Zwölf

272 Stunden, 47 Minuten

»Auf der Lenkstange können wir deinen Bruder wahrscheinlich nicht mitnehmen, oder?«, sagte Sam an Astrid gewandt.

»Nein.«

»Okay, dann gehen wir zu Fuß. Es muss jetzt ungefähr vier Uhr sein. Aber vielleicht sollten wir die Nacht hier verbringen und erst morgen Früh zurücklaufen.« Da ihm Quinns Worte noch in den Ohren klangen, fügte er hinzu: »Was meinst du, Quinn? Sollen wir bleiben oder gleich los?«

Quinn zuckte die Achseln. »Ich bin erledigt. Außerdem gibt es hier einen Automaten mit Süßigkeiten.«

Im Büro des Werkleiters stand ein Sofa, auf dem Astrid mit dem kleinen Pete schlafen konnte. Edilio, dessen Kniegelenke immer noch steif waren, bot sie die Rückenkissen an.

Sam und Quinn erforschten die Anlage und entdeckten eine Krankenstation, in der mehrere Tragbahren auf Rädern standen.

Quinn lachte. »Da kommt eine Mordswelle, Alter.«

Sam zögerte, doch Quinn hatte sich schon eine Tragbahre geschnappt, schob sie rennend vor sich her, sprang auf und schaffte es sogar, aufrecht zu stehen, ehe sie gegen die Wand krachte.

»Okay«, sagte Sam. »Das kann ich auch.«

Eine Zeit lang surften sie auf den Tragbahren durch die verlassenen Korridore und Sam stellte fest, dass er noch lachen konnte. Ihm kam es so vor, als wäre eine Million Jahre vergangen, seit er und Quinn zuletzt zusammen Surfen waren.

Sie parkten ihre Tragbahren im Werkleiterbüro.

Edilio hatte unterdessen für jeden von ihnen einen Strahlenschutzanzug angeschleppt. Sie waren mit einer Kapuze, Gasmaske und Sauerstoffflasche ausgestattet und sahen aus wie Weltraumanzüge.

»Nicht schlecht«, meinte Quinn. »Nur für den Fall, was?«

Edilio fühlte sich sichtlich unbehaglich. »Ja, nur für den Fall.«

Als Quinn verächtlich grinste, sagte Edilio: »Denkt ihr etwa nicht, dass die ganze Katastrophe mit diesem Ort zusammenhängt?«

Astrid antwortete müde: »Die Strahlung lässt keine Barrieren auftauchen und auch keine Menschen verschwinden.«

Edilio ließ nicht locker. »Trotzdem ist sie tödlich, oder?«

»Die Strahlung kann dich töten«, stimmte Astrid ihm zu. »Sie kann dich schnell töten oder langsam, du kannst Krebs bekommen, es kann dir auch einfach nur schlecht werden oder es passiert dir gar nichts. Und sie kann Mutationen hervorrufen.«

»Mutationen wie eine Möwe, die Adlerkrallen hat?«, fragte Edilio mit ängstlicher Miene.

»Ja, aber nur über einen sehr langen Zeitraum.« Sie stand auf und nahm Petes Hand. »Ich muss ihn ins Bett bringen.« Mit einem Blick über ihre Schulter fügte sie hinzu: »Keine Sorge, Edilio, du mutierst nicht über Nacht.«

Sam streckte sich auf seiner Tragbahre aus. Er bezweifelte, dass es ihm gelingen würde einzuschlafen. Er dachte an das letzte Mal, als er und Quinn zusammen surfen waren. Es war der Tag nach Halloween gewesen, Anfang November. Die Sonne hatte bereits an Kraft eingebüßt, doch in seiner Erinnerung schien sie strahlend hell und umrahmte jeden Felsen, jedes Steinchen und jede Krabbe mit einem goldenen Schimmer. Die Wellen waren fantastisch gewesen, blaugrüne und weiß schäumende, fast schon lebendige Wesen, die ihm zuriefen, seine Sorgen zu vergessen und zum Spielen rauszukommen.

Dann tauchte ein anderes Bild auf. Seine Mutter stand am Rand der Klippe, sie lächelte und winkte ihm zu. Meistens schlief sie noch, wenn er in den frühen Morgenstunden draußen war. Doch an diesem Tag war sie gekommen, um ihm zuzusehen.

Sie hatte ihren blauen Wickelrock mit dem weißen Blumenmuster angehabt und eine weiße Bluse. Ihr Haar, das viel heller war als seines, wehte in der Brise und sie wirkte schmal und zerbrechlich. Er rief ihr zu, dass sie vom Rand der Klippe weggehen sollte.

Sie konnte ihn aber nicht hören.

Er schrie aus Leibeskräften, doch sie hörte ihn immer noch nicht.

Plötzlich schreckte er aus der Erinnerung hoch, die zu einem Traum geworden war. Da es in dem Raum keine Fenster gab, wusste er nicht, ob der Tag schon angebrochen war. Er sah sich nach den anderen um; sie schliefen alle tief und fest.

Es war ihre zweite Nacht ohne Eltern. Die erste hatten sie im Hotel verbracht und jetzt waren sie hier im Kernkraftwerk.

Und morgen Nacht?

Sam wollte nicht in sein Haus zurückkehren. Er wollte seine Mutter wiederhaben, aber nicht das Haus.

Auf dem Schreibtisch des Werkleiters lag ein iPod. Nach dem Familienfoto auf dem Tisch zu urteilen, musste der Mann ungefähr sechzig sein – was seinen Musikgeschmack anging, machte sich Sam also keine großen Hoffnungen. Aber er hoffte, dass ihm die Musik helfen würde, wieder einzuschlafen.

Um die anderen nicht zu wecken, durchquerte er den Raum auf Zehenspitzen, schlich an dem Sofa vorbei, wo er beinahe gegen Astrids Hand gestoßen wäre, und ging um den Tisch herum. Während er vorsichtig den Stuhl zur Seite schob, achtete er darauf, das mit Pokalen – hauptsächlich vom Golfspiel – vollgestellte Glasregal direkt hinter sich nicht zu berühren. Etwas streifte seinen Fuß, und als er eine Ratte davonflitzen sah, erschrak er so sehr, dass er einen Satz nach hinten machte und in das Glasregal stieß.

Der Krach zerriss die Stille.

Petes Augen flogen auf.

»Entschuldige«, sagte Sam, doch noch bevor die nächste Silbe über seine Lippen kam, fing Pete an wie wild zu kreischen. Es klang wie das ohrenbetäubende, panische Geschrei eines Pavians.

»Es ist doch nichts passiert«, sagte Sam beschwichtigend. »Es…«

Weiter kam er nicht, denn sein Hals wurde mit einem Mal wie von unsichtbaren Händen zugedrückt.

Er konnte nicht mehr atmen.

Sam versuchte verzweifelt, sich aus dem Würgegriff zu befreien, während der kleine Pete weiterschrie und dabei mit den Armen flatterte wie ein Vogel, der fliegen möchte.

Edilio und Quinn stürzten herbei.

Vor Sams Augen tanzten rote Flecken, seine Sicht verdunkelte sich und sein Herz hämmerte wie verrückt. Seine Lunge zog sich krampfhaft zusammen.

»Petey, Petey, es ist alles in Ordnung«, beruhigte Astrid ihren Bruder. Sie streichelte seinen Kopf und hielt ihn in den Armen. Ihre Augen waren starr vor Angst. »Fensterplatz, Petey. Fensterplatz, Fensterplatz, Fensterplatz.«

Sam prallte gegen den Schreibtisch.

Astrid tastete nach Petes Gameboy. Sie schaltete ihn ein.

»Was ist los?«, schrie Quinn.

»Er hat ein lautes Geräusch gehört«, erwiderte Astrid. »Das hat ihn erschreckt. Wenn er Panik bekommt, flippt er aus. Es ist alles okay, Petey, alles okay. Ich bin ja da. Hier, dein Gameboy.«

Sam wollte sie anfahren, dass gar nichts okay war, dass er drauf und dran war zu ersticken, brachte aber keinen Ton hervor. Ihm wurde schwindlig.

»Hey, Sam, was ist mit dir?«, hörte er Quinn fragen.

»Er bekommt keine Luft!«, rief Edilio.

»Kannst du den Spinner nicht zum Schweigen bringen?«, brüllte Quinn.

»Er hört erst auf, wenn sich alle beruhigt haben«, presste Astrid unter Tränen hervor. »Fensterplatz, Petey, geh zu deinem Fensterplatz.«

Sam knickte auf einem Knie ein.

Das war verrückt. Er würde sterben.

Ihn packte eine unsägliche Angst.

Um ihn herum wurde alles schwarz.

Wie automatisch streckte Sam die Hände aus, die Handflächen zeigten nach vorne.

Plötzlich durchzuckte ein Lichtblitz das Büro, so gleißend und grell, als wäre ein kleiner Stern zur Supernova geworden.

Sam wurde ohnmächtig.

Zehn Sekunden später war er wieder bei Bewusstsein. Er lag auf dem Rücken und schaute in die verängstigten Gesichter von Quinn und Edilio.

Der kleine Pete war still. Sein Blick klebte auf dem Display des Gameboys.

»Lebt er?« Quinns Stimme kam wie aus weiter Ferne.

Sam atmete ein, tief und unverhofft. Dann noch einmal.

»Ja, mich gibt’s noch«, krächzte er.

»Wie geht es ihm?« In Astrids Stimme schwang die Angst mit, dass Pete gleich wieder loslegen könnte.

»Wo ist auf einmal dieses Licht hergekommen?«, wollte Edilio wissen. »Habt ihr das gesehen?«

»Mann, das war bestimmt auch noch auf dem Mond zu erkennen.« Quinns Augen waren weit aufgerissen.

»Raus hier!«, rief Edilio.

»Wo sollen wir…?«, fragte Astrid.

Edilio fiel ihr ins Wort. »Völlig egal. Nur raus hier.«

»Du hast Recht.« Quinn packte Sam unter den Schultern und half ihm aufzustehen.

In Sams Kopf drehte sich alles und seine Beine zitterten. Es wäre sinnlos gewesen zu protestieren. Die Gesichter der anderen waren blass vor Panik. Dies war gewiss nicht der richtige Zeitpunkt für Diskussionen oder eine Erklärung.

Er traute seiner Stimme nicht, deutete lediglich zur Tür und nickte.

Sie rannten los.

GONE Verloren
titlepage.xhtml
Grant_Verloren_split_000.xhtml
Grant_Verloren_split_001.xhtml
Grant_Verloren_split_002.xhtml
Grant_Verloren_split_003.xhtml
Grant_Verloren_split_004.xhtml
Grant_Verloren_split_005.xhtml
Grant_Verloren_split_006.xhtml
Grant_Verloren_split_007.xhtml
Grant_Verloren_split_008.xhtml
Grant_Verloren_split_009.xhtml
Grant_Verloren_split_010.xhtml
Grant_Verloren_split_011.xhtml
Grant_Verloren_split_012.xhtml
Grant_Verloren_split_013.xhtml
Grant_Verloren_split_014.xhtml
Grant_Verloren_split_015.xhtml
Grant_Verloren_split_016.xhtml
Grant_Verloren_split_017.xhtml
Grant_Verloren_split_018.xhtml
Grant_Verloren_split_019.xhtml
Grant_Verloren_split_020.xhtml
Grant_Verloren_split_021.xhtml
Grant_Verloren_split_022.xhtml
Grant_Verloren_split_023.xhtml
Grant_Verloren_split_024.xhtml
Grant_Verloren_split_025.xhtml
Grant_Verloren_split_026.xhtml
Grant_Verloren_split_027.xhtml
Grant_Verloren_split_028.xhtml
Grant_Verloren_split_029.xhtml
Grant_Verloren_split_030.xhtml
Grant_Verloren_split_031.xhtml
Grant_Verloren_split_032.xhtml
Grant_Verloren_split_033.xhtml
Grant_Verloren_split_034.xhtml
Grant_Verloren_split_035.xhtml
Grant_Verloren_split_036.xhtml
Grant_Verloren_split_037.xhtml
Grant_Verloren_split_038.xhtml
Grant_Verloren_split_039.xhtml
Grant_Verloren_split_040.xhtml
Grant_Verloren_split_041.xhtml
Grant_Verloren_split_042.xhtml
Grant_Verloren_split_043.xhtml
Grant_Verloren_split_044.xhtml
Grant_Verloren_split_045.xhtml
Grant_Verloren_split_046.xhtml
Grant_Verloren_split_047.xhtml
Grant_Verloren_split_048.xhtml
Grant_Verloren_split_049.xhtml