, was? Und jetzt regiert Caine die FAYZ und Drake ist drauf und dran, deine Freundin kaltzumachen.«
Sam spannte die Muskeln an, holte tief Luft und drückte so fest es ging gegen die Stange. Es war aussichtslos. Selbst wenn er die Arme im richtigen Winkel gehabt hätte, hätte er sie keinen Millimeter hochheben können.
Eines hatte Howard jedoch übersehen: Sam konnte die Folie an seinen Händen mit dem Mund erreichen. Er versuchte daran zu zerren, sah aber rasch ein, dass das eine Ewigkeit dauern würde, und er hatte keine Zeit zu verlieren. Pete hatte sich und Astrid garantiert in ihr Haus teleportiert. Dort würde Drake sie finden.
Wenn er sie zwischen die Zähne bekäme, könnte er sie vielleicht zerbeißen. Er presste das Kinn unter seine Fäuste, wollte nach der Folie schnappen, rutschte aber am glatten Material ab.
Der Druck der Stange verlagerte sich immer stärker auf seinen Kehlkopf und schnürte ihm die Luft ab. Als er noch einmal mit aller Macht dagegen drückte, spürte er die ersten Krämpfe in den Armen – seine Kraft verließ ihn.
Er konnte nur eins tun: Entweder die Folie zerbeißen und seine Hände befreien oder die Stange daran hindern, ihm den Kehlkopf zu zerquetschen.
Und selbst wenn er seine Hände freibekäme, was dann? Er war nicht wie Caine. Er hatte keine Kontrolle über seine Kraft.
Die Stange verrutschte.
Jetzt hatte er das Mylar zwischen den Zähnen.
Er kaute daran, schob es zwischen seinen Zähnen hin und her, um einen Riss zu erzeugen und ihn danach zu vergrößern.
Inzwischen hatte Drake das Schulgebäude längst verlassen und die Verfolgung aufgenommen. Musste er vorher noch woandershin, um die Waffe zu holen?
Astrid wusste sicher, dass sie Jagd auf sie machen würden und dass es in ihrem Haus zu gefährlich war. Doch würde sie schnell genug handeln? Wo konnte sie überhaupt hin?
Sams Zähne stießen knirschend aufeinander. Er hatte ein Loch in das Material gebissen.
Er bekam fast keine Luft mehr.
Als die Tür aufging, registrierte er es nicht einmal.
Jemand lief rasch über den Teppich und machte sich an der Stange zu schaffen. Eine Platte glitt herunter, Sam spürte, wie der Druck nachließ, und schnappte nach Luft.
»Halt durch, Bruder!«
Quinn zog die restlichen Gewichte von der Stange.
Sam schob die Stange mit zitternden Armen weg.
»Ich wusste nicht, dass sie so weit gehen würden. Ich schwöre es!« Quinn war weiß wie die Wand. Als hätte er nie in seinem Leben die Sonne gesehen. »Sam, du musst mir glauben!« Er löste die Fußfesseln. Sam setzte sich auf.
Quinn hatte geweint, seine Augen waren rot und geschwollen. »Mein Ehrenwort, ich hatte keine Ahnung.«
»Ich muss zu Astrid, bevor Drake sie findet.«
»Ich weiß, ich weiß. Es tut mir so leid.«
Als seine Hände frei waren, stand Sam auf. »Ist das wieder ein Trick? Damit sie mir zu Astrid folgen können?«
»Nein, nein. Die schlagen mich tot, wenn sie rausfinden, dass ich dich befreit habe.« Quinn streckte flehend die Hände aus. »Du musst mich mitnehmen.«
»Warum sollte ich dir noch irgendwas glauben, Quinn?«
»Bitte! Wenn du mich hierlässt, macht Caine Hackfleisch aus mir.«
Sam hatte keine Zeit für Diskussionen und traf deshalb eine schnelle Entscheidung. »In Ordnung. Aber gnade dir Gott, wenn Astrid etwas zustößt!«
Quinn leckte nervös seine Lippen. »Du musst mir nicht drohen, Bruder.«
»Hör auf, mich so zu nennen!«, sagte Sam scharf. »Ich bin nicht dein Bruder!«